Unmittelbarkeit

Unmittelbarkeit

In diesen Tagen kamen auch Propheten von Jerusalem nach Antiochia herab. Einer von ihnen mit Namen Agabus trat auf und kündigte durch den Geist eine grosse Hungersnot an, die über die ganze Erde kommen werde; diese trat dann unter Claudius ein. Von den Jüngern aber stellte ein jeder zur Verfügung, was er zu geben imstande war, um es den in Judäa wohnhaften Brüdern und Schwestern zur Unterstützung zukommen zu lassen. Und dann schickten sie es durch die Hand des Barnabas und des Saulus den Ältesten. Apg 11,27-30

Gottes Gegenwart ist pure Gnade – ein Ereignis bedingungsloser Präsenz, ein Moment unmittelbaren Wohlwollens. Da ist kein menschliches Zutun auszumachen, kein natürlicher oder technischer Einfluss. Wo Gottes Gnade gegenwärtig wird, entsteht direkter Kontakt, Begegnung von Herz zu Herz, Beziehung in Einfachheit. Das Komplizierte kommt auf den Punkt, das Überflüssige verschwindet, und das Wesentlich wirkt. Die Gnade Gottes schafft Unmittelbarkeit in der Fülle der Dinge und bringt Unbedingtheit mitten in der Bedingtheit dieses Universums. Ist es ein Wunder, wo dies geschieht? Oder nichts anderes als das Geheimnis der Wirklichkeit, das in jedem Moment waltet?

Menschen können sich das Leben kompliziert machen. Anstatt wach im Moment zu sein und schlicht und einfach auf die Information des Hier und Jetzt zu achten, können sie sich im Vielen verlieren. Ich kann nachts wachliegen. Der tiefe Serotoninspiegel, also die Talsohle des aufhellenden Hormons, kann Unsicherheit und Ängste schüren. Plötzlich breiten sich düstere Emotionen über ungelöste Themen aus und bringen mich ins Grübeln. Eine Negativspirale startet, macht mich hellwach, und das Einschlafen wird zur Unmöglichkeit. Dabei liegt die Lösung ganz nah: Überlasse ich mich der Gnade Gottes und lasse alles andere sein, bin ich genau bei dem, was hier und jetzt ansteht: beim Schlafen. Das Grübeln verschwindet, und schon bin ich wieder eingeschlafen. Die Gnade Gottes bringt unaufgeregt in den Moment. Dank ihr schlafe ich, wenn ich schlafe, dank ihr denke ich, wenn ich denke. In der Gnade Gottes tue ich genau das, was ich tue. Nichts mehr und nichts anderes. Das ist eine Wohltat.

Die Rede von der Gnade Gottes gehört zum klassischen Inventar christlicher Sprache. Was sie anzeigt, ist indes mit Worten nicht zu fassen. Dem christlichen Erbe gebührt Dank, darauf zu verweisen. Es markiert dieses Unfassbare mit Worten, ruft es in Erinnerung, setzt es als Thema und ringt immer wieder darum, das Unmögliche möglich zu machen und zur Sprache zu bringen. Das verdient Respekt. Allein mit Worten ist das indes nicht zu schaffen. Wo Worte die Gegenwart der Gnade zu ersetzen versuchen, werden sie zum Hindernis, wo sie sich als Vermittler zelebrieren, versperren sie den Weg der Unmittelbarkeit. Die Gnade Gottes spricht unvermittelt für sich, «ohne Sprache, ohne Worte, mit unhörbarer Stimme» (Ps 19,4). Sie durchdringt das Denken, berührt das Herz und erfasst den ganzen Körper. Jedes Distanzieren verschwindet, jedes Wenn und Aber löst sich auf, jedes Flüchten wird versperrt. In diesem Moment der Demut tritt an die Stelle des Ichs die Unbedingtheit der Gegenwart Gottes. Was die Rede von der Gnade Gottes anzeigt, ist ein mystisches Ereignis – ein Ereignis, das alles religiöse Sprechen überschreitet und sich doch dankbar in den Sprachen der Religionen zu reflektieren sucht.

Unser Predigttext illustriert dies beispielshaft. Ihm geht ein Bericht über das Aufkeimen des christlichen Gemeindelebens in den Metropole Antiochia voraus (Apg 11,19-26). Nach der ersten Verfolgung der christlichen Gemeinde in Jerusalem aufgrund der Steinigung des Stephanus setzen sich einige nach Antiochia ab. Sie erzählen dort von ihrem neuen Glauben, dass Jesus der Herr sei – zuerst den Juden, dann auch den Griechen. Aus einem partikularen Glauben innerhalb des Judentums wird ein universaler Glaube, der allen Menschen gilt. Die Gemeinde in Jerusalem, die davon erfährt, schickt Barnabas, um sich über die Zustände in Antiochia ein Bild zu machen. Was er sieht, macht ihm Freude: die Gnade Gottes. Er ermutigt deshalb alle, auf dem eingeschlagenen Weg fortzufahren. Er sucht sogar Saulus und bringt ihn nach Antiochia, um mit ihm das dortige Gemeindeleben aufzubauen. Sie arbeiten ein Jahr zusammen und haben Erfolg. Eine stattliche Anzahl von Menschen lässt sich von ihrer Botschaft überzeugen.

Hier setzt unser Predigttext ein. Er erzählt, was in diesen Tagen, also nach der einjährigen Aufbauarbeit von Barnabas und Saulus, geschieht (V27). Von Jerusalem kommen nämlich Propheten nach Antiochia herab. Für Paulus ist die Prophetie eine der Gaben, die entsprechend der Gnade gegeben wird (Röm 12,6). Sie muss deshalb aus Liebe geschehen (1Kor 13,2). Wer mit der Gnade der Liebe prophetische Worte spricht, der erbaut, ermutigt und tröstet (1Kor 14,3). So verstandene Prophetie gehört konstitutiv zu einer Gemeinde, die im Geist lebt (1Kor 12,1ff). An unserer Stelle wird nun also berichtet, dass eine Gruppe von Propheten nach Antiochia kommt. Herausgehoben wird, was einer von ihnen, Agabus, zu sagen hat (V28). Agabus wird Paulus später dessen Gefangenschaft ankündigen (Apg 21,10f). Ausdrücklich wird festgehalten, dass er durch den Geist spricht. Sein Wort wird also als göttlich legitimiert beschrieben. Hier nun kündet eine grosse Hungersnot an, die über die ganze Erde kommen werde. Angefügt wird zudem, dass diese Hungersnot unter dem römischen Kaiser Claudius (41-54 n.Chr.) tatsächlich eingetroffen ist. Antike Texte belegen zwar für diese Zeit keine weltweite Hungersnot, doch berichtet der jüdische Historiker Josephus, dass wohl Palästina in diesen Jahren von einer schweren Hungersnot heimgesucht wird. Die Warnung des Agabus verklingt in Antiochia nicht ungehört (V29). Von der christlichen Gemeinde stellt ein jeder zur Verfügung, was er geben kann, um es den in Judäa wohnenden Brüdern und Schwestern zur Unterstützung zukommen zu lassen. Von einem geforderten Mindestbetrag ist nicht die Rede. Die Gnade, die im prophetischen Wort des Agabus zu Wort kommt, berührt die Herzen der Menschen und motiviert sie, ohne Zögern, freiwillig und selbstverantwortlich zu geben, was sie zu geben vermögen.

Schliesslich wird festgehalten, was mit der gesammelten Kollekte geschieht (V30): Sie wird durch die Hand von Barnabas und Saulus den Ältesten in Jerusalem geschickt. Betont wird also die unmittelbare Solidarität der Gemeinde in Antiochia mit der Gemeinde in Jerusalem. Dieses Engagement für die Diakonie entspricht lukanischer Theologie (Apg 4,32-37; 6,1-6). Für Lukas scheint klar zu sein, dass Saulus drei Reisen nach Jerusalem unternommen hat (Apg 9,26-30; 11,30 + 12,25; 15,1ff) und dass die Kollektenreise die zweite von ihnen gewesen ist. Paulus weiss indes nichts von einer solchen Reise und spricht nur von zwei Jerusalemreisen (Gal 1,18; 2,1f). Hat Paulus die Kollekte bei seiner letzten Jerusalemreise mitgenommen? Was historisch genau geschehen ist, ist aufgrund der vorliegenden Texte unklar und widersprüchlich. Gewiss ist indes, dass Lukas davon überzeugt ist, dass die Gnade Gottes, die Barnabas in Antiochia antrifft und die im Propheten Agabus zu Wort kommt, ein unmittelbares Engagement zur Unterstützung der von Hunger betroffenen Gemeinde in Jerusalem bewirkt.

Besinnen wir uns heute auf diese Ereignisse in der frühen Zeit der christlichen Kirche, werden wir dazu aufgefordert, uns darüber Rechenschaft zu geben, wie wir es mit der Gnade Gottes haben. Verstehen wir, was damit gemeint ist? Können wir Erfahrungen abrufen, die mit dem, was Lukas erzählt, korrespondiert?

Machen wir uns zunächst dies bewusst: Die Rede von der Gnade Gottes markiert einen konstitutiven Aspekt der Gegenwart Gottes: ihre Bedingungslosigkeit. Die Gnade Gottes verweist auf ein Ereignis, das sich nur sich selbst verdankt, sich grundlos aus sich selbst verschenkt und mitten in den Bedingungen dieses Universums einen Moment unbedingter Gegenwart schafft. Im Geheimnis dieser bedingungslosen Gegenwart offenbart sich das Wort Gottes, seine Liebe und Weisheit, die Information des Hier und Jetzt, durch die dieses Universum geschieht. Die Gnade ist gleichsam das Herz dieser Offenbarung. Deshalb ist Barnabas so erfreut, als er bei seiner Ankunft in Antiochia sieht, dass die Gnade Gottes am Wirken ist. Offenbar stellt er fest, dass die Menschen der Gemeinde nicht versuchen, mehr und anderes zu sein, als was sie sind. Sie haften nicht an sich selbst und sind stattdessen bedingungslos bei dem, was sie hier und jetzt tun. In ihrem Herzen ist der Abgrund der Demut. Sie leben die Unmittelbarkeit der Gnade Gottes, sind frei von Befangenheit, synchronisiert mit der Information des Hier und Jetzt und erlöst, mit Freude die Gnade des Moments zu realisieren.

Diese unaufgeregte Unmittelbarkeit der Gnade Gottes hat zwei Aspekte. Der eine richtet sich auf das Erkennen, der andere auf das Tun. Beide sind miteinander verzahnt. Wenn ich der Information des Hier und Jetzt nicht mit mir selbst im Wege stehe und stattdessen in der Lage bin, ihre Information unbefangen wahrzunehmen, ist dies pure Gnade. Es ist durchaus sinnvoll, mir meine Schwachstellen bewusst zu machen und meine Trigger aufzulösen, und es ist wichtig, mich darin zu üben, im Moment zu sein und Schicht um Schicht meiner Persönlichkeit auf das Geheimnis der Gegenwart auszurichten. Doch die Gnade Gottes entzieht sich meiner Kontrolle. Sie ist bereits am Werk, wenn ich noch damit beschäftigt bin, nach ihr zu suchen. Deshalb ist das Erkennen der Gnade eine besondere Gnadengabe. Paulus und das frühe Christentum interpretiert sie im Anschluss an die alttestamentlichen Propheten als Prophetie. Sie verstehen die Prophetie damit als mystische Gabe, durch die Menschen ermächtigt werden, Gottes bedingungslose Information des Hier und Jetzt zu vernehmen, ihre Liebe und Weisheit zu erkennen und in Worte zu übersetzen, die nachvollziehbar sind und sich segensreich auswirken. Menschen, die sich in deren Dienst stellen, geben der Botschaft, die sie vermitteln, ihr kontextabhängiges Gepräge; zugleich offenbart sich darin aber Gottes Gnade unmittelbar. Agabus illustriert dies beispielshaft. Die Warnung vor der drohenden Hungersnot trägt seinen Stempel; doch in ihr vermittelt sich unmittelbar die Gnade seiner prophetischen Gabe. Dies gehört auch in dieser postchristlichen Zeit zu einer lebendigen, christlichen Gemeinde. Gottes Gnade vermittelt sich durch prophetisches Reden, muss sich bewähren und als Segen erweisen (vgl. Mat 7,15-20). Gegenwärtig ist sie in diesem Universum indes jeden Moment ganz unmittelbar.

Diese unmittelbare Gegenwart der Gnade Gottes lässt sich prophetisch erkennen und vermitteln, doch findet sie ihre Erfüllung, indem sie das Herz von Menschen berührt und sich in ihrem Tun inkarniert. Die Gnade Gottes befreit von sich selbst, öffnet für die Information des Hier und Jetzt und motiviert dazu, unbefangen das zu tun, was in ihr getan werden will. Die Menschen der Gemeinde in Antiochia illustrieren es: Sie vernehmen die Worte von Agabus und machen sich sogleich ans Werk. Die Gnade, die in seinem Wort spricht, berührt unmittelbar die Gnade, in der sie leben. Ohne Zögern geben sie, was sie geben können, um die notleidenden Menschen der Gemeinde in Jerusalem zu unterstützen. Die gemeinsam geteilte Gegenwart der Gnade Gottes öffnet ihr Herz, schafft unmittelbare Verbundenheit und weckt ihr Engagement zum solidarischen Handeln. Für Moralismus und Ideologie ist kein Platz. Wo Gnade ist, da ist Freiheit (vgl. 2Kor 3,17). Die Gegenwart der Gnade weckt auf, macht ohne Druck und Zwang unmittelbar klar, was zu tun ist und liefert die Motivation, das, was zu tun ist, auch tatsächlich zu tun. Wer in der Gnade Gottes lebt, steht selbstverantwortlich und mitfühlend in seinem Leben, ist erlöst und frei für den geschenkten Moment und verbunden mit seiner Welt und dem grossen Spiel dieses Universums.

Die Rede von der Gnade Gottes ist tief im christlichen Erbe verankert. Dennoch lohnt sich auch in dieser postchristlichen Zeit das, was damit markiert wird, zu suchen, zu erkennen und zu leben. In ihm steckt das Geheimnis, das in diesem Universum waltet, uns in die Unmittelbarkeit der Gegenwart bringt und uns zum Mitspielen befreit. Beten wir also, dass wir in der Gnade Gottes leben und sterben lernen. Amen.

Predigt vom 28. April 2024 in Wabern
Bernhard Neuenschwander

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