Zufall

Zufall

In Joppe aber war eine Jüngerin mit Namen Tabita, das heisst ‚Gazelle‘. Die tat viel Gutes und gab reichlich Almosen. Es geschah aber in jenen Tagen, dass sie krank wurde und starb. Man wusch sie und bahrte sie im Obergemach auf. Da Lydda nahe bei Joppe liegt, vernahmen die Jünger, dass Petrus dort sei, schickten zwei Männer zu ihm und liessen ihn bitten: Säume nicht, zu uns herüberzukommen. Da machte sich Petrus auf und ging mit ihnen. Als er dort ankam, führten sie ihn in das Obergemach; alle Witwen traten zu ihm und zeigten ihm unter Tränen die Kleider und Gewänder, die die Gazelle gemacht hatte, als sie noch unter ihnen war. Petrus aber wies alle hinaus. Und er kniete nieder und betete; und zu dem Leichnam gewandt sprach er: Tabita, steh auf! Sie öffnete ihre Augen, sah Petrus an und setzte sich auf. Er gab ihr die Hand und half ihr auf. Dann rief er die Heiligen und die Witwen herein und zeigte ihnen, dass sie lebte. Dies wurde in ganz Joppe bekannt, und viele kamen zum Glauben an den Herrn. Und so blieb er einige Tage in Joppe bei einem Gerber namens Simon. Apg 9,36-43 

Der Advent erinnert jedes Jahr daran: Das Wort Gottes, seine Information der Liebe und Weisheit, durch welche dieses Universum geschieht, wird Mensch, Fleisch, Materie (Joh 1-18). Die Energie dieser immateriellen Information jenseits von Raum und Zeit und ihre konkrete Offenbarung als Materie in Raum und Zeit sind nicht Gegensätze, sondern zwei Aspekte derselben Medaille. Die Information, die dieses Universum zusammenhält, bestimmt jedes Elementarteilchen, und jedes Elementarteilchen manifestiert diese Information. Auf diese Weise sind Kleinstes und Grösstes, Lebendes und Totes, Vergangenes und Zukünftiges miteinander verbunden. Die Information von Gott als dem Geheimnis des Universums birgt alles, was geschieht, ist vollständig und komplett, und zugleich wird sie jeden Moment gegenwärtig und wächst mit jedem Augenblick. Die Adventsgeschichte illustriert dies auf ganz konkrete Weise und gibt es Jahr für Jahr zu bedenken.

Der Engel verkündet es Maria: Das Kind, das sie gebären soll, «wird gross sein und Sohn des Höchsten genannt werden, und Gott, der Herr, wird ihm den Thron seines Vaters David geben, und er wird König sein über das Haus Jakobs in Ewigkeit, und seine Herrschaft wird kein Ende haben» (Lk 1,32f). Maria ist rätselhaft, wie das geschehen soll, und über die Jahrhunderte haben sich Menschen zusammen mit ihr den Kopf über dieses rätselhafte Wort zerbrochen. Die Information von Gott als dem Geheimnis des Universums ist wie Gottes Kind. Es sitzt auf dem Thron der Vergangenheit und bestimmt das Geschehen des Universums bis in alle Zukunft. Und dieses Kind Gottes wird als Kind von Maria geboren und offenbart so die Information des Universums im Hier und Jetzt. Auf gleichnishafte und poetische Weise wird auf diese Weise das Zusammenspiel von universaler Information und konkreter Materie veranschaulicht. Das zu erfassen mag zwar eine tiefe menschliche Sehnsucht sein, doch ist es mit unzähligen Irrungen und Wirrungen verbunden. So beglückend intuitive Momente der Einsicht in dieses Zusammenspiel auch sind, sie bleiben Stückwerk. Ständig konfrontieren sie damit, dass menschliches Erkennen auf den Spiegel der eigenen Reflexivität beschränkt ist, ständig erinnern sie daran, dass den Fähigkeiten des Menschen Grenzen gesetzt und dass die bedingungslose Liebe und Weisheit der Gegenwart Gottes nötig sind, damit ein Verständnis dieses Zusammenspiels aufblitzt (1Kor 2,7; 13,12).

Allerdings ist die Botschaft der Weihnachtsgeschichte zutiefst durchdrungen von der Überzeugung, dass dieses Zusammenspiel tatsächlich stattfindet und dass sich die Menschen mit ihm vertraut machen sollen. Denn die Information von Gott, wie sie sich am Beispiel von Jesus offenbart, erlöst. «Fürchtet euch nicht! Denn seht, ich verkündige euch grosse Freude, die allem Volk widerfahren wird: Euch wurde der Retter geboren, der Gesalbte, der Herr, in der Stadt Davids.» So verkünden es die Engel den Hirten (Lk 2,11). Geburt und Tod, Freude und Schmerz, ja das ganze Leben sind in diesem Zusammenspiel geborgen. Nichts kann verloren gehen. Die Information des Universums konvertiert ihre Energie in die Materie des konkreten Moments, und das, was materiell hier und jetzt geschieht, wird wiederum in die Information des Universums konvertiert. Was dies bedeutet, illustriert auf gleichnishafte Weise unser Predigttext.

Erzählt wird hier, dass im Moment, in welchem die Information des Universums von einem Menschen auf den andern springt, Wunderhaftes geschieht. Die Geschichte, die ihr vorangeht, bereitet das Thema vor (Apg 9,32-35). Petrus besucht die Stadt Lydda, trifft den gelähmten Äneas, sagt ihm, dass ihn Christus heile und dass er aufstehen und seine Bahre zusammenklappen soll. Äneas tut sogleich, wie ihm gesagt wird und alle sehen, dass der Gelähmte wieder geht.

Unser Predigttext schliesst unmittelbar daran an, aber überbietet diese Geschichte durch die Geschichte einer Totenauferweckung. Hauptfigur ist wieder Petrus. Was hier beispielshaft erzählt wird, erinnert allerdings an Geschichten der biblischen Tradition. Vom Propheten Elia wird erzählt, dass er bei einer Witwe zu Gast ist, deren Sohn stirbt, dass er Gott im Obergeschoss des Hauses um das Leben dieses Kindes bittet und dass es tatsächlich wieder zu Leben kommt (1Kön 17,17-24). Ähnliches wird auch von Elias Nachfolger, dem Propheten Elischa, berichtet (2Kön 4,18-37). Im Neuen Testament erzählt Lukas, dass Jesus in die Stadt Nain kommt, als gerade ein Toter, der einzige Sohn einer Witwe, hinausgetragen wird. Jesus spricht den jungen Mann in aller Öffentlichkeit an und gebietet ihm, aufzustehen. Und tatsächlich wird er wieder lebendig (Lk 7,11-17). Ebenso holt Jesus die verstorbene Tochter von Jairus mit den Worten: «Kind, steht auf!» ins Leben zurück (Lk 8,40-56). Dass Jesus zuvor betet, wird nicht gesagt.

Die Geschichte, die unser Predigttext erzählt, passt in dieses Schema biblischer Geschichten, die von der Erweckung eines Toten berichten. Sie hält zunächst die Situation fest (V36). Im etwa 20km von Lydda entfernten Joppe gibt es die Christin namens Tabita, was «Gazelle» bedeutet. Sie tut viel Gutes und gibt reichlich Almosen. In jenen Tagen aber wird sie krank und stirbt (V37a). Ihre Unterstützung für die Gemeinde geht also verloren. Sie wird gewaschen und im Obergeschoss des Hauses aufgebahrt (V37b).

Weil Joppe nicht weit von Lydda entfernt ist, hören die Leute der christlichen Gemeinde in Joppe, dass Petrus in der Nähe sei. Sie schicken zwei Männer zu ihm und bitten ihn, umgehend zu ihnen hinüber zu kommen (V38). Petrus ist dazu bereit und geht mit ihnen nach Joppe. Dort wird er ins Obergemach geführt, wo die tote Tabita liegt. Die Witwen zeigen Petrus unter Tränen die Kleider und Gewänder, welche Tabita gemacht hat. (V39) Offenbar ist sie eine geschickte und respektierte Näherin. Petrus begreift, dass er nun handeln muss (V40). Er schickt alle hinaus, kniet nieder und betet wie die Propheten, aber anders als Jesus; und zum Leichnam gewandt spricht er: «Tabita, steht auf!» Sie öffnet ihre Augen, sieht Petrus an und setzt sich auf. Von einer heilenden Geste oder Berührung ist nicht die Rede. Die Worte, die Petrus spricht, erinnern freilich an jene aramäischen Worte, mit denen Jesus im Markusevangelium die tote Tochter des Jairus auferweckt: «Talita kum!», was übersetzt wird mit: «Mädchen, steh auf!» (Mk 5,41). Lukas kennt diese Geschichte, doch er lässt die aramäischen Worte weg (Lk 8,40-54). Er will stattdessen herausstellen, dass das, was bereits durch die Propheten geschehen und von Jesus wieder aufgenommen worden ist, auch nach dessen Himmelfahrt weitergeht. Er erzählt deshalb, wie die Totenauferweckung beglaubigt wird (V41f).

Petrus gibt Tabita die Hand und hilft ihr, aufzustehen. Dann ruft er die Menschen der christlichen Gemeinde ins Zimmer und zeigt ihnen, dass Tabita lebt. Die Geschichte wird in ganz Joppe bekannt und viele kommen zum Glauben an Jesus. Schliesslich wird die Aufmerksamkeit wieder auf Petrus gelenkt (V43). Petrus bleibt noch einige Tage in Joppe und wohnt im Haus eines Mannes namens Simon, der Gerber ist und damit einen Beruf ausübt, der bei den damaligen Rabbinern verachtet ist. Die Grenzen seiner jüdischen Herkunft hat Petrus unterdessen aufgebrochen, und er ist bereit, sich auf Menschen ohne jüdischen Hintergrund einzulassen. Die Fortsetzung wird genau davon erzählen und berichten, wie sich Petrus dem römischen Hauptmann Kornelius zuwendet (Apg 10,1-11,18).

Aus heutiger Sicht wirkt diese Geschichte legendenhaft und konstruiert im Stile der anderen Geschichten von Totenauferweckungen. Liest man sie indes als Gleichnis dafür, wie die Information des Universums und die konkrete Materie hier und jetzt zusammenspielen, mithin also als Adventsgeschichte, wird sie interessant.

Zunächst illustriert sie, dass der Moment der Gegenwart Gottes ein Moment des Zufalls ist. Die Vorstellung, dass Gott die Zeit determiniert und jeden Moment vorbestimmt, ist alt. Doch bei Gott sind Determinismus und Zufall keine Gegensätze. Jeder Augenblick ist ein Wahrscheinlichkeitsfeld, jeder Moment ist von unzähligen Faktoren determiniert. Zwar war bereits gestern ziemlich wahrscheinlich, dass ich hier und jetzt an dieser Stelle stehe. Doch waren unzählige Möglichkeiten, die ein anderes Szenarium geschaffen hätten, nicht völlig ausgeschlossen. Dass nun von allen Optionen genau diese zur Wirklichkeit geworden ist, ist purer Zufall. Unsere Geschichte illustriert dies am Tod von Tabita. Der Tod kann jederzeit eintreten, eine Krankheit, ein Unfall, irgendetwas Unerwartetes, kann jeden Augenblick stattfinden. Durch die Information von Gott als dem Geheimnis des Universums geschieht das ganze Universum als grosser Prozess der Evolution. Doch diese Information ist kein universaler Masterplan, sondern ein Spiel, das den Zufall zulässt und sich auf diese Weise über Millionen, ja Milliarden von Jahren jeden Moment, in welchem diese Information Materie wird, weiterentwickelt. Die Information Gottes wird, in dem sie sich materialisiert, erst das, was sie ist.

Dies ist nicht Grund zur Sorge, sondern Grund zur Zuversicht. Ist die Gegenwart Gottes die Gegenwart des Zufalls, mag dies zwar zunächst verunsichern. Auf einmal ist alles möglich, auf einmal ist der Willkür Tür und Tor geöffnet. Und tatsächlich trifft dies für dieses Universum in hohem Masse zu. Die kleinsten Bausteine dieses Universums, die Elementarteilchen, sind Wahrscheinlichkeitsfelder. Da ist der Zufall ständig mit im Spiel. Die Evolution der Natur ist von Faktoren wie Selektion und Mutation bestimmt – ein Spiel mit dem Zufall. Unser ganzer Alltag ist von diesem Spiel durchdrungen. Doch wenn sich die Information Gottes jeden Moment auf dieses Spiel einlässt, zeigt sich Gottes Treue gerade im Zufall. Unser Predigttext illustriert es. Der Zufall holt Tabita ein, sie wird krank und stirbt. Zufälligerweise ist Petrus in der Nähe und die Gemeinde in Joppe erfährt davon. Als Petrus angefragt wird, kommt er sogleich und wendet sich der verstorbenen Tabita zu. In der Zufälligkeit der Gegenwart Gottes in Petrus springt der Funke, und Tabita kommt wieder zu Leben. Der Zufall ist wertfrei. Im Zufall können Gutes und Schlechtes, Heil und Unheil geschehen. Doch die Gegenwart Gott ist mit ihrer Information der Liebe und Weisheit mitten im Zufall. Sie unterfängt Lieb und Leid, Geburt und Tod, löst Angst und Sorge auf und schafft Wachheit und Zuversicht.

Die Botschaft des Advents erinnert jedes Jahr von neuem daran. Die Geschichte von der Geburt im Stall, auf welche sie verweist, erzählt von höchst zufälligen Ereignissen. Und doch illustriert sie, dass die Energie der Information von Gott als dem Geheimnis des Universums genau dort und dann Materie wird und dass genau dies in jedem Hier und Jetzt der Schlüssel zur Erlösung ist. Ebenso zeigen es unser Predigttext und die Geschichten von der Totenauferweckung durch die Propheten und Jesus: Auferweckt werden Menschen, deren Tod andere Menschen in wirtschaftliche Not bringen. Oft werden Witwen genannt, die auf die Unterstützung des Verstorbenen angewiesen waren. Das heisst doch dies: Das Geheimnis der Gegenwart Gottes ist zwar das Geheimnis des Zufalls samt aller Ungewissheit, die darin steckt. Doch sie birgt die Information von Gottes Liebe und Weisheit, die selbst im Angesicht des Todes einen neuen Anfang schafft. Diese Information ist jeden Augenblick da. Sie gibt Gewissheit in der Ungewissheit und Kraft in den Zufällen des Lebens.

Die Adventsbotschaft mag heute oft sinnentleert und beliebig klingen. Doch sie verweist auf ein Ereignis, dessen Tiefe nicht zu ermessen ist und dessen Bedeutung auch heute nicht zu erfassen ist: Die Energie der Information Gottes ist die Materie dieses Universums, dieser Welt, dieses meines Lebens. Sie ist im Zufall jedes Augenblicks gegenwärtig, und sie offenbart darin ihre Liebe und ihre Weisheit. Beten wir also, dass wir wach werden für ihre Gegenwart und dass wir Gott, so wie er in unserem Leben Materie wird, empfangen. Amen.

Predigt vom 10. Dezember 2023 in Wabern
Bernhard Neuenschwander

PDF Datei herunterladen