Dankbarkeit

Dankbarkeit

Unsere Väter hatten das Zelt des Zeugnisses in der Wüste, so wie es den Anordnungen dessen entsprach, der mit Mose gesprochen hatte: Nach dem Urbild, das er gesehen hatte, sollte es gebaut werden. Das haben unsere Väter übernommen und unter Josua ins Land gebracht, als sie das Hab und Gut der Völker in Besitz nahmen, die Gott vor dem Angesicht unserer Väter vertrieb – bis zu den Tagen Davids. Dieser fand Gnade vor Gott und bat darum, ihn eine Wohnstätte finden zu lassen für den Gott Jakobs. Salomo baute ihm dann ein Haus. Doch der Höchste wohnt nicht in Wohnungen, die von Menschenhand gemacht sind, wie der Prophet sagt: Der Himmel ist mein Thron, die Erde aber der Schemel meiner Füsse. Was für ein Haus wollt ihr mir bauen, spricht der Herr, was soll meine Ruhestätte sein? Hat nicht meine Hand dies alles gemacht? Apg 7,44-50

Der Weg in die Gegenwart Gottes zentriert und richtet aus. Gehe ich diesen Weg, löst sich die Verwirrung auf, und es entstehen Klarheit und Freiheit. Ich muss mich an nichts festhalten und bin doch mit allem verbunden. Ganz bin ich in dieser Welt, realistisch und nahe bei dem, was ist. Meine Identität kommt nicht durcheinander. Ohne Aufwand fühle ich mich zugehörig, selbstverständlich bin ich dabei. Dennoch bleibe ich frei und unbefangen. Denn die Gegenwart Gottes ist meine Heimat, das Geheimnis des Moments mein Zuhause. Ich bin darin gesammelt und erlöst, meine Identität ist geklärt.

Wie könnte ein solcher Weg nicht attraktiv sein? Er stellt in den Mittelpunkt, was jeden Moment gegeben ist. Nichts ist unmittelbarer Realität als die bedingungslose Präsenz des Augenblicks. Allerdings ist sie so unmittelbar gegenwärtig, dass ich sie allzu gern übersehe. Rasch ist mein Blick bei dem, was vor meinen Augen liegt. Die Bilder nehmen mich gefangen und rufen nach weiteren Bildern. Plötzlich nehme ich die Geräusche wahr, die sie einbetten, die Worte und Geschichten, die ihnen Bedeutung geben und sie in Zusammenhänge stellen. Eine ganze Welt baut sich mir auf, und ich merke, dass ich in meinem leiblichen Dasein darin irgendwie vorkomme. Doch die Fülle von Informationen nimmt mich in Beschlag. Rundum bin ich damit beschäftigt, mich zurecht zu finden und meinen Weg zu gehen. Tagein und tagaus nehmen die Fluten von Informationen kein Ende. Im Gegenteil: Meine Welt wird komplizierter, und was einmal natürlich und selbstverständlich war, wird fremd und irritierend. Ich muss die Komplexität irgendwie bewältigen und mein Leben auf die Reihe bringen. Ist da nicht naheliegend, wenn ich mir meine eigene Welt schaffe, Komplexität auf meine Weise reduziere und mich am Werk meiner Hände freue?

Es ist ein grosses Privileg des Menschen, mit Selbstbewusstsein ausgestattet zu sein, das eigene Leben in die Hand nehmen und die Welt durch Arbeit und in Selbstverantwortung gestalten zu können. Keinem anderen Lebewesen auf dieser Erde ist dieses Privileg eigen. Wie könnte es nicht sein Stolz sein? Wie könnte er nicht all seine Leidenschaft zu dessen Entfaltung investieren? Die Entwicklung von Werkzeugen und technischen Hilfsmitteln bis hin zu all den Möglichkeiten, die sich heute dank künstlicher Intelligenz öffnen, sind eine unermessliche Chance des Menschen, das Leben auf dieser Welt in die Hand zu nehmen und zu bestimmen.

Verloren geht dabei freilich immer mehr der Mittelpunkt. Die bedingungslose Präsenz des Augenblicks ist zwar der Elefant im Raum. Doch in all dem Tun des Menschen wird er rasch zu seinem blinden Fleck. Er verstrickt sich in die Bedingungen seines Lebens und entfremdet sich von der Bedingungslosigkeit des Moments. So aber kippt sein Gleichgewicht zwischen Mitte und Peripherie, so kippt das Gleichgewicht, auf das diese Welt angelegt ist. Er selbst kommt aus dem Lot, und die Welt, die er sich schafft, ebenso. Offenbar ist es für den Menschen eine Herausforderung, nicht der eigenen Hybris zu verfallen und stattdessen zentriert in der Bedingungslosigkeit des Moments mitten in den Bedingungen seines Lebens zu navigieren.

Das Thema ist freilich heute nicht neu. Es hat vielmehr eine endlose Geschichte geschaffen, die sich seit Jahrtausenden in unzähligen Variationen wiederholt. Unser Predigttext erzählt daraus eine Episode. Die Geschichte, die er berichtet, steht in der Verteidigungsrede des Stephanus. Lukas beschreibt Stephanus als Mann voll Geist und Weisheit, der erfüllt von Gnade und Kraft ist und im Volk grosse Wunder und Zeichen tut (Apg 6,3.8). Allerdings weckt er den Widerstand traditionell denkender Juden der hellenistisch geprägten Synagogen. Diese zerren ihn gewaltsam vor den Hohen Rat, wo er die Gelegenheit bekommt, sich zu verteidigen. In seiner Verteidigungsrede blickt er in die gemeinsame Geschichte Israels zurück. Er versucht bei dieser Rekapitulation der Geschichte deutlich zu machen, dass sich ein bestimmtes Muster wiederholt: Gott ist zwar mit seiner erlösenden Güte und Weisheit ständig gegenwärtig. Abraham hat er deshalb eine segensreiche Zukunft verheissen. Doch die Geschichten der Erzväter und Mose bis hin zur Zeit der Könige zeigen, dass Israel mit seiner Eigenwilligkeit der eigenen Erlösung immer wieder in die Quere kommt. Statt in der bedingungslosen Präsenz des Augenblicks zu sein und Gottes Güte und Weisheit zu leben, verstrickt es sich in sein eigenwilliges Tun, verliert seine Mitte und bringt sich und seine Welt aus dem Gleichgewicht. Mit unserem Predigttext illustriert dies Stephanus anhand der Geschichte vom Tempelbau.

Er erinnert seine jüdische Zuhörerschaft zunächst daran, dass unsere Väter, also die gemeinsamen Vorfahren, auf ihrer Wanderung durch die Wüste das Zelt des Zeugnisses bei sich hatten (V44). Dieses Zelt wurde auf Anordnung dessen angefertigt, der mit Mose gesprochen hatte, nach dem Urbild, das Mose gesehen hatte. Es war als Zelt der Begegnung konzipiert und entsprach dem Willen Gottes (Ex 28,43). Gott sollte auf dem Weg durch die Wüste in Israels Mitte wohnen (Ex 25,8). Daran hielten sich die Väter der Wüstenzeit (V45). Dieses Zelt wurde unter Josua bei der Landnahme mitgetragen, als sie Hab und Gut der ortsansässigen Völker in Beschlag nahmen und Gott sie vor ihrem Angesicht vertrieb. Dass die Eroberung und das Besitzen des Landes konfliktbeladen waren, wird von Stephanus herausgehoben. Lukas wird dabei seine Leserschaft im Blick haben, die sich bewusst ist, dass Israel das Land an die Römer verloren hat. Die Landnahme mit dem Zelt mitten in Israels war Thema bis zu den Tagen Davids. Denn dieser fand Gnade vor Gott, und er bat Gott darum, ihn eine Wohnstätte für ihn finden zu lassen (V46). Salomo baute ihm dann das Haus (V47). Dieses Ereignis kritisiert Stephanus nicht direkt, doch markiert er es als Wendepunkt. Denn er verweist darauf, dass der Höchste nicht in Wohnungen wohnt, die von Menschenhand gemacht sind (V48). Das Zelt entsprach noch dem Willen Gottes, doch die Vorstellung, ein von Menschenhand gemachtes Heiligtum könnte Gott verfügbar machen, entspricht ihm nicht mehr. Stephanus macht dies mit einem Zitat aus Jes 66,1 deutlich (V49f): «Der Himmel ist mein Thron, die Erde aber der Schemel meiner Füsse. Was für ein Haus wollt ihr mir bauen, spricht der Herr, was soll meine Ruhestätte sein? Hat nicht meine Hand all dies gemacht?» Was Menschen mit ihren Händen erarbeiten, ist also nicht grundsätzlich schlecht, sondern kann durchaus wertvoll sein. Aber es taugt nicht dazu, als Ort der Gegenwart Gottes verehrt zu werden. Denn Gott ist als Schöpfer in seiner ganzen Schöpfung unmittelbar gegenwärtig. Dies zu realisieren, ist das Zentrum der Gottesverehrung, alles menschliche Tun muss dieser Mitte entspringen.

In der Fortsetzung zieht Stephanus die Konsequenzen aus seiner Geschichtsanalyse (VV51-53). Offen und direkt macht er seine Kritik an der jüdischen Elite und ihrer religiösen Institution laut. Er bezichtigt sie der Halsstarrigkeit, wirft ihr vor, unbeschnitten an Herz und Ohren zu sein und sich – wie bereits ihre Väter – stets von neuem dem Heiligen Geist zu widersetzen. Alle Propheten, die das Kommen des Gerechten angekündigt haben, seien von ihnen verfolgt und getötet worden. Zuletzt haben sie ihn – er meint, ohne es ausdrücklich zu sagen, Jesus Christus, den Nazarener – verraten und ermordet. Ausgerechnet sie, die sie doch das Gesetz durch Anordnung von Engeln, also voll von Gottes Wohlwollen, empfangen haben, haben sich nicht darangehalten. Die Beachtung der Verheissung Gottes in Geist und Weisheit, wie sie im Gesetz des Moses steckt, liegt Stephanus am Herzen. Doch denen gegenüber, die von Amtes wegen dieses Gesetz repräsentieren, zwar seine Macht in Anspruch nehmen, seine Güte und Weisheit aber nicht beherzigen, fühlt er sich zu harscher Kritik berechtigt. Die Folgen lassen nicht auf sich warten: Stephanus wird vom Hohen Rat weggeführt und ausserhalb der Stadt gesteinigt (VV54-60).

Auch heute beeindruckt Stephanus mit seiner offenen und direkten Rede, seiner Parrhesia (vgl. Apg 4,13.29.31). Glasklar stellt er den Konflikt zwischen Gottes erlösender Gegenwart einerseits und Israels Eigenwilligkeit andererseits sowie die Folgen dieses Konflikts heraus. Verankert in der Weisheitstradition, verweist er auf die Zusammenhänge von Tun und Ergehen, ruft zur Einsicht, aber stellt sich auch der Uneinsichtigkeit seiner Zuhörerschaft. Die Gegenwart Gottes hat ihn zu einer Klarheit geführt, für die er ohne Zögern einsteht und für die zu sterben er bereit ist.

Offenbar hat Stephanus verstanden, dass Gott mit seiner Güte und Weisheit bedingungslos gegenwärtig ist – in allem, was geschaffen ist, und in jedem Moment. Alles menschliche Tun und Arbeiten ist demgegenüber bedingt. Es hat seinen Wert, es kann dienlich, und es kann schädlich sein. Doch es ist nie in der Lage, Gottes Gegenwart einzufangen und in ein Heiligtum zu bannen. Ob es das Land, der Tempel oder das Gesetz des Mose ist, welche Gott Israel gegeben hat – im Zentrum bleibt die reine Gnade, der Geschenkcharakter des Gegebenen, durch den dieses dem Menschen nie gänzlich verfügbar wird. Das zu verstehen, konfrontiert ihn mit der Ohnmacht dem Geheimnis der Gegenwart gegenüber. Er muss dieser Ohnmacht standhalten, die Kränkung seines Eigenwillens akzeptieren, und er muss in den Abgrund seiner Demut steigen und die Wüste ertragen, durch die er geht. Nur darin offenbar sich ihm, was einzig in reiner Gnade entsteht, nur so versteht er die Güte und Weisheit der Gegenwart Gottes. Stephanus ist diesen Weg in die Gegenwart Gottes gegangen. Er hat sich selbst gelassen und die Angst vor dem Hohen Rat verloren. Es ist frei, Klartext zu sprechen, und frei, die Konsequenzen zu tragen.

Der Glaube, der in Stephanus erwacht ist, bleibt auch in unserer postchristlichen Zeit wegweisend. Dieser Glaube stellt die bedingungslose Präsenz des Augenblicks in den Mittelpunkt. Religiöse Heiligtümer, religiöse Institutionen und Infrastrukturen, aber auch religiöse Eliten treten in den Hintergrund. Sie sind durch Menschenhand entstanden, den Bedingungen der Zeit unterworfen, zuweilen dienlich, zuweilen schädlich, sicher aber kein Ort, an welchem Gott festgemacht werden kann. Wie alles menschliche Tun, ist jede formalisierte Religiosität ambivalent. Gott als bedingungslose Präsenz kann nicht in Formen und Strukturen, Institutionen und Bekenntnisse, Ideologien oder moralische Verhaltensweisen gezwungen werden. Weder von einer alten Religion, noch von einer esoterisch therapeutischen oder säkularen Ersatzreligion! Gott ist als Geheimnis des Moments mit seiner Güte und Weisheit vielmehr ständig in allen Dingen gegenwärtig – frei von jedem menschlichen Zutun, aus reiner Gnade. Wie könnte diese befreiende, prächristliche Klarheit von Stephanus nicht auch in unserer postchristlichen Zeit Erlösung sein!

Die Antwort auf diese Klarheit ist eine Dankbarkeit, die sich an nichts dingfest machen lässt, sondern in der bedingungslosen Gegenwart Gottes und deren Güte und Weisheit gründet. Diese Dankbarkeit entsteht, wenn ich mich lasse und das Geschenk der bedingungslosen Gegenwart tatsächlich in Empfang nehme. Mit ihr bin ich an dieses Geschenk gebunden und werde von ihm durchdrungen. Es wird zum Mittelpunkt meiner Identität. Meine Welt wirbelt um diesen Mittelpunkt, doch er hört nicht auf, mir dunkles, unergründbares Geheimnis zu bleiben. Ich lebe in seiner Unmittelbarkeit, freue mich an der erlösenden Güte, die ihm eigen ist, und an seiner Weisheit im Umgang mit der Unerlöstheit. Mir selber schreibe ich davon nichts zugute. Denn ich weiss, dass ich nur ihm verdanke, was durch mich geschieht. Diese Dankbarkeit hat Stephanus mit der Herrlichkeit Gottes verbunden und zum Leben und Sterben befreit. Sie ist das Siegel jenes mystischen Glaubens, der frei von Formen in allen Formen spielt, der frei von jeder Zeitgebundenheit in jedem Moment wirksam wird und der gestern, heute und morgen das gleiche Geheimnis ist, aber nie dieselbe Gestalt hat.

Das Vorbild von Stephanus macht es deutlich: Dieser mystische Glaube geschieht mitten im Alltag samt all seinen politischen Irrungen und Wirrungen. Er verlangt von uns keine Sonderleistung, keine Tugendhaftigkeit, kein Festhalten an religiösen Formen und Verhaltensweisen. Es genügt, die Bedingungslosigkeit des Moments anzunehmen, diesem Geschenk mit Dankbarkeit zu antworten, also schlicht und einfach, unsere Zeit für Gott zu leben. Beten wir deshalb, dass wir erkennen, was uns in jedem Moment gegeben ist, und dass wir lernen, daraus zu leben. Amen.

Predigt vom 11. Juni 2023 in Wabern
Bernhard Neuenschwander

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