Solidarischer Kapitalismus

Solidarischer Kapitalismus

Sie aber hielten fest an der Lehre der Apostel und an der Gemeinschaft, am Brechen des Brotes und am Gebet. Und Furcht erfasste alle: Viele Zeichen und Wunder geschahen durch die Apostel. Alle Glaubenden aber hielten zusammen und hatten alles gemeinsam; Güter und Besitz verkauften sie und gaben von dem Erlös jedem so viel, wie er nötig hatte. Einträchtig hielten sie sich Tag für Tag im Tempel auf und brachen das Brot in ihren Häusern; sie assen und tranken in ungetrübter Freude und mit lauterem Herzen, priesen Gott und standen in der Gunst des ganzen Volkes. Der Herr aber führte ihrem Kreis Tag für Tag neue zu, die gerettet werden sollten. Apg 2,42-47

Der Advent hat begonnen, die Zeit des Erwartens ist angebrochen, unser Dranbleiben und Ausharren ist gefordert. Gott ist zwar jeden Moment gegenwärtig, und doch braucht es dieses adventliche Warten, dieses Standhalten, dieses Üben. Es klingt wie ein Widerspruch: Weshalb soll ich warten, wenn das Erwartete doch ständig gegenwärtig ist? Weshalb soll ich dranbleiben und üben, was ohnehin da ist? Ist das nicht überflüssig, sinnlose Zeitverschwendung? Wenn es doch so einfach wäre! Bin ich nicht oft im Irgendwo statt im Hier und Jetzt? Verstricke ich mich nicht immer wieder in meine Geschichte und stehe dem Moment im Wege? Deshalb bleibt der Imperativ bestehen. Ich komme nicht darum herum, dranzubleiben, zu suchen, und mich immer wieder neu auf den Weg zu machen, um in der Gegenwart Gottes anzukommen – auch wenn diese ständig gegenwärtig ist.

Der Advent ist eine Einladung, sich diesem Imperativ zu stellen und den Moment zu suchen, in welchem Gott kommt. Die Botschaft des Advents ist klar: Ich soll das Offensichtliche nicht übergehen, sondern kultivieren: meine Präsenz für das Kommen Gottes in diesem Moment. Weshalb soll ich das tun? Weshalb soll ich mich jetzt auf Weihnachten vorbereiten? Weil dies der Anfang ist, in welchem die Weichen gestellt werden. Knöpfe ich beim Zuknöpfen eines Hemds den ersten Knopf in ein falsches Loch, wird das ganze Hemd schief. Stimmt der Anfang nicht, stimmt auch alles Weitere nicht. Der Anfang muss sitzen, der Ansatz, auf den ich baue, muss tragfähig sein. Was aber ist der Anfang? Der Anfang ist der Moment, in dem ich bin. Meine Vergangenheit bestimmt zwar, wo ich heute bin, und meine Zukunft wirkt bereits jetzt auf mich. Doch mit jedem Moment kommt ein neuer Anfang. Meine Präsenz entscheidet, ob ich ihn erwische oder ob er unbemerkt an mir vorbeizieht. Bin ich in der Gegenwart Gottes, wird Gott in mir geboren und kommt Gott auf diese Welt. Deshalb soll ich mir selbst nicht im Weg stehen, deshalb soll ich in den Anfang kommen, deshalb soll ich mich auf Weihnachten vorbereiten.

Jedes Jahr erinnert der Advent daran. Als ob es kein Werden und Vergehen geben und die Zeit stillstehen würde, wiederholt er Jahr für Jahr dasselbe. Die Geschichte vom Advent bleibt sich gleich. Doch der Weg, den zu gehen, mir diese Geschichte weist, ist für mich jedes Jahr neu. Gehe ich diesen Weg, erlebe ich die Zeit und ihre Veränderung. Ich muss Altes verabschieden, und ich muss mich auf Neues einlassen. Die Achse aber, um die dieser Prozess dreht, bringt das Gleichbleibende und das Veränderliche zusammen. Diese Achse ist das Geheimnis des Moments, die Gegenwart Gottes. Sie ist bedingungslos gegenwärtig – ohne Zeit mitten in der Zeit, stabil mitten in der Veränderung. Ihr Sein ist im Werden. Sie wiederholt sich Jahr für Jahr genau gleich (die zyklische Zeit), sie verändert sich von Jahr zu Jahr (die lineare Zeit), und sie macht die Fülle der Zeit jeden Augenblick neu gegenwärtig (die integrative Zeit).

Die biblischen Autoren haben mit diesem Geheimnis der Gegenwart gerungen. Sie haben es gefeiert – wöchentlich am Sabbat, in den Jahresfesten und in den Festen zu den Übergängen des Lebens. Sie haben von ihm Geschichten erzählt, haben diese Geschichten unter veränderten Lebenssituationen kommentiert und immer wieder neu bedacht und weiterentwickelt. Und sie haben sich bewusst gemacht, dass es dabei doch ständig bloss darum geht, Gott, dem unfassbaren Du des Moments zu begegnen, sich von seiner Güte und Weisheit leiten zu lassen und das eigene Leben entsprechend zu klären und zu ordnen.

Auch die urchristliche Gemeinde hat sich daran orientiert, und unser Predigttext illustriert es. Auf der Erzählebene geht ihm die Geschichte des Pfingstereignisses und deren Interpretation von Petrus voraus. Hier war davon die Rede, dass Gott wie ein gewaltiger Sturm, wie ein Feuer, gegenwärtig sei. Diese Gegenwart wurde als mystisches Ereignis beschrieben, das bedingungslos geschah, Menschen in den Moment holte und sie als ganze Menschen erfasste. Einige konnten dies unmittelbar aufnehmen, anderen aber fanden keinen Zugang. Zusammen mit den elf Aposteln interpretierte Petrus das Geschehen in seinen Kategorien und transformierte dessen Unbestimmtheit in etwas Bestimmtes. Er deutete es als Gegenwart des Heiligen Geistes, wie es vom Propheten Joel verheissen war, also als Gegenwart der Endzeit. Im Leben und Sterben von Jesus von Nazaret, in seiner Auferweckung und seiner Aufnahme zur Rechten Gottes hätte sich nämlich die Verheissung der Psalmen erfüllt, und es hätte sich gleichnishaft gezeigt, dass Gott auch im Tod gegenwärtig sei, dass die Gegenwart Gottes die Zeitlichkeit des Zeitlichen durchdringe und dass sie mitten darin die Fülle der Zeit gegenwärtig mache. Aus Sicht der Urgemeinde hatte sich also soeben ein gewaltiges Ereignis zugetragen, dessen Bedeutung sie überwältigte, sie aber auch dazu zwang, sich neu zu finden und zu konsolidieren.

Unser Predigttext führt nun aus, was dies heisst. Er erzählt, wie die Urgemeinde unter dem gewaltigen Eindruck von Pfingsten den Alltag bewältigt. Genannt werden zunächst das Festhalten an der Lehre der Apostel, an der Gemeinschaft, am Brechen des Brotes und am Gebet (V42). Im Zentrum steht die Unfassbarkeit der Gegenwart Gottes bzw. des Heiligen Geistes. Um dieses entgrenzende Ereignis in den eigenen Grenzen zu fassen, orientiert sich die Urgemeinde an der Interpretation der Apostel. Sie versucht auf diese Weise, sich selbst zu stabilisieren und sich mit der Unfassbarkeit der Gegenwart Gottes vertraut zu machen. Das Festhalten an der Gemeinschaft dient dem gleichen Zweck. Kann das Überwältigende mit anderen Menschen geteilt werden, hilft dies, sich zu konsolidieren. Das Brechen des Brotes vergegenwärtig ihnen die Geschichte von Jesus (Lk 24,35) und erinnert sie bei jeder Mahlzeit an die Gegenwart Gottes. Schliesslich richten sie sich im Gebet auf Gott aus und kultivieren auf diese Weise ihr Leben als Leben im Moment Gottes.

Auf dieser Grundlage nimmt die Fortsetzung das tägliche Leben konkreter in den Blick. Durch die Apostel geschehen Wunder und Zeichen. Wie Jesus die Gegenwart Gottes durch Wunder und Zeichen erlebbar gemacht hat (Apg 2,22), so geschieht dies nun auch durch die Apostel. Viele werden deshalb von Furcht darüber, dass Gott gegenwärtig ist, erfasst. Dies Erfahrung prägt das tägliche Leben ganz konkret. Die Glaubenden halten zusammen und teilen ihren Besitz. Überflüssiges verkaufen sie, und vom Erlös geben sie jedem so viel, wie er nötig hat. Die Gegenwart Gottes verbindet die Glaubenden in ihrer Haltung und in ihrem Tun, und sie stellt das Wohl des ganzen Menschen samt seinen materiellen Bedürfnissen ins Zentrum der Gemeinschaft. Einträchtig sind sie Tag für Tag im Tempel, einträchtig brechen sie in ihren Häusern das Brot. Der Wechsel zwischen ihrem öffentlichem und ihrem privaten Auftreten ist konfliktfrei, Jüdisches und Christliches gehen Hand in Hand. Sie essen und trinken in ungetrübter Freude und lauterem Herzen, preisen Gott und stehen in der Gunst des ganzen Volkes. Entsprechend schliessen sich ihnen immer neue Menschen an, die so gerettet werden sollen. Eine segensreiche Situation wird also gezeichnet, die illustrieren soll, was im frühen Urchristentum als Gemeinschaft möglich war, weil sie der Güte und Weisheit von Gottes endzeitlicher Gegenwart folgte. Dabei kippt die Zeichnung an keiner Stelle ins Normative, sondern bleibt strikt deskriptiv.

Aus heutiger Sicht lesen wir diese Geschichte als Gleichnis für jene Gemeinschaft von Menschen, die von der Gegenwart Gottes erfasst ist, die diese feiert und die weiss, dass sie diese kultivieren und üben muss. Denn sie will sich darauf vorbereiten, ihre eschatologische Fülle zu realisieren. Vieles kommt hier also zusammen, vieles wird hier in verdichteter Weise erzählt.

Erzählt wird diese Geschichte zunächst als Bericht der Urgemeinde. Lukas, der Autor des Lukasevangeliums und der Apostelgeschichte, erhebt – ebenso wie er es für die Geschichte von Jesus getan hat – auch hier der Anspruch, das zu berichten, was sich faktisch zugetragen hat. Doch sein Erzählen ist nicht Selbstzweck, sondern es ist der Versuch, gleichnishaft anzudeuten, was sich in Worten nicht fassen lässt: das Kommen des Gottesreichs bzw. der endzeitlichen Gegenwart Gottes. Im Zentrum steht ständig diese unmittelbare Präsenz. Was er erzählt, soll illustrieren, wie dieses unfassbare, eschatologische Ereignis gegenwärtig wird. Das Erzählte weist den Weg, auf welchem die Gegenwart Gottes gesucht werden soll, doch es ist nicht das Ideal, das zu erreichen gefordert ist. In diesem hermeneutischen Rahmen ist der Bericht vom Leben der Urgemeinde zu verstehen.

Herausgestellt wird zunächst, dass die Gegenwart Gottes gemeinschaftsbildend ist. Gemeinsames Meditieren, Beten, Essen und Feiern eines Gottesdienstes machen es deutlich: Steht das Geheimnis des Moments im Zentrum und besteht eine gemeinsam geteilte Deutung davon, treten individuelle Bedürfnisse des einzelnen Menschen in den Hintergrund. Unterschiedlichkeit und Individualität verlieren an Bedeutung. Ins Zentrum rückt stattdessen die Freude am Erleben des Moments und die Verbundenheit mit allen, die diesen Moment teilen. So geschaffene Gemeinschaft verbindet Menschen unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Alter Nationalität, gesellschaftlichem Status, politischer Überzeugung und dergleichen. Sie endet nicht an konfessionellen Grenzen, sondern integriert auch Menschen unabhängig davon, ob sie sich im Übrigen säkular oder religiös verstehen. Eine solche Gemeinschaft sieht sich eingebettet in Natur und Kultur, weiss um die Verbundenheit von allem mit allem und versteht sich selbst als Teil einer grossen Schöpfung.

Fokussiert eine Gemeinschaft auf die Gegenwart Gottes, ist das Haben kein Selbstzweck, sondern dient dem Sein in dieser Gegenwart. Und da können Wunder geschehen und Überraschungen passieren. Es ist zwar so: Privateigentum hat viele wichtige Funktionen, es ist das Rückgrat einer kapitalistischen Gesellschaft, und es ist die Voraussetzung für das Wohlergehen von Menschen. Das stellt auch der Bericht der Urgemeinde nicht in Frage. Die Gegenwart Gottes sorgt nicht für eine weltfremde Ideologie und ist nicht blind gegenüber den ökonomischen Bedingungen von Menschen. Doch sie schafft mitten darin persönliche Souveränität. Wer in der Gegenwart Gottes ist, erfährt deren Güte und Weisheit. Er wird beschenkt und kann schenken, er wird verstanden und kann Verständnis geben. Es entstehen – ganz von selbst – Grosszügigkeit, Solidarität, Menschlichkeit. Da ist keine übergeordnete Autorität nötig, die dies einfordert, und keine Gebote, die dies verlangen. Die Fülle des Empfangenen befreit zu einem Sein, das nicht am Haben haftet, sondern gibt und das Haben mit Güte und Weisheit investiert. Die Gegenwart Gottes transformiert seelenlosen Kapitalismus in menschlichen, mitfühlenden, solidarischen Kapitalismus.

Der Advent ist die Zeit, dies zu üben und zu kultivieren. Jedes Jahr erinnert er daran und erzählt die genau gleichen Geschichten. Doch jedes Jahr fordert er uns neu dazu auf, uns den aktuellen Themen zu stellen. Die Güter dieser Welt sind nach wie vor äusserst ungerecht verteilt. In der Ukraine herrscht Krieg. Den Menschen dort steht ein langer Winter bevor. Sie brauchen zivile Unterstützung, und sie brauchen Waffen – Waffen, die sie vor dem russischen Bombenterror schützen. Leiden gibt es aber auch hier – materielles Leiden und seelische Not. Gott kommt jeden Moment zu uns. An Weihnachten feiern wir dies. Doch um diesem Kommen weder mit unseren persönlichen Verstrickungen noch mit gesellschaftlichen Missständen im Weg zu stehen, gibt es noch viel zu tun. Wir als einzelne Menschen müssen nicht die ganze Welt retten, aber der Advent fordert uns dazu auf, jeden Moment damit anzufangen, dort und dann, wo wir gerade sind, unseren Beitrag zu leisten. Beten wir also, dass uns die Augen für den Moment aufgehen und dass wir aus dem Weg räumen, was dem Kommen Gottes im Weg steht. Amen.

Predigt vom 4. Dezember 2022 in Wabern
Bernhard Neuenschwander

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