Ruhig und klar

Ruhig und klar

Und in diesen Tagen stand Petrus im Kreis der Brüder auf – es waren etwa hundertzwanzig Personen versammelt – und sprach: Brüder! Das Schriftwort musste in Erfüllung gehen, das der heilige Geist einst durch den Mund Davids gesagt hat über Judas, der zum Anführer derer geworden ist, die Jesus verhafteten, da er ja zu uns gehörte und am gleichen Dienst teilhatte. Dieser kaufte von dem Lohn für seine Untat ein Grundstück; dort stürzte er, riss sich den Leib auf, und alle seine Eingeweide quollen heraus. Und das wurde allen Bewohnern Jerusalems bekannt; von daher heisst jenes Grundstück in der Sprache der Einheimischen Hakeldama, das heisst ‚Blutacker‘. Es steht nämlich geschrieben im Buch der Psalmen: Sein Gehöft bleibe leer, und niemand wohne dort, und: Sein Amt erhalte ein anderer. Es muss also einer von den Männern, die uns begleitet haben die ganze Zeit, da Jesus, der Herr, bei uns ein und aus ging, vom Tag der Taufe durch Johannes bis zu dem Tag, da er von uns weg in den Himmel aufgenommen wurde, mit uns Zeugnis von seiner Auferstehung ablegen – einer von diesen hier. Da stellten sie zwei auf, Josef, genannt Barsabbas, mit dem Beinamen Justus, und Matthias. Und sie beteten: Du, Herr, der du die Herzen aller kennst, zeige uns, welchen von diesen beiden du erwählt hast, diesen Dienst zu übernehmen, das Apostelamt, von dem sich Judas abgewandt hat, um dorthin zu gehen, wo sein Platz ist. Und sie zogen das Los, und das Los fiel auf Matthias. Und er wurde zu den elf Aposteln hinzugewählt. Apg 1,15-26

Eine Gemeinschaft, die im Geheimnis der Gegenwart zentriert ist, energetisiert. Bereits das gemeinsame Singen oder musizieren macht dies spürbar. Ist der Fokus der Gemeinschaft indes auf die Stille gerichtet, wird die Erfahrung noch unfassbarer, noch innerlicher. Wer mit andern betet oder meditiert, kennt dies bestens. Die Sammlung in der Gegenwart Gottes schafft eine verdichtete Atmosphäre. Die Nebel lichten sich. Klarheit und Weite entstehen. Die Materie wird durchsichtig. Im energiegeladenen Nichts kristallisieren sich neue Formationen, und auf einmal bricht ein Impuls auf, der Durchblick und Einsicht gibt. Eine solche Erfahrung bedarf keiner Erklärung. Sie ist evident. Doch wer die Brücke zur ihr auch nur einmal überschritten hat, kommt ohne Stigma nicht zurück.

Die unfassbare Wucht eines solchen Ereignisses brennt sich ein. Die Gedanken kehren immer wieder zu ihm zurück. Sie wollen verstehen, was sich nicht verstehen lässt. Und die Sehnsucht drängt hin zu jenem Moment, der war und nicht mehr ist und doch jeden Moment geschehen will. Deshalb tut gut, sich in der Gegenwart Gottes mit anderen Menschen zu sammeln, sich auf jene Grenzerfahrung einzulassen und das Stigma zu tragen, das immer tiefer läutert und verwandelt. Die Verletzung, die es hinterlässt, ist doch nichts als Heilung – Heilung vom Ego, vom Eigenwillen, vom Festhalten an sich selbst.

Abschiedssituationen zeigen dies exemplarisch. Wer sich von einem geliebten Menschen verabschieden muss, weiss eine verständnisvolle Gemeinschaft zu schätzen. Sie macht ihm spürbar, dass er getragen ist. Eine solche Gemeinschaft bedarf keiner grossen Worte. Viel wichtiger ist die Offenheit für die eigene und fremde Verletzlichkeit, Vertrauen mitten in der Vergänglichkeit, eine Liebe, die nicht gernhaben und festhalten will, sondern aus der Ewigkeit kommt und sich in die Zeit verschenkt. In der Gegenwart Gottes ist all dies gegeben – von selbst. Ohne Anstrengung, ohne Wenn und Aber. Sie macht zwar den Schmerz des Abschieds nicht rückgängig, aber sie macht mit dem grundlosen Grund vertraut, der das Geheimnis der Gegenwart ist, und sie macht spürbar, dass aus diesem Grund Heilung, Güte und Weisheit kommen und dass eine neue Zeit entsteht.

Unser Predigttext führt uns zu einer solchen Situation. Lukas erzählt, dass der auferstandene Jesus nach vierzig Tagen in den Himmel emporgehoben und von einer Wolke aufgenommen wird. Den Blicken der Jünger ist er nun entzogen, der Abschied ist geschehen. Auf Geheiss zweier Engel kehren sie nach Jerusalem zurück und sammeln sich im Obergemacht eines Hauses. Die Apostel sind da, auch die Frauen sowie die Mutter und Geschwister von Jesus. Hier bilden sie eine Gemeinschaft, die – wie Lukas schreibt – einmütig am Gebet festhält. Im Abschied vom entschwundenen Jesus suchen sie die Gegenwart Gottes, und in dieser sind sie getragen.

Nun erzählt Lukas, dass in dieser Gemeinschaft ein neuer Impuls aufbricht. Dieser Impuls mag sich zwar der Gegenwart Gottes verdanken, doch zeigt er sich unter den konkreten historischen und damit immer auch fragwürdigen Bedingungen der jeweiligen Situation: Eine grosse Gruppe von etwa 120 Personen sei versammelt. Nach jüdischem Verständnis braucht es zehn Menschen für einen Gottesdienst. Jesus hat zwölf Apostel berufen, und Lukas geht davon aus, dass sie die zwölf Stämme Israels repräsentieren. Diese Gruppe von etwa 120 Personen bildet also für Lukas den Samen des neuen Israel – jenes Israel, das sich aus dem Judentum herauslöst, eine eigene, christliche Identität sucht und für sich in Anspruch nimmt, die Verheissungen des alten Israels weiterzutragen und zu feiern. Die Gemeinde, die Lukas beschreibt, ist noch klein und schwach, doch sein Verständnis des neuen Israels hat es in sich. Im Laufe der Kirchengeschichte wird es zur Grundlage jenes Narrativs, das die Verheissungen des alten Israel nicht im Judentum, sondern in der Kirche in Erfüllung gehen sieht. Dieses Narrativ hat dem Judentum durch die Kirche über die Jahrhunderte immenses Leid verursacht. Um dies nicht zu wiederholen, müssen wir uns im Klaren sein, dass das Judentum das Recht auf seine eigene Interpretation seiner Verheissungen hat und dass diese nicht von der Kirche vereinnahmt werden dürfen.

Lukas erzählt, dass der Impuls, der in der betenden Gemeinschaft entsteht, Petrus erfasst. Petrus fällt nach Lukas bereits zu Jesu Lebzeiten immer wieder auf (Lk 5,4-11; 8,45; 9,20.33 u.a.). In unserem Predigttext beschreibt er ihn als denjenigen, der im Kreis der Brüder bzw. der 120 Personen als erster das Wort ergreift und Führung übernimmt. Das personelle Vakuum, das durch die Himmelfahrt Jesu entstanden ist, wird also rasch durch die feiernde Gemeinschaft, die Apostel und Petrus als neuer Leitfigur gefüllt. Dieser Kreis illustriert den personellen Neuanfang nach der Himmelfahrt Jesu.

Petrus wendet sich mit einer kurzen Ansprache an die anwesenden Menschen. Ihm ist wichtig, dass der Kreis der zwölf Apostel neu konstituiert wird und das neue Israel personell eine verlässliche Grundlage erhält. Er beruft sich dazu ausdrücklich auf die Schrift. Denn es müsse in Erfüllung gehen, was der Heilige Geist durch den Mund Davids gesagt habe. Seine Referenzen sind hier Ps 69 und Ps 109. Für ihn steht ausser Zweifel, dass Gott ebenso in David wie in seiner aktuellen Situation gegenwärtig ist. Der Heilige Geist ist Inbegriff dieser Gegenwart Gottes. Ist Gott gegenwärtig, können die alten Psalmen neu sprechen und die aktuelle Situation interpretieren. Petrus nimmt dies in Anspruch und versucht, sein Anliegen als Erfüllung dieser Verheissung darzustellen.

Das Problem, das sich ihm zunächst stellt, heisst Judas. Auf dem Hintergrund seiner Deutung der Psalmen ist dies freilich kein echtes Problem, sondern die Erfüllung dessen, was im Psalter angekündigt worden ist. Denn Judas sei zwar einer der Zwölf gewesen und zum Anführer derer geworden, die Jesus verhaftet haben. Er habe sich vom Lohn für seine Untat ein Grundstück gekauft, doch sei er dort tödlich verunglückt. Das sei in Jerusalem bekannt geworden, und deshalb sei dieses Grundstück fortan – wie Ps 69,26 vorhergesagt habe – unbewohnt geblieben. Lukas beruft sich also auf eine Geschichte über dieses Grundstück, die ihm überliefert worden ist, interpretiert sie als Erfüllung eines Psalmworts und legt sie Petrus bei dessen Antrittsrede in den Mund. Ihm liegt offenbar viel daran, den Worten von Petrus Glaubwürdigkeit zu verleihen, und er scheut sich nicht davor, für diesen Zweck eine fiktive Geschichte von Judas zu erzählen.

Dies gilt auch für die Fortsetzung. Mit Rekurs auf Ps 109,8 legt Lukas Petrus in den Mund, dass die Position, die Judas innegehabt hat, von einem andern übernommen werden soll. Es müsse jemand sein, der Jesus von dessen Taufe bis zu dessen Himmelfahrt begleitet habe und Zeuge von dessen Auferstehung sei. In der Folge werden zwei Männer zur Wahl aufgestellt, die offenbar die geforderten Kriterien erfüllen: Josef Barsabbas und Matthias. Die Entscheidung wird nicht als Kampfwahl durchgeführt. Vielmehr sammeln sich die anwesenden Menschen im Gebet und bitten Gott zu zeigen, welcher der Richtige sei. Sie ziehen das Los, und dieses fällt auf Matthias. Dieser wird nun zu den elf Aposteln hinzugezählt, und der Kreis der Zwölf ist wieder komplett. Die Fiktion vom Zwölferkreis als dem Ursprung des neuen Israels ist damit für Lukas wieder hergestellt, und die personelle Grundlage für die neue Epoche nach der Zeit Jesu ist gelegt.

Aus heutiger Sicht werden wir der Darstellung der Urgemeinde, wie sie Lukas inszeniert, mit der nötigen Differenziertheit begegnen. Lukas schreibt in den 80-90er Jahre des 1. Jahrhunderts. Er bemüht sich zwar, wie er ausdrücklich festhält, um eine historische Darstellung (Lk 1,1-4), doch ist diese offensichtlich von seinen theologischen Intentionen geleitet. Wie er die Urgemeinde beschreibt und was er Petrus in den Mund legt, mag in der Zeit, in der er geschrieben hat, plausibel sein, historisch ist es wenig glaubwürdig. Interessant ist hier deshalb nicht so sehr die Frage, wie sich die Urgemeinde nach dem Tod Jesu tatsächlich neu konstituiert hat. Spannender ist vielmehr, wie wir die fiktive Darstellung von Lukas heute verstehen wollen.

Lukas ist offensichtlich wichtig, die Urgemeinde nach dem Weggang Jesu als betende, meditierende Gemeinschaft darzustellen, die einmütig verbunden ist, auf die Gegenwart Gottes hört und in dieser agiert. Auf diese Weise sammelt sie ihre Kräfte, ist in der Lage, die Ereignisse rund um Judas zu verarbeiten und sich selbst personell neu zu konstituieren. Aussenwirkung will sie noch keine erzielen. Der Impuls dazu wird erst in dem wenig später kommenden Pfingstereignis erfolgen. Jetzt geht es einzig und allein darum, festzuhalten, was diesem vorausgeht: die Sammlung in der Gegenwart Gottes.

Auch wenn diese Darstellung historisch fiktiv sein mag – theologisch ist sie durchaus bedenkenswert. Wir leben heute in einer Zeit, die gelegentlich als postkirchlich oder gar als postchristlich bezeichnet wird. Die christliche Geschichte ist nicht mehr die grosse Leitnarration, die unsere Kultur und Gesellschaft steuert, wie sie dies in vergangenen Jahrhunderten getan hat. Das postmoderne Lebensverständnis geht vielmehr davon aus, dass eine Vielzahl von Leitnarrationen miteinander im Wettbewerb stehen, dass diese unterschiedlichen Perspektiven aufzeigen und dass es nicht mehr möglich ist, die Wirklichkeit aus einer einzigen Perspektive zu sehen und leben. Die christlichen Kirchen sind deshalb gefordert, sich selbst nach dem Abschied von jener Zeit, in der das Christliche die Leitnarration gewesen ist, neu zu konstituieren.

Zuweilen reagieren die Kirchen auf die veränderte Situation mit grosser Aufregung. Aktivismus ist in der westlichen Gesellschaft ein klassischer Reflex auf Veränderung: Man will helfen, das Problem lösen, die Schwierigkeit beseitigen. Doch zeigt sich so sehr rasch das Problem der hilflosen Helfer: Sie helfen, um sich selbst zu helfen und die eigene Verunsicherung zu tarnen. Denn offensichtlich ist nicht mehr so klar, was christlicher Glaube heute sein kann und sein soll.

Die Situation, von der Lukas erzählt, ist in vieler Hinsicht anders als die unsere heute. Doch auch wir stehen vor der Herausforderung, nach einer Zeit, in welcher die Leitfigur bzw. die Leitgeschichte klar war, zu klären, was nun, nach deren Abschied, Glaube eigentlich ist. Die lukanische Fiktion der Urgemeinde könnte deshalb auch für uns eine Überlegung wert sein. Es ist nicht aufgeregter Aktivismus, der eine Glaubensgemeinschaft nachhaltig macht, es ist vielmehr deren Sammlung in der Gegenwart Gottes. Bündelt sie ihre Kräfte in der Klarheit von Gottes Gegenwart, verzettelt sie sich nicht, biedert sich nicht an, verliert sich nicht im Vielen. Vielmehr findet sie jene Güte und Weisheit, die ihr Kraft gibt, den Weg weist, und auf die sie sich jeden Moment verlassen kann. Der Glaube der Zukunft muss ein Glaube sein, der sich ebenso im einzelnen Menschen wie als Gemeinschaft in der Gegenwart Gottes zu sammeln weiss und auf diese Weise ruhig und klar, frei und weit ist. Beten wir also, dass wir in Gottes Gegenwart ankommen und von ihr energetisiert werden. Amen.

Predigt vom 23. Oktober 2022 in Wabern
Bernhard Neuenschwander

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