Die neue Identität der Glaubenden

Die neue Identität der Glaubenden

Denn ich bin durch das Gesetz dem Gesetz gestorben, damit ich Gott lebe. Ich bin
mit Christus gekreuzigt; ich lebe, aber nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir.
Gal 2,19-20a

Liebe Gemeinde
Wir sind mit Christus mitgekreuzigt, so dass nicht mehr ich lebe, sondern Christus in
mir lebt. Ein gewaltiger Satz ist dies. Ein Satz, der denjenigen, der sich ihm aussetzt,
immer weiter hineinzieht und ihm nicht so schnell wieder sicheren Boden unter die
Füsse gibt. Es ist ein Satz, der in das Nicht-Haben, in das Nicht-Wissen, in das Nicht-
Begehren hereinzieht, von dem ich in diesem Gottesdienst bereits gesprochen habe.
Es ist deshalb auch ein Satz, der Angst machen und der zurückschrecken und
ausweichen lassen kann. Es ist in der Tat (nämlich, wenn man ihn in die Tat umsetzt)
ein Satz mit einem radikalen Potential.
Es ist gut, wenn man sich sein eigenes Erschrecken vor diesem Satz bewusst macht.
Man muss und darf beim Glauben, gerade auch beim Glauben, keine Gewalt
anwenden und sich zu etwas zwingen, gegenüber dem man innere Widerstände hat.
Macht man sich sein eigenes Erschrecken bewusst, kann man es vielleicht in beide
Hände nehmen und mit dem nötigen Respekt auf das zugehen, was dieser Satz uns
sagen will.
Wir sind mit Christus mitgekreuzigt, so dass nicht mehr ich lebe, sondern Christus in
mir lebt. Das Mitgekreuzigtsein ist für den Glauben eine Tatsache. Nicht etwas, das
man auswählen, nicht etwas, das man wollen oder ablehnen kann. Wer glaubt, ist
mitgekreuzigt. Wer glaubt, trägt die Spuren des Kreuzes an sich. Im Körper, im
Gefühl, im Denken. Da gibt es kein Ausweichen. Es geht nicht darum, dass man dies
Für-wahr-halten müsste, unabhängig davon, ob man davon etwas spürt oder nicht.
Für-wahr-halten muss man nichts. Es genügt, wenn man glaubt, und darauf achtet,
was geschieht, wenn man glaubt.
Glauben ist ein Akt, in welchem man sich dem gekreuzigten Christus aussetzt. Nicht
um ihn zu erklären, sondern umgekehrt, um von ihm strukturiert, interpretiert und
gesteuert zu werden. Es ist ein Akt, in welchem man den gekreuzigten Christus wie
ein Stück Sauerteig in sich aufnimmt – in seinem Denken, in seinem Fühlen, in
seinem Körperempfinden, in seinem Handeln – und sich wie Mehl von diesem
durchsäuern lässt (vgl. Mat 13,33). Es ist ein Prozess, welcher Zeit braucht, welcher
immer mehr von der eigenen Persönlichkeit erfasst und verändert, immer auch noch
weitergeht und nie abgeschlossen ist. Und es ist ein Prozess, der das Drama des
gekreuzigten Christus immer mehr unter die Haut gehen lässt. Als Schlüsselereignis.
Als Fluchtpunkt. Als Durchbruch. Als Realität von uns selber.
Mit Christus mitgekreuzigt sein heisst, das Bewusstsein des Gekreuzigten haben;
heisst, im Kreuz-Bewusstsein sein. Es ist dies das Bewusstsein, in welchem man
sich nicht mehr festhält, weder an Materiellem, noch an Emotionalem, noch an
Mentalem; in welchem man sich loslässt und hergibt; in welchem man die Waffen
streckt und kapituliert; in welchem man die Gewalten, die einem umringen, auf sich
hereinprasseln lässt und das Böse nicht mehr bekämpft. Es ist aber auch das
Bewusstsein, das durch diese Hingabe an die Grenze unseres Dasein, unserer
Wirklichkeit, gelangt und realisiert, wie ein Vorhang reisst: Der Vorhang zum
Allerheiligsten. Der Vorhang, der uns von Gott trennt. Das Kreuz-Bewusstsein ist die
Grenzerfahrung, in welcher in der Ohnmacht und Verzweiflung über die Gewalt um
und in uns die ganz andere Gewalt Gottes geschieht. Mit Christus mitgekreuzigt
werden ist deshalb das Ereignis, in welchem man sich so dem Gekreuzigten
aussetzt, dass man mit seinem Bewusstsein das zu realisieren beginnt, was er
realisiert hat: das Drama wie der Himmel die Hölle öffnet; wie ein Lied des Himmels
das verbitterte Herz zum Schmelzen bringt; wie standhafte Liebe das Böse
überwindet; wie die Kraft der Offenheit das Verschlossene befreit. Es ist der Abstieg
in die Unterwelt, in die Verzweiflung, in die Schuld, in die Angst; aber ein Abstieg, um
darin zur Erlösung, zur Befreiung, zur Liebe zu erwachen.
Wir sind mit Christus mitgekreuzigt, so dass nicht mehr ich lebe, sondern Christus in
mir lebt. Paulus verbindet diesen Gedanken in der vorangehenden Vershälfte mit
dem, dass wir durch das Gesetz dem Gesetz gestorben sind. Das Gesetz, das
Paulus hier meint, sagt uns, was wir zu tun haben, und zwar nicht nur von uns her,
sondern sogar von Gott her. Das Gesetz ist die Autorität, die wir – wie diejenige
unserer Eltern und weiteren Bezugspersonen – internalisiert haben, die unser
Gewissen formatiert und unsere inneren Bewertungsmassstäbe bildet. Es ist die
„höhere Macht“, von der im Zusammenhang eines missverstandenen Glaubens so
oft die Rede ist, die Macht, die wir hoch über oder tief in uns vernehmen können, die
uns Bestätigung und Anerkennung gibt, wenn wir ihr genügen, die uns aber straft
und verurteilt, wenn wir ihr nicht genügen. Je höher die Ansprüche dieser Autorität
sind, desto weniger sind wir in der Lage, ihr zu genügen und desto stärker erleben
wir unser eigenes Versagen.
Wenn wir mit Christus mitgekreuzigt sind, sind wir dem Gesetz gestorben. Mit
Christus mitgekreuzigt werden, ist das Sterbenlassen der internalisierten Autorität; ist
das Auflösen der inneren Richter und Bewertungsinstanzen. Denn Christus ist das
Ende des Gesetzes (Röm 10,4). Je mehr wir uns dem gekreuzigten Christus
aussetzen, je mehr das Kreuz-Bewusstsein Raum in uns erhält, desto mehr verblasst
in uns die Autorität des internalisierten Gesetzes; desto weniger sind wir anfällig, uns
von irgendeiner Autorität beeindrucken zu lassen; desto mehr können wir uns mit
Autoritäten von gleich zu gleich auseinandersetzen. Es gibt keine höhere Autorität
als die des gekreuzigten Christus. Es gibt keine höhere Autorität als das Kreuz-
Bewusstsein. Aber diese Autorität ist immer auch die Autorität des Nicht-Habens,
Nicht-Wissens, Nicht-Begehrens; die Autorität, die in der Verzweiflung spürbar wird,
im Scheitern Hoffnung gibt und in den Albträumen die Lichtblicke. Diese Autorität
kann niemand für sich in Anspruch nehmen, sondern steht – ganz demokratisch –
allen Menschen zur Verfügung. Es ist gewiss wahr, dass sie sich in uns auch bilden
und aufbauen können muss, und dass die Bereitschaft, dies an sich geschehen zu
lassen, unter uns Menschen sehr verschieden ist. Aber grundsätzlich geschieht dies
bei allen Menschen ganz von selbst, wenn wir uns auf den gekreuzigten Christus einund
das Kreuz-Bewusstsein in uns entstehen lassen.
Wir sind mit Christus mitgekreuzigt, so dass nicht mehr ich lebe, sondern Christus in
mir lebt. Es hängt alles an Christus: mit Christus gekreuzigt werden, nicht mehr als
Ich leben, und realisieren, dass Christus in mir lebt. Das Bekenntnis zum
gekreuzigten Christus ist ein Bekenntnis zu einem Weg, wo es keinen Weg gibt; ist
das Sich-aussetzen dem gewaltsamen Zerbrechen, wo kein Leben da ist; ist das
Anerkennen einer Hölle, wo kein Himmel vorhanden ist. Es ist das Bekenntnis zur
Tatsache, dass man das Kreuz-Bewusstsein nicht auf eine Grundsubstanz
reduzieren oder auf eine allgemeine Idee abstrahieren kann; dass man nicht die
Essenz des gekreuzigten Christus auspressen kann wie den Saft aus der Zitrone;
dass man immer wieder nur vor dem Zerbrechen steht und in das Zerbrechen
hineingehen muss. Das Bekenntnis zum gekreuzigten Christus ist das Bekenntnis
unserer Zerbrechlichkeit zur Zerbrechlichkeit unserer Wirklichkeit. Es bleibt dabei
aber immer ein Bekenntnis unseres Glaubens, des Glaubens, der aufwacht, weil er
vom Gekreuzigten angesprochen ist und in uns das Kreuz-Bewusstsein entwickelt,
das uns wieder in den Gekreuzigten zurückbringt. Es ist die Spirale, die uns von
unserem Sterben in das Sterben des Gekreuzigten bringt, um im Hin und Her von
unserem und seinem Sterben zu wachsen.
Wächst unser Glaube, dann wächst unserer Souveränität gegenüber Christus und
unser Respekt vor Christus. Auf der einen Seite realisieren wir, wie wir immer mehr
vom Kreuz-Bewusstsein bestimmt sind und die Souveränität des Nicht-Habens,
Nicht-Wissens, Nicht-Begehrens erhalten, die darin steckt. Realisieren wir dies,
nähern wir uns Christus an, erhalten mehr von dem Geist, den auch er gehabt hat
und gelangen wir mehr dorthin, wohin auch er gelangt ist. Auf der andern Seite
realisieren wir mit wachsendem Glauben aber auch immer mehr, wie ungeheuerlich
das Drama ist, das sich mit dem gekreuzigten Christus ereignet hat. Und dies schafft
Respekt. Respekt vor dem, was Christus durchgestanden hat. Respekt, der uns
demütig zurücktreten lässt und uns erschaudern macht, was noch vor uns liegen
kann. Was sich am Kreuz ereignet, lässt sich durch eigenes Erfahren nie vollständig
einholen und kann man durch eigenes Sich-aussetzen nie wirklich ausloten. Wir
bleiben immer an das Nicht-Haben, Nicht-Wissen, Nicht-Begehren zurückverwiesen.
Was wir aber realisieren können, ist, dass nicht mehr ich lebe, sondern das Christus
in uns lebt. Dies ist Ausdruck unseres Glaubens, nichts mehr wissen, haben oder
begehren zu wollen denn Christus als Gekreuzigten (1Kor 2,2). Es ist das Bekenntnis
unseres Kreuz-Bewusstseins, im Respekt gegenüber dem gekreuzigten Christus
genau unser eigenes Leben zu erhalten. Dies hat nichts mit Unterwürfigkeit oder
Autoritätsgläubigkeit zu tun, aber viel damit, dass wir in unserem eigenen Zerbrechen
mit dem Gekreuzigten uns selber realisieren; dass wir realisieren, dass unsere
Identität nur aus Konstruktionen besteht, Konstruktionen, die wir im aufgrund
biologischen, psychologischen, gesellschaftlich-kulturellen Bedingungen mehr oder
weniger erfolgreich erarbeitet haben; dass wir aber diese Konstruktionen nicht
wirklich sind; dass wir nicht wirklich das sind, was wir uns und andern plausibel zu
machen versuchen; sondern dass wir das Leben sind, das aufwacht, wenn wir im
Respekt vor dem gekreuzigten Christus, im Mit-gekreuzigt-werden mit Christus, im
Zerbrechen unserer eigenen Identitätskonstruktionen, nur noch sind, was wir wirklich
sind: das ewige Leben Gottes, das im gekreuzigten Christus geschieht. Realisieren
wir dies, realisieren wir, dass wir als das ewige Leben Gottes, das im Gekreuzigten
lebt, nichts anderes sind als Christus; dass wir mit Christus identisch sind; dass
Christus in uns lebt, weil wir nicht mehr uns leben, weil unsere konstruierte Identität
mit Christus mitgekreuzigt ist, und das wir in unserem Nicht-Haben, Nicht-Wissen,
Nicht-Begehren mit Christus nichts mehr anderes sind als das ewige Leben Gottes.
Wir sind mit Christus mitgekreuzigt, so dass nicht mehr ich lebe, sondern Christus in
mir lebt. Wo dies geschieht, werden wir zu einem Gurt oder irgendeinem
Kleidungsstück Gottes (Jer 13,1-11). Wir werden gekreuzigt, weil wir mit unserem
Nicht-Haben, Nicht-Wissen und Nicht-Begehren konfrontiert werden; weil wir uns
selber aufgeben müssen; weil wir als Kleidungsstücke kein eigenes Leben mehr
haben; wir werden gelebt, weil wir von Gott her wie Kleider getragen werden; weil wir
durch das Nicht-Haben mit den notwendigen Gütern beschenkt werden, durch das
Nicht-Wissen Sinn erfahren, durch das Nicht-Begehren zu unserem eigenen Leben
befreit werden. Und wir leben, weil wir Gott kleiden, schmücken, schützen und ihn mit
unserem Leben, Handeln und Sein wie seine Kleider repräsentieren. Wir sind mit
Gott als seinen Kleidungsstücken eine untrennbare Einheit, mit der Gott durch uns
Gott und wir durch Gott uns selbst werden. Mit Christus mitgekreuzigt werden ist
deshalb das Ur-Drama zwischen Himmel und Hölle, durch welches wir und Gott in
eine totale Einheit gelangen; und das Leben, das Christus in uns lebt, ist die
Kreativität des Nicht-Habens, Nicht-Wissens, Nicht-Begehrens, ist die Kreativität der
neuen Schöpfung, durch die wir das ewige Leben Gottes in dieser Welt realisieren.
Bitten wir deshalb Gott, dass er uns den Mut und die Tapferkeit gibt, uns dem
Gekreuzigten auszusetzen, um mit dem Gekreuzigten im ewigen Leben Gottes
aufzuerstehen. Amen.

Predigt vom 14. August 2005 in Wabern
Bernhard Neuenschwander

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