Das Wort vom Kreuz

Das Wort vom Kreuz

Denn das Wort vom Kreuz ist zwar denen, die verloren gehen, eine Torheit; uns
aber, die wir gerettet werden, ist es eine Kraft Gottes.
1Kor 1,18

Liebe Gemeinde
Denn das Wort vom Kreuz ist zwar denen, die verloren gehen, eine Torheit; uns
aber, die wir gerettet werden, ist es eine Kraft Gottes. Kein leicht verständlicher Satz
ist dieser Gedanke von Paulus. Hört man ihn, kann man überrascht aufschrecken,
weil man noch gerade gemerkt hat, dass etwas Ungewöhnliches an einem
vorübergegangen ist, aber man nicht hat erfassen können, was es war. Denn der
Satz enthält in der Tat eine Kombination von Wörtern, die für unsere heutigen Ohren
nicht vertraut ist und die man gleichsam Schritt um Schritt aufschlüsseln muss.
Die Rede ist vom Wort vom Kreuz. Vom Wort vom Kreuz wird gesagt, dass es von
den Menschen unterschiedlich aufgenommen wird. Denn die Menschen lassen sich
– das ist in diesem Gedanken vorausgesetzt – in zwei Gruppen aufteilen: die eine
Gruppe besteht aus denen, die „verloren gehen“ und die andere – zu denen, wie es
heisst, auch „wir“ gehören – aus denen, die gerettet werden. Diese beiden Gruppen
rezipieren das Wort vom Kreuz unterschiedlich. Für diejenigen, die verloren gehen,
ist es eine „Torheit“, für diejenigen aber, die gerettet werden, ist es eine „Kraft
Gottes“. Dieselbe Sache, das Wort vom Kreuz, hat also nicht eine eindeutige und für
sich stehende, gleichsam absolute Bedeutung, sondern sie ist abhängig von den
Rezipienten etwas Verschiedenes.
Dennoch liegt Paulus an der Eindeutigkeit des Wortes vom Kreuz. Denn für ihn ist es
nicht nur das Zentrum seiner Verkündigung, sondern ebenso das Zentrum seiner
Botschaft an die Korinther. Wie er ein paar Verse früher deutlich gemacht hat, hat er
von Chloe und ihren Leuten erfahren, dass die Korinther unter sich uneins sind. Er
hat vernommen, dass sie sich nach ihrer Zugehörigkeit zu verschiedenen
Führungspersönlichkeiten gruppieren und untereinander rivalisieren, wer mehr
Weisheit hat. In diesem Streit über die grösste Weisheit der unterschiedlichen
Autoritäten führt Paulus sein Argument vom Wort vom Kreuz ein. Dieses soll den
Konflikt lösen und Einigkeit schaffen, indem es die Streitigkeiten um die Weisheit auf
eine völlig andere Ebene bringt. Nämlich indem es nicht eine noch höhere Weisheit
behauptet, sondern das Reden von der Weisheit ad absurdum führt. Denn nicht die
höchste Weisheit ist das Zeichen der höchsten Autorität, sondern das Wort vom
Kreuz. Anstatt Weisheit gegen Weisheit auszuspielen, soll also der Streit gelöst
werden, indem der mindestens auf den ersten Blick gegenteilige Standpunkt
eingenommen wird: der des Wortes vom Kreuz.
Überraschend ist das Argument ebenso wie das Vorgehen zweifellos. Doch ist es
auch in der Lage zu lösen, was es verspricht ? Wie soll das Wort vom Kreuz, wie soll
das furchtbare Geschehen, das die Kreuzigung Christi ist, den Streit lösen, welches
die Autorität ist, welche die höchste Weisheit hat ? bzw. welches die Autorität ist,
welche zur erlösenden Weisheit führt ? Diese Frage hat offensichtlich nicht nur vor
2000 Jahren die Korinther beschäftigt, sondern sie ist bis auf den heutigen Tag die
Zentralanfrage an den christlichen Glauben. Wenn muslimische Fundamentalisten
neuerdings die Christen wieder als „Kreuzesanbeter“ verspotten, dann haben sie
offensichtlich durchaus richtig gespürt, was für den christlichen Glauben fundamental
ist, ihnen aber als Argument und Vorgehen im Ringen um die höchste Weisheit
überhaupt nicht einleuchtet. Das Thema ist also bis auf den heutigen Tag
höchstaktuell.
Denn das Wort vom Kreuz ist zwar denen, die verloren gehen, eine Torheit; uns
aber, die wir gerettet werden, ist es eine Kraft Gottes. Dass das Wort vom Kreuz im
Kampf um die höchste Weisheit als Torheit empfunden werden kann, ist nicht weiter
verwunderlich. Das Kreuz ist in kaum zu überbietender Weise Zeichen von Scheitern
und mehr noch: von Schande. Wer in römischer Zeit gekreuzigt wurde, musste eine
der körperlich und psychisch qualvollsten Todesarten sterben, war sozial verurteilt
und mit einem enormen Mass an Entwürdigung und Demütigung konfrontiert. Das
Wort vom Kreuz, das Wort von der höchsten Weisheit, der Weisheit Gottes, im
gekreuzigten Christus, ist deshalb gelinde gesagt sehr verwunderlich. Wenn Paulus
den Gedanken ein paar Verse später noch radikalisiert und festhält, dass das Wort
vom Kreuz für Juden, die Zeichen bzw. Machttaten fordern, ein Ärgernis ist, und für
Griechen, die nach Weisheit fragen, eine Torheit, wird man ihm also rasch
beipflichten und froh darüber sein, dass er noch genügend Realitätsbezug hat und
sich dessen bewusst ist. Dennoch aber hält er ebenso überzeugt fest, dass
ebendieses Wort vom Kreuz denen, die gerettet werden bzw. ein paar Verse später:
denen die berufen sind, mit einem Wort: denen, die glauben, Kraft Gottes und
Weisheit Gottes sei. Denn – so argumentiert er in der Fortsetzung – was die
Menschen auch immer für töricht und schwach betrachten, ist, wenn Gott dabei ist,
weiser und stärker als alles, was von Menschen kommt.
Gewiss wird kaum jemand, der an Gott glaubt, bestreiten, dass all das, was Gott zur
Seite hat, stärker ist als das, was Gott nicht zur Seite hat. Unbeantwortet ist deshalb
jedoch nach wie vor die Frage, warum gerade das Wort vom Kreuz Kraft Gottes und
Weisheit Gottes sein soll, hängt doch an der Antwort auf diese Frage, das ganze
Argument, ja der ganze christliche Glauben.
Die Antwort, die Paulus auf diese Frage gibt, steht V21 und lautet, dass es 1. die
Welt mithilfe ihrer Weisheit nicht geschafft habe, Gott in seiner Weisheit zu erkennen,
dass 2. Gott sich deshalb in seiner absoluten Souveränität dazu entschieden habe,
eine Brücke zu den Menschen zu schlagen, und dass 3. diese Brücke darin bestehe,
an ihn durch die Torheit der Predigt zu glauben.
Genannt wird hier also als Argument für die Legitimität des Wortes vom Kreuz
zuerst die menschliche Unfähigkeit Gott von sich aus zu erkennen. Weil Gott anders
ist als alles, was man sich als Gott vorstellt, wird man mit seinem Ringen um
Erkenntnis immer wieder scheitern. Gott lässt sich nicht als Gegenstand unserer
Erkenntnis vereinnahmen. Was statt dessen nötig ist, ist, das Angebot Gottes
anzuerkennen und Gott in der Absurdität zu suchen, in welcher man ihn nicht
erwartet: im Wort vom Kreuz, im Wort vom Elend und Schrecken, im Wort vom
Schmerz und Scheitern, oder noch allgemeiner gesprochen: im Wort von der platten
Weltlichkeit und Gottlosigkeit der Welt bzw. im Wort von der Religionslosigkeit der
Welt und ihrem Atheismus. Hier, in diesem Wort, soll man Gott suchen, anerkennen
und im Glauben zu erkennen beginnen. Erst wenn man Gott hier sucht, erst wenn
man Gott in der atheistischen Weltlichkeit sucht, in welcher man ihn nicht erwartet,
erst dann wird man in die Lage kommen, seine Kraft und Weisheit zu erfahren.
Dies wird nicht dazu führen, dass das Wort vom Kreuz aufhören wird, Torheit,
Anstoss und Schwäche zu sein. Aber es wird das Wort sein, das ermöglicht, in der
Gottlosigkeit der Welt zu glauben, in der Angst zu lieben, in der Verzweiflung zu
hoffen. Genau deswegen stimmt es eben auch, dass diejenigen, die dieses Wort im
Angesicht von atheistischer Weltlichkeit glauben, gerettet werden, diejenigen aber,
die es ablehnen, verloren gehen. Denn wer in der weltlichen Gottlosigkeit, in der
weltlichen Angst, in der weltlichen Verzweiflung glauben, lieben und hoffen kann, der
erlebt und bezeugt die Kraft und Weisheit Gottes. Jesus hat genau dies mit seinem
Kreuzesschrei „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ zum Ausdruck
gebracht (Mk 15,34), und die Kraft und die Weisheit Gottes, die darin verborgen ist,
hat der römische Hauptmann unter dem Kreuz sogleich gespürt und in seinem
Bekenntnis „Dieser Mensch war in Wahrheit Gottes Sohn“ (Mk 15,39) bezeugt. Wer
jedoch in atheistischer Weltlichkeit, Angst und Verzweiflung nicht mehr glauben,
lieben und hoffen kann, der ist tatsächlich in seine Tragik verloren.
Denn das Wort vom Kreuz ist zwar denen, die verloren gehen, eine Torheit; uns
aber, die wir gerettet werden, ist es eine Kraft Gottes. Die Forderung, die Paulus hier
stellt, ist hoch, gewiss. Es ist nicht leicht, sich von seinen Vorstellungen und
Illusionen von göttlicher Macht und Weisheit zu lösen. Wir können immer wieder in
die Kinderrolle zurückfallen und einen allmächtigen und allwissenden Übergott
anhangen. Und es kann von uns ein gutes Stück Arbeit verlangen, diese Wünsche
und Sehnsüchte von Allmacht und Allwissenheit abzubauen und abzulegen und Gott
genau im Gegenteil zu suchen.
Aber umgekehrt hat das Konzept, das Paulus anbietet, eben auch etwas
Bestechendes. Es ermutigt uns ebenso wie es damals die Korinther ermutigt hat, aus
der Rivalität konkurrenzierender Weisheits- und Machtansprüche auszusteigen und
Gott nicht in dem zu behaupten, was wir im Format unserer Denkfähigkeit
reproduzieren können, uns statt dessen aber glaubend auf einen Bereich unseres
Lebens einzulassen, den wir normalerweise verdrängen, vermeiden oder sogar
verleugnen: auf das Kreuz Jesu Christi, das wir schon tragen.
Wir brauchen unser Kreuz gar nicht erst zu erfinden oder herzustellen. Es ist
schon da. Für jeden Menschen in seiner oder ihrer Weise. Hier, in unseren
unterschiedlichen Lebenssituationen mit je unseren Erfahrungen und
Verarbeitungsmöglichkeiten steckt unser Kreuz drin. Wir brauchen es nur
aufzuheben, anzuerkennen, uns darauf einzulassen und darum zu ringen, die Kraft
Gottes und die Weisheit Gottes darin zu erkennen. Dies zu tun, wird immer ein
Prozess sein, in dem unsere eigenen Wünsche und Erwartungen dekonstruiert
werden, aber auch einer, in welchem wir beginnen, befreit, beglückt und heil zu
werden. Und wir werden dabei auch dazu gedrängt werden, uns dafür einzusetzen,
dass dasselbe auch der Welt widerfahren kann.
Beten wir deshalb darum, dass wir lernen, das fremde und harte, aber
zugleich erlösende Wort vom Kreuz anzunehmen und seine Kraft und Weisheit durch
unser Leben in die Welt zu tragen. Amen.

Predigt vom 06. November 2005 in Wabern
Bernhard Neuenschwander

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