Wo soll ich Gott suchen?

Wo soll ich Gott suchen?

Denn wir predigen nicht uns selbst, sondern Christus Jesus als den Herrn, uns selbst
aber als eure Diener um Jesu willen. Denn Gott, der gesagt hat: Aus der Finsternis
soll Licht aufstrahlen! er ist es, der es in unseren Herzen hat aufstrahlen lassen, so
dass wir erleuchtet wurden durch die Erkenntnis von der Herrlichkeit Gottes auf dem
Angesicht Christi.
2Kor 4,5-6


Liebe Gemeinde
Heute ist der Tag, an welchem das Licht Gottes in der Welt, in Jesus Christus, in
unseren Herzen aufleuchtet. Heute ist nicht einer der vielen Tage, die es jahrein
jahraus gibt. Heute ist nicht ein weiterer Tag des Kalenders. Sondern heute ist der
Tag, der uns aus unseren Gewohnheiten und Programmen herausreisst. Heute ist
der Tag, an welchem andere Regeln und Verhaltensweisen zur Geltung kommen:
Heute ist der Tag, der vom Aufleuchten des Lichtes Gottes bestimmt ist. Machen wir
uns deshalb auf, um dieses Licht zu finden, um dieses Licht stärker werden zu
lassen, um dieses Licht zu werden. Denn heute haben wir die Gelegenheit, uns als
ganze Menschen vom Licht Gottes erleuchten zu lassen. Nehmen wir diese Chance
hier und jetzt wahr !
Es ist Heilig Abend. Viele von uns werden heute Abend bereits viele nicht alltägliche
Lichter gesehen haben. Lichter auf Tannbäumen. Lichter von Weihnachtskerzen.
Lichter von Weihnachtsdekorationen. Aber wie steht es mit dem Licht Gottes ? Habt
Ihr dieses Licht in den vielen nichtalltäglichen Lichtern gesehen ? Habt Ihr das Licht
entdeckt, dass Gott in dieser Welt entzündet hat ? Habt Ihr das Licht wahrgenommen,
das Gott in Jesus Christus zum Leuchten bringt ? Habt ihr das Licht in Euren
Herzen aufleuchten sehen, das Euer Bewusstsein zum Erwachen bringt ? Suchen
wir jetzt dieses Licht, auf dass es uns und durch uns auch unsere Welt erleuchte !
Wer suchen will, muss wissen, wo er suchen soll. Es hat keinen Sinn, das verlorene
Portemonnaie in der Nacht bei der hellen Strassenlaterne zu suchen, nur weil es dort
hell ist, aber man gar nicht weiss, ob man es dort suchen soll. Wo also muss man
das Licht Gottes suchen ?
Am Anfang, als Gott Himmel und Erde schuf, war die Erde wüst und öde, und
Finsternis lag auf der Urflut, heisst es zu Beginn des biblischen Schöpfungsberichts.
Das Licht, das Gott schuf, hatte er in diese fundamentale Finsternis der Erde hinein
und über der Urflut geschaffen. Nicht irgendwo leuchtete das Licht, sondern das Licht
erschien in der abgründigen Finsternis der rohen, unbearbeiteten Materialität. Dort
wurde es hell, dort war und ist das Licht Gottes zu finden, dort werden wir es suchen
müssen.
Es ist nicht leicht, für uns kultivierte und von unseren selbstgeschaffenen Lichtern
gejagte Menschen in die abgründige Finsternis des Rohen, Unbearbeiteten und
Unkultivierten zu schauen. Und doch geht es genau darum. Nicht um unsere eigenen
Lichter, nicht um die Leistungen unserer Kultur, unserer Gesellschaft, unseres
eigenen Lebens abzuwerten, sondern um fähig zu werden, das Licht Gottes zu
sehen.
Heute ist der Tag, an welchem das Licht Gottes in der Welt, in Jesus Christus, in
unseren Herzen aufleuchtet. Heute sind wir aufgerufen, an den Lichtern, die wir uns
selbst gemacht haben, vorbei- und in die Finsternis hineinzuschauen. Heute sind wir
aufgefordert, durch unsere eigenen Lichter hindurch in die Finsternis zu blicken, die
uns ständig umgibt, die wir aber normalerweise nicht beachten wollen: die Finsternis
der Verlassenheit. Wo die Lichter aufhören, beginnt die Verlassenheit. Wo wir nicht
mehr im Licht stehen, fangen wir an, uns verlassen zu fühlen. Wo wir kein Licht mehr
sehen, wird uns bewusst, dass wir verlassen sind. Dies und nichts anderes ist die
Realität, die für uns zur Tatsache wird, wenn uns das Licht fehlt. Dies ist die Realität,
in der uns die Erde wüst und öde wird und wir nur noch die Finsternis haben, die auf
der Urflut lag. Wir werden den Blick in diese unheimliche Realität kaum lange
ertragen. Es braucht viel Übung, der Realität der Verlassenheit standzuhalten, nicht
abzudrehen und statt dessen in sie hineinzublicken. Aber genau der Blick in sie ist
der Weg, um das Licht Gottes, das in der Finsternis aufleuchtet, zu sehen.
Wer Gott suchen will, muss lernen, seinen Blick in die Finsternis der Verlassenheit zu
werfen; muss lernen, das Bewusstsein von Verlassenheit zu entwickeln; muss
lernen, sich nicht von Verlassenheitsgefühlen überschwemmen zu lassen, sie statt
dessen wahrzunehmen und die Verlassenheit als formgebendes Prinzip seines
Bewusstseins anzuerkennen. Wo dies geschieht, wird man vertrauter mit der
Finsternis, mit dem Unglück, mit dem Schmerz, und man entwickelt die Furcht und
den Respekt, der ihnen gebührt. Zugleich weicht die Verachtung, mit der man sie so
gerne belegt. Wo das Bewusstsein von Verlassenheit wächst, weiss und anerkennt
man die Not derer, die in der Finsternis sind, und man wird fähig, sie nicht mehr mit
Verachtung zu strafen, sondern ihnen nahe zu kommen. Die Suche nach Gott führt
unvermeidbar in die Furcht und den Respekt vor der Finsternis, in der andere
Menschen, in der wir selbst stehen, führt unmittelbar in die Tapferkeit, Menschen, die
in der Finsternis sind, uns selbst, die wir in der Finsternis sind, nicht zu verachten,
sondern mitfühlend und barmherzig zu begegnen und nahe zu sein.
Heute ist der Tag, an welchem das Licht Gottes in der Welt, in Jesus Christus, in
unseren Herzen aufleuchtet. Heute ist der Tag, an welchem wir in der Finsternis das
Licht Gottes sehen. Heute ist der Tag, an welchem wir in der menschlichen
Verlassenheit die himmlische Schönheit entdecken. Heute ist der Tag, an welchem in
unseren Herzen und fernab von den vielen Lichtern das himmlische Licht erscheint.
Wir mögen die Weihnachtsgeschichte unzählige Male gehört haben; wir mögen
Krippenspiele erlebt haben; wir mögen moderne Interpretationen vernommen
haben… all diese Dinge sind unwesentlich, solange das Licht Gottes, dass in Jesus
Christus erschienen ist, nicht auch unsere Herzen erleuchtet. Es ist dies nicht ein
Ereignis, in welchem wir uns etwas vorstellen oder einbilden müssen, sondern es ist
eines, in welchem wir die Ausstrahlung dieses Menschen sehen und vom Licht, das
wie Paulus sagt: auf seinem Angesicht leuchtet, angerührt werden.
Das Licht, das auf diesem Angesicht erstrahlt und unsere Herzen erleuchtet, spiegelt
sich auf dem Angesicht jedes Menschen. Auf dem Angesicht jedes Menschen kann
uns das Licht Gottes, das auf dem Angesicht Jesu Christi erschienen ist, begegnen.
Es begegnet uns nämlich genau dann, wenn wir das Angesicht der Verlassenen und
Unglücklichen mit unserem Herzen sehen; wenn wir uns nicht von den Lichtern
dieser Welt verführen lassen, sondern die Verlassenheit anderer als unsere eigene
Verlassenheit sehen; wenn wir durch Haben und Nichthaben, durch Wissen und
Nichtwissen, durch Freuden und Leiden hindurch bewusst mit andern die Finsternis
teilen, in der wir als Menschen leben. Was wir einem dieser „Geringsten“ tun, d.h.
was wir einem dieser Tapferen tun, welche ihre eigene Verlassenheit erleiden und
mit ihr zu leben versuchen, das haben wir Christus getan (Mat 25,45). Denn diese
„Geringsten“, diese Verlassenen, sind es, die ihr Kreuz tragen; denn sie sind es, in
deren Angesicht sich das Licht Gottes widerspiegelt, das im Angesicht Jesu Christi
erstrahlt.
Was wir auf ihrem Angesicht sehen, ist nicht das Licht des kultivierten und
charmanten Menschen. Es ist das Licht der Unmittelbarkeit, das jedes Wenn und
Aber zunichte macht; das Licht der Kraft, das jedes Wollen und Vermeiden
durchdringt; das Licht der Klarheit, das jedes Zweifeln und Sorgen beseitigt. Es ist
eben das gewaltige, in keiner Weise von Menschenhand kultivierte, ursprüngliche
Licht Gottes, das in der Finsternis scheint und uns mit der Realität konfrontiert, die
ist. Von diesem Licht können wir immer nur soviel sehen, wie wir der Finsternis
standzuhalten vermögen. Dieses Licht leuchtet uns immer nur soviel auf, als wir das
Angesicht der Geringsten, der Verlassenen, der Unglücklichen in unserem Herzen
ertragen können. Es ist eben das Licht von Weihnachten, das Licht des Verlassenen,
das unsichtbar für die Welt, die nur ihre eigenen Lichter sieht, in einem Stall
erschienen ist, aber all denjenigen Menschen aufleuchtet, die wie die Magier den
Blick in die Finsternis der Nacht wagen und dort mit dem Herzen den Stern sehen,
der ihnen den Weg weist. Beten wir deshalb darum, dass auch wir – hier und jetzt –
den Mut haben, mit unserem Herzen in das Angesicht derer zu blicken, die in der
Finsternis der Verlassenheit sind, um genau in deren Angesicht das Licht Gottes zu
schauen, das aus ihm erstrahlt, auf dass es bei uns Weihnachten werde. Amen.

Predigt vom 24. Dezember 2005 in Wabern
Bernhard Neuenschwander

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