Interpretation der Gegenwart

Interpretation der Gegenwart

Petrus aber trat vor, zusammen mit den elfen, erhob seine Stimme und sprach: Ihr Juden und all ihr Bewohner Jerusalems, dies sei euch kundgetan, vernehmt meine Worte! Diese Männer sind nicht betrunken, wie ihr meint; es ist doch erst die dritte Stunde des Tages. Nein, hier geschieht, was durch den Propheten Joel gesagt worden ist: Und es wird geschehen in den letzten Tagen, spricht Gott, da werde ich von meinem Geist ausgiessen über alles Fleisch, und eure Söhne und eure Töchter werden weissagen, und eure jungen Männer werden Gesichte sehen, und eure Alten werden Träume träumen. Apg 2,14-17

Gottes Güte und Weisheit sind unmittelbar gegenwärtig, jeden Moment. Doch um dies zu begreifen und im eigenen Leben umzusetzen, bedarf es der Reflektion. Was in diesen beiden Sätzen lapidar formuliert ist, füllt Bibliotheken. Einerseits geschieht alles Leben im Moment. Ich bin der, der ich hier und jetzt bin. Meine Vergangenheit hat mich zwar geformt, und die Zukunft wirkt bereits jetzt auf mich, doch lebe ich doch nur in diesem Augenblick. Diese Präsenz ist die Voraussetzung für Güte und Weisheit, also für ein wohlwollendes und gelingendes Leben. Bin ich in der Gegenwart, ist dies evident, unmittelbar erfahrbar, offensichtlich. Andererseits ist diese Erfahrung so offensichtlich wie flüchtig. Ich kann den Moment nicht fassen. Ständig bin ich bereits mit Neuen konfrontiert. Wo ist der Augenblick, der gerade noch so klar gegenwärtig war, geblieben? Wo bin ich, wenn ich doch nur in der Gegenwart bin, wer ich bin, und diese Gegenwart ständig vergeht und neu kommt?

Die Reflexion über die Zeit ist rasch verwirrend. Und dies gilt umso mehr, als die Zeit für das unmittelbare Erleben so klar ist. Das ist der Ansatz für eine Mystik der Zeit, das ist der Ansatz für eine postchristliche Mystik. Eine solche Mystik gehört zum Menschen – zu jedem Menschen, unabhängig von Geschlecht, Kultur, Gesellschaft, politischem System oder dergleichen. Sie orientiert sich also an dem, was alle Menschen miteinander teilen: dass sie, solange sie leben, in der Gegenwart leben, dass sie dies zwar unmittelbar als Erlösung erfahren, aber dass sie diese Erfahrung durch die Spiegelungen des eigenen Bewusstseins immer wieder in Verwirrung bringen und sich in die Geschichte verstricken. Diese Erfahrung ist gleichsam die Grundgeschichte einer Mystik der Zeit, eine erste Reflexion der eigenen Zeitlichkeit.

Diese mystische Grunderfahrung ist der Stoff aus dem die Religionen gemacht sind. In immer wieder neuen Schlaufen kreisen sie um die Erfahrung der eigenen Zeitlichkeit und ringen um die erlöste Gegenwart. Die Geschichten, die sie davon erzählen, bleiben dabei stets ambivalent. Sie reflektieren, was jeden Moment erlebt, aber nicht gesagt werden kann, und sie können doch nicht anders, als davon erzählen, was ihnen am Herzen liegt, selbst wenn sie dabei ständig Gefahr laufen, sich im Vielen zu verlieren.

Den Autoren der biblischen Texte geht dies selbstverständlich nicht anders, und unser Predigttext illustriert es. Wer ihn verfasst hat, ist nicht bekannt. Alte Texte nennen ihn Lukas. Vermutlich hat dieser Autor zuerst das Lukasevangelium und anschliessend die Apostelgeschichte geschrieben. Im Zentrum steht für ihn die Gegenwart Gottes bzw. das, was er das Kommen des Gottesreichs nennt. Dies ist für ihn ein unmittelbares Ereignis, das sich jeden Moment ereignet. Doch um deutlich zu machen, was er damit meint, erzählt er Geschichten. Zuerst die Geschichte von Jesus. Er erzählt von dessen Taten und Lehren. Ständig bewegt er sich zwischen den konkreten Erlebnissen und deren Reflexion. Mit dem Abschluss der Geschichte von Jesus beginnt für ihn die Geschichte der Apostel. Auch in dieser Zeit ist Gottes Gegenwart jeden Moment am Kommen. Er erzählt von Ereignissen, in denen dies unmittelbar erfahrbar wird, und er rekapituliert Reden, in denen diese Ereignisse reflektiert werden.

Unser Predigttext ist der Beginn einer solchen Reflexion. Ihr geht der Bericht des Pfingstwunders voraus (Apg 2,1-13). Hier hat Lukas gleichnishaft erzählt, was Pfingsten ist: Wer in der Gegenwart Gottes ist, vernimmt, was dies heisst – zwar nicht mit seinen Ohren, aber als Präsenzerlebnis – wie einen ohrenbetäubender Sturm. Die Flammen der Gegenwart werden ihn zum Brennen bringen und Körper, Gefühl und Denken durchglühen. Dieses unmittelbare Erlebnis deutet Lukas als Erfahrung des Heiligen Geistes. Wird ein Mensch so vom Heiligen Geist durchdrungen, mag er vielleicht unverständlich sprechen, doch seine Worte können von einigen Menschen dennoch unmittelbar mit dem Herzen vernommen werden. Allerdings hält Lukas fest, dass es andere gibt, die nicht verstehen und die spotten, die seien doch betrunken, dass sie so sprechen. Die unmittelbare Gegenwart Gottes ist ein mystisches Ereignis. Wer dafür nicht empfänglich ist, hat kein Empfinden für das, was da geschieht.

Hier setzt unser Predigttext ein. Er erzählt, dass Petrus gemeinsam mit den elf anderen Aposteln vortritt und sich zu Wort meldet (Apg 2,14). Wie bereits nach der Himmelfahrt Jesu ist es Petrus, der das Wort ergreift; doch repräsentiert er nur als Teil der Apostel den Zwölferkreis, der für die zwölf Stämme Israels steht. Dieser Kreis nimmt für sich in Anspruch, den Samen jenes neuen Israels zu bilden, in welchem dessen Verheissungen in Erfüllung gehen, und er will die Situation entsprechend gedeutet wissen. Das Pfingstwunder, das als Flamme der Gegenwart das Potential hat, alle anwesenden Menschen zu erfassen, ist zwar unmittelbar evident. Wird indes versucht, es mit seinem Verstand zu begreifen und einzuordnen, stellt sich die Frage, wer den Anspruch auf die richtige Deutung erheben kann, mithin also die Auseinandersetzung um die richtige und falsche Lehre.

Petrus und seine Mitapostel haben ihr Verständnis des Pfingstereignisses, und ihnen liegt daran, die jüdische Zuhörerschaft von ihrer Deutung zu überzeugen. Jetzt, nach dem Pfingstereignis, ist für sie der Moment gekommen, sich zum ersten Mal nach der Himmelfahrt Jesu an das einheimische, jüdische Publikum zu richten und das unmittelbare Erlebnis der Gegenwart Gottes in ihren Kategorien zu deuten.

Zunächst hält Petrus fest, dass diejenigen, die dies erlebt haben, keineswegs betrunken sind (Apg 2,15). Er verweist darauf, dass es erst Vormittag sei (die 3. Stunde meint etwa 9 Uhr). Was hier geschehe sei, sei etwas ganz anderes: nämlich die Erfüllung der Verheissung des Propheten Joel (Apg 2,16). Alle, die bisher nicht verstanden haben, sollen erkennen, dass sich hier erfüllt, was Joel für die Endzeit verheissen hat: Gott werde seinen Geist ausgiessen über alles Fleisch. Söhne und Töchter werden weissagen. Die jungen Männer werden Visionen haben, und die alten werden Träume träumen. Auch Knechte und Mägde werden vom Geist erfasst und weissagen. Alle Menschen in Israel werden von der Flamme der Gegenwart Gottes zu brennen und daraus zu agieren beginnen. In der Verheissung Joels ist anschliessend von kosmischen Ereignissen die Rede, welche Sonne und Mond erfassen und deutlich machen, dass nun der grosse Tag Gottes kommt (Apg 2,17-21). Was Lukas in den Worten von Petrus sagen will, ist also klar: Gott ist jetzt, durch das Kommen des Heiligen Geistes, so gegenwärtig geworden, dass jeden Moment die Endzeit am Kommen ist. Die Gegenwart Gottes ist nun die Fülle der Zeit.

In der Fortsetzung führt er aus, was ihn zu dieser Deutung bringt und welche Konsequenzen er daraus zieht. Er verweist die angesprochenen Israeliten zunächst auf Jesus von Nazaret, der sich als Gesandter Gottes auswies, der ans Kreuz geschlagen, aber von Gott auferweckt wurde, sodass sich ein Psalmwort (Ps 16,-11) erfüllte (Apg 2,22-29). Sodann betont er, dass dieser Jesus nun zur Rechten Gottes erhöht wurde, den Heiligen Geist empfing und diesen jetzt ausgoss, sodass auch hier ein Psalmwort (Ps 110,1) in Erfüllung ging (Apg 2,29-36). Schliesslich zeigt er, welche Folgen dies für die Angesprochenen hat: dass sie umkehren und sich auf den Namen Jesu Christi taufen lassen sollen, sodass sie die Vergebung ihrer Sünden erfahren und den Heiligen Geist empfangen. Klar macht er indes auch, dass diese Botschaft nicht nur den Anwesenden gilt, sondern ebenso deren Kindern und allen in der Ferne. Lukas lässt keine Zweifel daran, dass diese Heilsbotschaft universal ist: Wer umkehrt, sich taufen lässt und anerkennt, wie Gott in Jesus gegenwärtig war und jeden Moment ist und bleiben wird, der kann diese Gegenwart jeden Moment selber realisieren (Apg 2,37-40). Nach der Erzählung von Lukas ist diese erste Petruspredigt vor Juden ein voller Erfolg. Etwa 3000 Menschen sollen ihr gefolgt und sich der jungen Christengemeinde angeschlossen haben (Apg 2,41).

Diese Pfingstpredigt von Petrus hat es in sich. Sie bietet eine erste Reflexion von Gottes Güte und Weisheit, wie sie jeden Moment gegenwärtig sind. Anlass zu dieser Reflexion gibt das Ereignis, dass Lukas Pfingsten nennt. Dieses Ereignis wird zwar von einigen unmittelbar mit dem Herzen verstanden. Andere aber finden keinen Zugang. Die Pfingstpredigt von Petrus, wie sie Lukas erzählt, ist eine Reaktion auf diese Situation. Eine verbale Interpretation der unmittelbaren Gegenwart Gottes soll erklären, wie diese zu verstehen ist.

Diese Interpretation orientiert sich an Texten der jüdischen Tradition. Zum Zuge kommen der Prophet Joel und die Psalmen. Diese Texte werden zur Interpretation der Gegenwart Gottes, wie sie sich soeben ereignet hat, in Anschlag gebracht. Gottes Gegenwart soll nicht bloss unmittelbar mit dem Herzen, sondern als Erfüllung traditioneller Verheissungen begriffen werden. Zwar wird damit das unmittelbare Ereignis nicht infrage gestellt, doch wird es durch die verbale Interpretation in eine Tradition und einen sozialen Kontext gestellt. Damit geschieht Entscheidendes: Die unmittelbare Gegenwart Gottes wird als unfassbares Ereignis in ein fassbares Ereignis transformiert.

Die Notwenigkeit für diese Transformation sieht Lukas offensichtlich in der Geschichte von Jesus begründet. Denn er ist davon überzeugt, dass Gott so sehr in Jesus von Nazaret gegenwärtig war, dass er ihn vom Tod auferweckte und an den Platz zu seiner Rechten erhöhte, dass er ihm den Heiligen Geist gab und dass Jesus nun diesen Geist ausgoss. Was auf diese Weise geschehen ist, ist für Lukas so fundamental, dass aus seiner Sicht klar geworden ist, dass in der Gegenwart Gottes nicht weniger als die Endzeit am Kommen ist. Die Gegenwart Gottes ist damit keine andere geworden. Sie war, ist und bleibt bedingungslos, unmittelbar, pure Präsenz. Aber um zu vermitteln, dass in dieser Gegenwart Vergangenheit und Zukunft, ja die ganze Fülle der Zeit einschliesslich der kosmischen Endzeit, da ist, sieht sich Lukas gezwungen, die Geschichte von Jesus erzählen. Diese Geschichte vermittelt wenigstens gleichnishaft eine Vorstellung von dem, was sich ereignet, wenn Gott in seiner Endgültigkeit gegenwärtig wird. Aus diesem Grund sollen sich alle auf den Namen Jesu taufen lassen, in Kontakt mit der eschatologischen Gegenwart Gottes kommen und begreifen, dass so die Sünden vergeben sind, Heilung geschieht und die Erlösung wirklich wird.

Im Zentrum bleibt also für Lukas das unsagbare, geheimnisvolle, und doch völlig evidente Ereignis von Gottes Gegenwart. Das Herz erfasst diese Gegenwart unmittelbar, empfängt ihre Güte und Weisheit und versteht, dass daraus Heilung und Erlösung geschehen. Doch um dieses mystische Ereignis in die eigene Geschichte zu integrieren, bedarf es der Worte. Es muss interpretiert und im eigenen Lebenskontext begreifbar werden. Die Kategorien, die Lukas dafür zur Verfügung stellt, stammen aus der jüdischen Tradition und werden an der Geschichte von Jesus konkretisiert. Ihm gelingt auf diese Weise, das Unsagbare sagbar zu machen und das Unbestimmte in Bestimmtes zu transformieren. Diese Leistung können wir kaum genügend würdigen. Sie war so überzeugend, dass sie die Kirchengeschichte über Jahrhunderte prägte. Heute werden wir indes beachten, dass die Sprache, die Lukas entwickelt hat, nicht Selbstzweck ist, sondern dass sie dazu dienen will, die eschatologische Fülle der Gegenwart Gottes zu vermitteln, dass diese aber nicht an die Sprache von Lukas gebunden ist, sondern bedingungslos, frei von menschlicher Sprache, an jedem Ort und in jedem Moment gegenwärtig ist und dass sie auch neu und anders gesagt werden kann. Beten wir deshalb, dass wir die christliche Sprache in einer Weise durchschauen, dass wir in jenen Moment Gottes kommen, in welchen sie uns führen will. Amen.

Predigt vom 13. November 2022 in Wabern
Bernhard Neuenschwander

PDF Datei herunterladen