Die tragenden Säulen

Die tragenden Säulen

Durch die Hand der Apostel aber geschahen viele Zeichen und Wunder im Volk. Und sie waren alle einträchtig beisammen in der Halle Salomos; von den andern aber wagte niemand, sich zu ihnen zu gesellen; das Volk jedoch war des Lobes voll über sie. Immer neue, die an den Herrn glaubten, wurden der Gemeinde zugeführt, Scharen von Männern und Frauen. Es kam so weit, dass man die Kranken auf die Strassen hinaustrug und sie auf Bahren und Liegebetten hinstellte, damit, wenn Petrus vorbeikäme, wenigstens sein Schatten auf einen von ihnen fiele. Aber auch die Bewohner der rings um Jerusalem liegenden Städte kamen und brachten Kranke und von unreinen Geistern Geplagte. Und sie wurden alle geheilt. Apg 5,12-16

Menschen schaffen eine Atmosphäre um sich herum. Diese Atmosphäre kann sehr verschieden sein. Es gibt Menschen, die bei ihrem Auftritt sofort wahrgenommen werden und den Raum füllen, und es gibt andere, die auch nach längerer Zeit immer noch unbemerkt sind. Aussehen, Kleidung und Frisur mögen eine Rolle spielen, Hörbarkeit, Gestik und Mimik, doch selbst wenn die körperlichen Signale ähnlich scheinen, kann die Atmosphäre, die Menschen verbreiten, sehr unterschiedlich sein. Was sich im Inneren eines Menschen abspielt, manifestiert sich auch im Aussen. Das Innere lässt sich überschminken, maskieren und tarnen, und dennoch offenbart sich ein Mensch ständig mit dem, was er ist. Bin ich unsicher und durchlebe eine schwierige Zeit, ist meine Atmosphäre anders, als wenn ich selbstsicher auf meinen Füssen stehe und mit mir im Frieden bin. Meine Gefühle, Stimmungen und Spannungen, ja selbst meine Gedanken, Bewertungen und Urteile prägen die Atmosphäre, die ich verbreite. Vielleicht ist dieses atmosphärische Feld von aussen nicht genau lesbar – dieses Lesen will auch trainiert sein –, vielleicht bleibt vieles für das Umfeld im Ungefähren. Doch das Innenleben eines Menschen prägt ständig die Atmosphäre um ihn herum.

Entscheidend für die Atmosphäre eines Menschen ist seine Präsenz, also seine Freiheit für den Moment hier und jetzt. Bin ich mit meinen Themen besetzt, von starken Empfindungen beherrscht oder in Gedanken gefangen, bin ich nicht frei und unbefangen im Hier und Jetzt. Meine Resonanzfähigkeit für die aktuelle Situation ist eingeschränkt, vieles, was im Moment auch noch stattfindet, entgeht mir. Ich mag mir zwar einbilden, ich sei da, präsent und wach, doch im Grunde bin ich einfach in meine Geschichte verstrickt. Starke Involvierung in die eigenen Themen ist nicht Präsenz, selbst wenn ich mich aktiv und intensiv fühle. Meine Präsenz ist in einem solchen Moment vielmehr widersprüchlich und unverbindlich, und die Atmosphäre, die ich verbreite, ist für die Menschen in meinem Umfeld anstrengend und belastend. Umgekehrt wächst meine Präsenz, je tiefer ich mit mir selbst in Frieden komme. Was ich in meinem Leben erlebe, hinterlässt seine Spuren in meinen Körper. Mein ganzes Leben ist in den Archiven meines Leibes eingraviert – Freudvolles ebenso wie Leidvolles. Mache ich mich mit diesen Archiven vertraut, kann ich aufrecht und verantwortungsvoll bei dem stehen, was ich erlebt habe, damit in Frieden kommen und meine Geschichte bei mir haben, ohne in sie verstrickt zu sein. Dies gibt meiner Präsenz Tiefe und Stabilität. Andere Menschen können so durch mich ebenfalls in den Moment hier und jetzt gelangen, Heilung erfahren und Erlösung finden.

Das Geheimnis dieser Präsenz ist die Gegenwart Gottes. Bin ich in der Gegenwart Gottes, sickert ihre Güte in die Schichten meiner Leibarchive und schafft Heilung und Erlösung, und ihre Weisheit lehrt mich, zu beachten, was sich für diese Heilung bewährt. Ich nehme die Verantwortung wahr, in der ich hier und jetzt stehe, und ich bin aufrichtig bei dem, was in und um mich herum ist. In diesem Prozess wächst meine Präsenz. Ich werde frei und schaffe Freiheit, ich werde heil und schaffe Heilung. Die Gegenwart Gottes schafft eine Atmosphäre, die Luft gibt und atmen lässt, Blockiertes aufweicht und zum Fliessen bringt, Kreativität schafft und das Leben zu einem erlösten Leben macht.

Lukas hat dies gut begriffen, und unser Predigttext illustriert es. Bereits nach der Pfingstpredigt von Petrus (Apg 2,42-47) wie auch nach der langen Erzählung über die Heilung des Gelähmten hat er zusammenfassend über die Situation der Urgemeinde berichtet (Apg 4,32-37). Mit unserem Predigttext tut er dies zum dritten Mal, und auch hier ist von den Zeichen und Wundern der Apostel und der Einmütigkeit der Gemeinde die Rede. Im Unterschied zu den beiden vorderen Berichten ist indes die Gütergemeinschaft kein Thema mehr. Mit der Geschichte von Ananias und Saphira musste er eingestehen, dass sich diese als Merkmal der Urgemeinde nicht wirklich durchhalten lässt (Apg 5,1-11). Was sich hingegen als tragfähig erweist, ist das heilende und erlösende Wirken der Apostel.

Gleich zu Beginn unseres Predigttextes stellt er dies fest: Durch die Hand der Apostel geschehen viele Wunder und Zeichen im Volk. Dass dies durch die Gegenwart Gottes geschieht, die im Namen von Jesus Christus dem Nazarener spürbar wird (Apg 3,6.12f), wird vorausgesetzt und nicht mehr eigens erwähnt. Auch verzichtet Lukas darauf, die Wundertäter mit Namen zu nennen. Nicht der Bezug zu diesem oder jenem Apostel soll im Zentrum stehen, sondern die Erkenntnis, dass durch alle Apostel Zeichen und Wunder geschehen. Einträchtig sind sie in den Hallen Salomos im Tempel Jerusalems beisammen, und ihre Verbundenheit in der Gegenwart Gottes schafft eine Atmosphäre, die kraftvoll und wirksam ist. Derweil bleibt die Gemeinde in respektvoller Distanz, während das Volk, das ihr Wirken wahrnimmt, voll des Lobes ist. Lukas stellt also heraus, dass der Kreis der Apostel eine Elite bildet, welche die Verantwortung hier und jetzt wahrnimmt und aufrichtig die Gegenwart Gottes lebt, sodass diese der Gemeinde und dem Volk erfahrbar wird.

Die Wirkung ist eindrücklich. Zum wiederholten Mal (Apg 2,41; 4,4) stellt Lukas fest, dass immer neue Menschen vom Freimut und Wirken der Apostel angesprochen sind, sich auf den Glauben an Jesus Christus als Herrn und Meister einlassen und der Gemeinde zugeführt werden. Nachdem Lukas zu Beginn nur von Männern gesprochen hat (Apg 4,4), betont er hier wie auch später ausdrücklich (Apg 8,12; 9,2; 22,4), dass es sich keineswegs nur um Männer, sondern ebenso um Frauen handelt. Die Gegenwart Gottes, wie sie durch die Apostel ausstrahlt, ist nicht an die Geschlechtlichkeit gebunden, sondern vermag Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht als Menschen zu überzeugen.

Wie dies konkret geschieht, wird im Folgenden dargelegt. Die heilende und erlösende Kraft der Gegenwart Gottes, die sich gleichnishaft als Auferstehung vom Tod kristallisiert, spricht für sich und gewinnt Menschen. Lukas erzählt, dass es soweit kommt, dass Kranke auf die Strasse hinausgetragen und auf Bahren und Liegebetten hingestellt werden, damit, wenn Petrus vorbeikäme, wenigstens sein Schatten auf einen von ihnen fiele. Es bedarf keiner Worte, keiner Geste, keiner Taten – die zufällige Berührung durch seinen Schatten genügt, damit die heilsame Wirkung der Gegenwart Gottes für Leidende zur Erlösung wird. Kommt es zu dieser Berührung, wird der Glaube des Leidenden an die heilende Gegenwart Gottes aktiviert und der Heilungsprozess in Gang gesetzt – heute würden wir in diesem Zusammenhang von Placebo-Effekt sprechen. Schliesslich weist Lukas darauf hin, dass sogar die Bewohner der rings um Jerusalem liegenden Städte Kranke und von unreinen Geistern Geplagte bringen, und dass sie alle geheilt werden. Erwacht der Glaube, dass Gott gegenwärtig ist, vermag dies Wunder zu wirken.

In der Fortsetzung berichtet Lukas freilich, dass das, was da geschieht, nicht allen gefällt (Apg 5,17ff). Der Hohe Priester samt seinen Anhängern, der Partei der Sadduzäer, bläst in wildem Eifer zum Widerstand und setzt alles daran, dem Wirken der Apostel einen Riegel zu schieben. Der Erfolg, der bereits bei der Heilung des Gelähmten für sich gesprochen hat (Apg 4,13f), setzt wiederum massive Gegenkräfte frei, welche sich genötigt sehen, dem Geschehen, das immer mehr Menschen erfasst, rechtzeitig ein Ende zu setzten.

Das heutige Nachdenken über diesen Predigttext gibt uns zu bedenken, was sich im Urchristentum zum Aufbau der jungen Gemeinde bewährt: eine Elite, die überzeugt. Diese Elite zeichnet sich weder durch institutionelle, ökonomische oder politische Macht aus, noch durch Bildung, Status oder Prestige, sondern durch ihr Sein und die Wirkung, die von diesem Sein ausgeht. Was darin steckt, bedarf keiner Erklärung, ist frei von Aktivismus und ohne jede Anbiederung. Es spricht für sich und überzeugt all jene, die sich von ihr berühren lassen. Denn unmittelbar spürbar wird durch dieses Sein die Güte Gottes, wie sie Heilung und Erlösung schafft, unmittelbar spürbar wird seine Weisheit, wie sie die in Wirksamkeit dieser Güte ins Bewusstsein bringt.

Die Botschaft, die Lukas hier vermittelt, kann auch aus heutiger Sicht nicht leichtfertig beiseite gewischt werden. Seine Erzählung mag in unseren Ohren legendenhaft wirken, potentiell vorhandene Schwierigkeiten und Konflikte überblenden und ein allzu optimales Bild vom Kreis der Apostel entwerfen. Doch nachvollziehbar ist auch heute, dass eine Elite, die sich der Gegenwart Gottes verdankt, die erlöst ist und Erlösung schafft, die heil ist und Heilung bringt, anderen Menschen guttut, sich bewährt und überzeugt. Ist also eine solche Elite das, was die Kirche und diese Welt in unserer postchristlichen Zeit braucht?

Die reformierten Kirchen tun sich mit Eliten schwer. Sie sind in Abgrenzung zur männlichen Elite der katholischen Hierarchie entstanden und haben sich das Priestertum aller Gläubigen auf die Fahnen geschrieben. Gott ist jederzeit, überall, in allen Menschen, ja in allem, was ist, gegenwärtig, stärkt so demokratische Strukturen und unterläuft die Segmentierung der Gesellschaft zwischen Laien und einer Elite, die aufgrund ihrer religiösen Zugehörigkeit zu einer Institution oder einem esoterischen Zirkel definiert ist. Religiöse Eliten stehen aus dieser Perspektive rasch unter dem Verdacht, sich auf Kosten anderer zu bereichern und Privilegien zu missbrauchen. Wie sollte da jemand als elitär gelten wollen!

Das Risiko, das eine religiöse Elite mit sich bringt, ist nicht von der Hand zu weisen. Umgekehrt kann auch die Chance, die sie eröffnet, kaum bestritten werden. Aus meiner Sicht ist es dringend notwendig, dass sich auch die reformierten Kirchen die Botschaft von Lukas zu Herzen nehmen. Wenn sie in dieser postchristlichen Zeit noch eine Bedeutung haben wollen, brauchen sie Menschen, welche die Kirche nicht als Fundament (vgl. Apg 4,11f), wohl aber wie Säulen eines Tempels tragen (vgl. Gal 2,9). Solche Menschen zeichnen sich nicht durch Macht und Kontrolle aus, sondern durch ihr Sein. Die Verteidigung und Bestätigung von sich selbst ist nicht ihr Thema. Vielmehr geschieht durch ihre Präsenz Heilung und Erlösung. Sie verbreiten eine Atmosphäre, die nicht mit Ideologie und Moralismus verengt ist, sondern für sich spricht und überzeugt. Ihr Glaube ist durch die Herausforderungen des täglichen Lebens gereift und bleibt auch in Einsamkeit, Versuchung und Belastung aufrecht. Sie stehen selbstverantwortlich in jener Verantwortung hier und jetzt, die den Namen von Jesus Christus dem Nazarener trägt, und sind zentriert in der Gegenwart Gottes. Solche Menschen wissen um die Gegenkräfte, die ihnen entgegenstehen, doch die Kraft ihrer puren Präsenz durchdringt diese und hält mitten in ihnen die göttliche Flamme der Freiheit und Erlösung am Brennen. Solche Menschen sind die Säulen einer Kirche in postchristlicher Zeit.

Wir alle, die wir den Weg der Gegenwart Gottes gehen, können zu solchen Menschen heranreifen und Säulen der Kirche werden. Machen wir uns also auf den Weg! Unsere Welt braucht jeden Menschen, durch den eine Atmosphäre der Gegenwart Gottes geschaffen, gehalten und deren heilende und erlösende Wirkung glaubwürdig vermittelt wird. Beten wir also, dass Gott in uns und anderen Menschen kraftvoll gegenwärtig wird, sodass viele die wohltuende Wirkung dieser Präsenz am eigenen Leib erfahren und von ihr überzeugt werden. Amen.

Predigt vom 19. März 2023 in Wabern
Bernhard Neuenschwander

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