Der innere Meister

Der innere Meister

Während sie noch zum Volk sprachen, traten die Priester, der Hauptmann der Tempelwache und die Sadduzäer zu ihnen. Diese waren aufgebracht, weil sie das Volk lehrten und im Namen Jesu die Auferstehung von den Toten verkündigten. Und man ergriff sie und nahm sie in Gewahrsam bis zum nächsten Tag, denn es war schon Abend. Von denen aber, die das Wort hörten, kamen viele zum Glauben; die Zahl der Männer stieg auf ungefähr fünftausend. Apg 4,1-4

Eigentlich ist es bestens bekannt, und doch holt es zu Beginn des neuen Jahres immer wieder von Neuem ein: Das menschliche Leben ist riskant. Die beste Planung kann den Zufall nicht verhindern, und Kontrolle schützt vor Überraschung nicht. Breitet sich ein neues Jahr vor dem inneren Auge aus, bringt es unweigerlich zu Bewusstsein, wie gross die Unsicherheit, welche der Zeit eigen ist, trotz allem menschlichen Kalkül dennoch ist. Der Terminkalender des neuen Jahres mag Struktur geben und Sicherheit suggerieren. Doch wer wüsste nicht, dass auch alles anders kommen kann! Auf einmal kann eine Pandemie ausbrechen, ein Krieg Gewissheiten durcheinanderbringen, Migrationsbewegungen die vertraute Ordnung erschüttern, auf einmal kann die Gesundheit auf der Kippe stehen und der Tod vorbeihuschen. Technischer Fortschritt, kluges Wirtschaften, verantwortungsvolles Handeln sind wichtig – die grundsätzlichen Unwägbarkeiten des Lebens können sie nicht aus dem Weg räumen.

Die Gegenwart Gottes stellt diese Tatsache nicht in Frage, aber sie bildet eine Tür, durch die der Moment durchdrungen und verwandelt wird. Sie ist gleichsam der Schnitt, der den Fluss der Zeit von oben bis unten entzweit und dazwischen das Hier und Jetzt schafft. Die Geschichte vom Durchzug durch das Schilfmeer illustriert es: Ist Gott gegenwärtig, weichen die Fluten der Vergangenheit und der Zukunft zurück. Sich darauf zu verlassen, schafft im Hier und Jetzt einen befreienden Korridor, dies nicht zu tun, überschwemmt mit der eigenen Geschichte (Ex 13,17-14,31). Deshalb ringen die Psalmen ständig um die Gegenwart Gottes, deshalb verkünden sie die Güte, die sich durch diesen Schnitt der Zeit in der Zeit zeigt, und erinnern an die Weisheit, die das Wirken dieser Güte im Werden und Vergehen der Zeit versteht. Die Gewissheit, die sich darin zeigt, ist klar: Das Leben hat seine Unwägbarkeiten; doch werden sie in der Gegenwart Gottes realisiert, zeigt sich mitten in ihnen jeden Moment jene bedingungslose Güte, die heilt und befreit, die zwar ständig von den Fluten der Geschichte bedroht ist, aber wirksam wird, wenn sie mit der ihr eigenen Weisheit erkannt, geschützt und kultiviert wird. Die Gegenwart Gottes ist nicht bloss eine fromme Attitüde, sondern sie ist die Tiefe der Zeit, die jeden Moment die Ewigkeit in der Zeitlichkeit der Zeit offenbart.

Lukas hat das begriffen und in seinem Evangelium und der Apostelgeschichte beispielshaft illustriert. Unser Predigttext zeigt, was dies in einer Konfliktsituation bewirkt. Ihm geht eine Heilungsgeschichte voraus. Ein Gelähmter wurde beim Tempel in Jerusalem von seinem Leiden geheilt. Die beiden Protagonisten Petrus und Johannes machten zwar deutlich, dass die Heilung nicht durch sie geschah, sondern durch Gott, der in Jesus Christus dem Nazarener gegenwärtig war und dessen Präsenz dort und dann bis in den Moment hier und jetzt wirkte. Weil sich der Geheilte indes an sie klammerte, strömte das Volk zusammen und zwang die beiden Apostel dazu, sich zu erklären.

Hier setzt unser Predigttext ein. Noch diskutieren Petrus und Johannes mit dem Volk, als die Tempelpolizei mit grossem Aufgebot aufmarschiert. Die Priester sind dabei, denen die Belehrung des Volkes zusteht, ebenso der Hauptmann der Tempelwache sowie die Sadduzäer. Letztere lehnen im Unterschied zu den Pharisäern die Vorstellung einer Auferstehung von den Toten ab (Lk 20,27ff; Apg 23,8). Priester und Sadduzäer sind entsprechend aufgebracht darüber, dass sich Petrus und Johannes anmassen, das Volk zu lehren und im Namen Jesu die Auferstehung Jesu zu verkünden. Ihr Aufmarsch führt zur Verhaftung von Petrus und Johannes. Der Volksauflauf muss beendet werden. Im Laufe des Nachmittags hat er begonnen, nun ist bereits Abend. Die beiden Apostel werden zwar in Gewahrsam genommen, doch von denen, die ihre Worte gehört haben, kommen viele zum Glauben. Wie schon nach seiner Pfingstpredigt hat Petrus viel Plausibilität geschaffen. Gezählt werden jetzt nur noch die Männer, und ihre Zahl soll auf etwa 5000 gestiegen sein. Eindrücklich wird also der Verhaftung von Petrus und Johannes durch die Tempelelite die Resonanz im Volk gegenübergestellt.

Die Fortsetzung berichtet von den Ereignissen am folgenden Tag (V5-22). Die religiöse jüdische Elite versammelt sich, stellt Petrus, Johannes sowie den Geheilten (V14) in ihre Mitte und befragt sie. Im Vordergrund steht nun jedoch nicht der Verhaftungsgrund, also dass sie das Volk im Namen Jesu über die Auferstehung belehrt haben, sondern die Frage, durch welche Kraft oder in wessen Namen sie geheilt und gepredigt haben. Lukas hat bereits in seinem Evangelium mit einem Wort von Jesus festgehalten, dass sich nicht sorgen muss, wer vor Gerichte oder Machthaber oder Behörden gestellt werde, denn der heilige Geist werde ihn in jener Stunde lehren, was zu sagen ist (Lk 12,11f). Dies erfüllt sich jetzt, indem Petrus, wie Lukas notiert, erfüllt von heiligem Geist, Antwort gibt. Petrus verweist zunächst auf die Heilung: Anlass des Verhörs ist eine Wohltat an einem kranken Menschen. Diese zeigt, dass sich das Tun von Petrus und Johannes bewährt, sie wertzuschätzen ist Weisheit. Doch will er ausdrücklich auf die ihm gestellte Frage antworten: Völlig korrekt gibt er zu Protokoll (vgl. V6), dass er im Namen Jesu Christi des Nazareners gehandelt habe, also desjenigen, den diese Ratsversammlung gekreuzigt, Gott aber von den Toten auferweckt hat. Durch diesen sei der Gelähmte gesund geworden. Für ihn ist völlig klar: Der Stein, den die Bauleute verschmäht haben, ist zum Eckstein geworden. In diesem ist alles Heil gegenwärtig, auf keinen anderen Namen rekurriert er. Er steht voll und ganz für die Gegenwart Gottes in Jesus Christus dem Nazarener ein. Entscheidend ist für ihn indes nicht dessen exklusiver Heilsanspruch (dieser wird erst in der Dogmengeschichte zum Thema!), sondern ihm geht es darum, Jesus als Gegenwart Gottes überhaupt gelten zu lassen. Ihm liegt nicht eine exklusive, sondern eine inklusive Christologie am Herzen (V7-12).

Der Freimut von Petrus und Johannes beeindruckt die Ratsversammlung, erst recht als diese merkt, dass die beiden einfache Menschen ohne besondere Bildung sind. Durch die Kraft in ihrer Rede wird der Ratsversammlung klar, dass sie zu Jesus gehören, und weil der Geheilte bei ihnen steht, dessen Heilung für sich spricht, können sie ihrer Deutung, wie die Heilung geschehen ist, nichts entgegenhalten. In einer internen Beratung entscheiden sie sich, ihnen unter Androhung von Strafe zu verbieten, je wieder von Jesus zu sprechen. Offensichtlich erreicht sie die Wohltat der Heilung und deren Deutung durch Petrus und Johannes nicht. Stattdessen nutzt sie ihre Macht, um den Konflikt in ihrem Sinn zu steuern (V13-17).

Die Ratsversammlung teilt ihren Entscheid Petrus und Johannes sogleich mit. Diese reagieren, indem sie darauf verweisen, dass es ihnen doch nur um Gott geht. Sie stehen voll und ganz zu Jesus, doch sie tun dies einzig und allein deshalb, weil sie von der Gegenwart Gottes in ihm überzeugt sind. Diese steht für sie im Zentrum. Ob allerdings die Ratsversammlung tatsächlich auf Gott höre, wollen sie nicht beurteilen und müsse diese selber entscheiden. Petrus und Johannes beanspruchen indes, genau das zu tun und von dem zu sprechen, was sie gesehen und gehört haben. Die Ratsversammlung wiederholt darauf ihre Drohung, lässt sie dann aber gehen. Eine Bestrafung ist für sie im Moment nicht opportun, denn das Volk ist von der Heilung beeindruckt und lobt Gott. Schliesslich hat der Geheilte vierzig Jahre an seiner Lähmung gelitten. Der Konflikt zwischen der Ratsversammlung auf der einen Seite und Petrus und Johannes mit dem Geheilten auf der andern ist also eskaliert und hat sich verhärtet. Streitpunkt ist die Beantwortung der Frage, ob Gott auch in Jesus Christus dem Nazarener gegenwärtig ist (V18-22).

Diese Geschichte zu Beginn des neuen Jahres ruft uns in Erinnerung, dass die Unwägbarkeiten des Lebens durch die Gegenwart Gottes nicht beseitigt, wohl aber aufgebrochen, geheilt und gelöst werden. Jeder Moment bietet zwar das Risiko, mit Schwierigkeiten und Konflikten konfrontiert zu werden, jeder Moment offenbart indes auch die Güte und die Weisheit der Gegenwart Gottes. Diese Ressource steht uns ständig zur Verfügung. Vertrauensvoll mit ihr verbunden zu sein gibt Standhaftigkeit und Widerstandskraft, in ihr zu leben schafft Befreiung und Erlösung.

Das Einstehen für das eigene Leben ist riskant. Das haben Jesus und seine Jünger erfahren, das erfahren täglich unzählige Menschen, und auch wir kommen nicht um diese Erfahrung herum. Stehen wir für uns selbst sein, kann das andere provozieren und herausfordern – selbst wenn wir nicht auf ihre Kosten handeln. Unser blosses Dasein und Hinstehen für uns selbst kann Neid wecken, Rivalitäten auslösen und zu Konflikten führen. Offenbar fällt es Menschen schwer, die Grenzen von sich und andern zu respektieren und die gegenseitige Verschiedenheit zu akzeptieren. Lukas erinnert deshalb daran, sich nicht zu fürchten. Weil Gott ständig gegenwärtig ist, ist ständig seine Güte am Wirken, und ständig kann seine Weisheit sie erkennen und umsetzen. Genau auf diese Weise vollzieht der heilige Geist jeden Moment sein Werk. Er durchdringt und verwandelt unsere Lebensangst und Unsicherheit, er erlöst uns von uns selbst, und er gibt uns Freimut, in der Gegenwart Gottes für unsere Anliegen einzustehen, ruhig und klar zu bleiben, ohne uns selbst auszuagieren und stattdessen so zu sein, wie es der Sache in der jeweiligen Situation angemessen ist.

Dieser erlöste Freimut ist das Ergebnis eines Wegs – eines Wegs mit dem Meister, auf dem der Meister schliesslich als innerer Meister erwacht. Wie Petrus und Johannes können auch wir unsern Weg mit Jesus gehen, und wie sie können auch wir uns nach dessen Aufstieg in den Himmel als seine Nachfolger neu konstituieren. Den Stab, den sie von ihm übernommen haben, geht an uns weiter. So wie Gott in Jesus und in ihnen gegenwärtig war, will er es nun in uns sein. In seinem Namen sind wir in Christus und Christus ist in uns, in seinem Namen wird die Gegenwart Gottes in Christus zur Gegenwart Gottes in uns, in seinem Namen können wir wie er Wunder tun und wie er die Nähe des Gottesreichs verkünden. In Petrus und Johannes ist der Meister erwacht, in uns will er ebenso erwachen. Der Weg, den er vorausgegangen ist, will durch uns weitergegangen werden, und der erlöste Freimut, in welchem sie sich furchtlos den Unwägbarkeiten des Lebens gestellt haben, will auch uns leiten.

In unserer postchristlichen Zeit ist dieser Freimut gefordert. Jahrhunderte christlicher Dominanz haben unsere heutige Gesellschaft geprägt. Sie haben Tiefenstrukturen geschaffen, deren christliche Herkunft kaum noch bewusst ist, und sie haben einen diffusen Wust aus Vorurteilen, Ablehnung und Desinteresse vermischt mit kindlichen Sehnsüchten und Wünschen hinterlassen, unten dem die christliche Botschaft bis zur Unkenntlichkeit verzerrt und verformt ist. Christliche Meisterschaft ist deshalb gefragt. Jesus, Petrus und Johannes sind den Weg der Gegenwart Gottes als einfache Menschen ohne umfangreiche Schulbildung souverän und klar gegangen und haben sich trotz wiederholten Drohungen von Gerichten, Machthabern und Behörden nicht einschüchtern lassen. Nun stehen wir in der Verantwortung. Meisterschaft zeigt sich gerade auch, wenn der Wind kalt entgegenbläst, unter Belastung und Einsamkeit, im Leiden und Sterben. Sie weiss um die Güte, die in jedem Moment trotz allem da ist, und sie orientiert sich an der Weisheit, die erkennt, wie sich diese in den Unwägbarkeiten des Lebens bewährt. Dies zu realisieren, hat Jesus, Petrus und Johannes zu Meistern gemacht, dies will auch uns zu Meistern machen.

Zu Beginn des neuen Jahrs breitet sich die Zeit mit all ihren Ungewissheiten vor uns aus. Beten wir also, dass wir unsern Weg durch das neue Jahr in der Gegenwart Gottes gehen und uns dabei von unserem inneren Meister leiten lassen. Amen.

Predigt vom 08. Januar 2023 in Wabern
Bernhard Neuenschwander

PDF Datei herunterladen