Verantwortung im Jetzt

Verantwortung im Jetzt

Die ganze Gemeinde war ein Herz und eine Seele, und nicht einer nannte etwas von dem, was er besass, sein Eigentum, sondern sie hatten alles gemeinsam. Und mit grosser Kraft legten die Apostel Zeugnis ab von der Auferstehung des Herrn Jesus, und grosse Gnade ruhte auf ihnen allen. Ja, es gab niemanden unter ihnen, der Not litt, denn die, welche Land oder Häuser besassen, verkauften, was sie hatten, und brachten den Erlös des Verkauften und legten ihn den Aposteln zu Füssen; und es wurde einem jeden zuteil, was er nötig hatte. Josef aber, der von den Aposteln den Beinamen Barnabas erhalten hatte, das heisst ‚Sohn des Trostes‘, ein Levit, der aus Zypern stammte und einen Acker besass, verkaufte ihn, brachte das Geld und legte es den Aposteln zu Füssen. Apg 4,32-36

Die Verantwortung im Hier und Jetzt ist die Tür zur Gegenwart Gottes. Nur wer sich in diese Verantwortung stellt, schafft den Rahmen, in welchem Gott gegenwärtig wird. Fehlt die Bereitschaft, diese Verantwortung zu kultivieren, verpasst man Gott. Dabei aber ist es die Gegenwart Gottes, die diese Verantwortung überhaupt erst weckt und dazu motiviert, sich in sie zu stellen. Ständig ist Gott gegenwärtig, ständig ergeht daraus ein Impuls zur Verantwortung, diese Gegenwart mit Dankbarkeit anzunehmen, zu schützen und zu leben. Die Verantwortung im Hier und Jetzt ist gleichsam das menschliche Gefäss der Gegenwart Gottes. Es trägt sie und verkörpert sie im Leben des Menschen. Doch dieses Gefäss der Verantwortung verdankt sein Dasein der Gegenwart Gottes. Diese ruft sie ins Leben, diese gibt ihr Sinn und Bedeutung, diese erfüllt sie mit ihrer Güte und ihrer Weisheit.

Eine solche Verantwortung befreit von Moralismus und schafft Erlösung. Ihre Referenz ist nicht ein internalisiertes Ideal von Werten und Normen, und ihre Konkretisierung ist nicht eine Ideologie, die das Leben in all seinen Facetten zu beherrschen versucht. Eine Verantwortung, die sich der Gegenwart Gottes verdankt, ist keine Verlängerung elterlicher Autorität oder traditioneller Normativität. Sie verlangt nicht Unterwerfung, und sie erklärt nicht für schuldig, wer ihr nicht genügt. Ihre Struktur ist ganz anders. Die Verantwortung im Hier und Jetzt erfasst den Menschen als Leib und Seele. Der ganze Mensch samt seiner Körperlichkeit, Emotionalität und Geistigkeit, samt seiner sozialen und ökologischen Verbundenheit wird in ihr zur Gegenwart Gottes befreit. Kein Teil dominiert einen anderen oder hindert ihn daran, atmen zu können und befreit im Moment zu sein. Die gesamte Persönlichkeit mit all ihren Schichten wird in Ordnung gebracht. Alles kommt an seinen Platz. Verstrickungen lösen sich auf, Klarheit und Transparenz entstehen. Die Verantwortung im Hier und Jetzt verbindet Tun und Geschehen lassen, Säen und Wachsen lassen, Ernten und Sterben lassen. Sie schafft ein Klima, in welchem die Dinge ins Lot kommen und die Fülle des Moments leuchtet und klingt. So in der Verantwortung zu sein, erlöst und offenbart die Gegenwart Gottes.

Von einer solchen Verantwortung ist auch der Autor unseres Predigttextes geleitet. In seinem Evangelium hat Lukas am Beispiel von Jesus vorgeführt, wie sie sich zeigt, wie sie Heilung und Rettung schafft und Not und Elend auflöst. Entscheidend ist für ihn indes, dass sie nicht exklusiv auf Jesus begrenzt ist, sondern dass sie allen Menschen offensteht, die sie suchen. In seiner Apostelgeschichte führt er dies aus, und unser Predigttext illustriert, was dies konkret bedeuten kann.

Ihm geht eine Wundergeschichte mit einem längeren Nachspiel voraus (Apg 3,1-4,31). Sie gab zu verstehen, dass der Bezug zu Jesus Christus dem Nazarener Heilung schafft. In ihm war Gott gegenwärtig, und diese Präsenz Gottes in ihm vervielfacht sich in all den Menschen, die sich in der Zeit nach ihm auf seinen Namen beziehen. Die Botschaft seiner Auferstehung brachte dies gleichnishaft zum Ausdruck: Selbst Sterben und Tod sind von der heilenden Gegenwart Gottes durchdrungen. Für alles, was in der Zeit geschieht, gibt es Erlösung. Diese Gewissheit prägte den Glauben der Urgemeinde. Sie motivierte die Apostel Petrus und Johannes dazu, furchtlos und frei vor dem Gericht der jüdischen Elite für diesen Glauben einzustehen (Apg 4,13), und sie motivierte die ganze Gemeinde, es ihnen gleich zu tun (Apg 4,29.31). Dieser Glaube stellte sie in die ihm eigene Verantwortung.

Hier setzt unser Predigttext ein, und er illustriert, wie sich diese Verantwortung auswirkt. Die Grundlage wird gleich zu Beginn genannt: Die ganze Gemeinde ist ein Herz und eine Seele (V32a). Sie lebt also, was im jüdischen Hauptgebet, dem «Schema Israel», täglich gebetet wird: «Höre Israel: Der HERR, unser Gott, ist der einzige HERR. Und du sollst den HERRN, deinen Gott lieben, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft» (Dtn 6,5f; vgl Dtn 10,12; 11,13.18; 13,4 u.ö.). Lukas stellt also heraus, dass die christliche Urgemeinde lebt, was für jüdischen Glauben im Zentrum steht. Seine Pointe ist hier freilich, dass die Gemeinde mit ihren an die 5000 Familien (vgl. Apg 4,4) einmütig ist wie sonst allenfalls ein einzelner Mensch mit sich selbst im Einklang ist. So unterschiedlich die Situation der einzelnen Gemeindeglieder auch sein mag – ihr gemeinsam geteilter Bezug zur erlösenden Gegenwart Gottes verbindet sie und stellt sie in die gegenseitige Verantwortung füreinander. Alle kooperieren, alle geben ihr Bestes, alle leben mit Herz und Seele in dieser Verantwortung – und zwar freiwillig. Die Freiheit der Beteiligten wird auch bei diesem Thema nicht in Frage gestellt (vgl. Apg 5,4).

Lukas beschreibt nun die Folgen, dieses gemeinsam geteilten Bewusstseins von Verantwortung (V32b-35): Niemand nennt etwas von dem, was er besitzt sein Eigentum, sondern sie haben alles gemeinsam. Die Urgemeinde lebt also eine radikale Form von Gütergemeinschaft. Dabei erinnern die Apostel ständig an die Auferstehung des Herrn Jesus und bezeugen auf diese Weise die heilende Güte der Gegenwart Gottes. Grosse Gnade ruht auf ihnen allen. Niemand muss materielle Not leiden. Wer Land oder Häuser besitzt, verkauft freiwillig, was er hat, und legt den Erlös den Aposteln zu Füssen. Aufgrund ihrer Erfahrung mit der Gegenwart Gottes in Jesus verwalten diese das gemeinsame Vermögen. Lukas hält fest, dass dies funktioniert und dass einem jeden zuteil wird, was er nötig hat. Für ist klar, dass das von allen geteilte Verantwortungsbewusstsein im Glauben an die Gegenwart Gottes in betriebswirtschaftlichen Kategorien nicht erfasst wird. Ihn interessiert weder die Frage, ob ein solches Wirtschaften nachhaltig ist, noch ob es die richtigen Anreize setzt. Auch die Frage, nach welchen Kriterien das gemeinsam geteilte Vermögen verwaltet und verteilt wird und welche institutionellen Strukturen dazu hilfreich sein könnten, stellt er nicht. All diese Fragen werden in der Kirchengeschichte grosse Themen. Indem alle Gemeindeglieder radikal in der Verantwortung der Gegenwart Gottes leben, stellen sie sich für Lukas schlicht und einfach nicht.

Bereits nach der Pfingstgeschichte und deren Interpretation durch Petrus hat Lukas von der Gütergemeinschaft der Urgemeinde erzählt (Apg 2,42-47). Das Thema liegt ihm offensichtlich am Herzen. In unserem Predigttext verdeutlich er es sogar noch am Beispiel von Josef (V36-37). Dieser Josef erhält von den Aposteln den Beinamen Barnabas, und Lukas legt wert darauf, deutlich zu machen, dass dies «Sohn des Trostes» heisse. Barnabas taucht in der Apostelgeschichte noch mehrfach auf und hat offensichtlich eine wichtige Rolle (Apg 9,27; 11,22-26.30; 12,25; 13,1-14,28; 15,1-39). An unserer Stelle erzählt Lukas, dass er ein Levit ist, aus Zypern stammt und sich vorbildlich verhält: Er hat einen Acker, verkauft ihn, bringt das Geld und legt es den Aposteln zu Füssen. Die erlösende Gegenwart Gottes, wie sie ihm im Namen von Jesus Christus dem Nazarener entgegenkommt, weckt seine Verantwortung und motiviert ihn, die Einmütigkeit der Gemeinde zu unterstützen und seinen Beitrag zum Wohle der Gemeinde zu leisten. Nicht alle sind, wie die Fortsetzung zeigt, seinem Beispiel gefolgt (Apg 5,1-11). Offensichtlich ist sich Lukas durchaus bewusst, dass die Klarheit, die Barnabas an den Tag legt, keine Selbstverständlichkeit ist.

Die Radikalität, mit welcher die Urgemeinde ihre Verantwortung lebt, ist auch heute beeindruckend. Ihre Verantwortung im Hier und Jetzt trägt den Namen Jesus Christus dem Nazarener. Sie lebt ihren Glauben in seinem Namen und steht damit in seiner Verantwortung. Mitten in dieser ist ihr Gott gegenwärtig, mitten in dieser kommt ihr dessen Güte und Weisheit entgegen. Sie lebt in der unmittelbaren Gegenwart Gottes, vertraut auf deren erlösende Kraft und sorgt sich nicht um sich selbst. Auf diese Weise ist sie dazu befreit, ohne Furcht und Zögern das Nötige zu tun und selbstlos und sachbezogen zu helfen, dass niemand Not leidet. Alle sind einmütig dabei, alle geben mit Herz und Seele, was Not tut. Die Gemeinde ist damit als Ganze ein Ort, in welcher die Gnade Gottes gegenwärtig ist, ausstrahlt und überzeugt.

Auch in der Kirchengeschichte hat dieses Modell der Urgemeinde Eindruck gemacht. Paulus ist mit ihm vertraut, betont aber ebenfalls die Freiwilligkeit. Die Kollekte heisst κοινωνία, Gemeinschaft (Röm 15,26; 2Kor 8,4), und ihm ist wichtig, dass alle κατὰ δύναμιν, nach Kräften, und darüber hinaus spenden (2Kor 8,3). Doch spätestens die Kirchenväter des dritten Jahrhunderts schlagen sich mit Klagen herum, dass das Modell nicht mehr funktioniere. Mit dem Wachsen der Gemeinden teilen nicht mehr alle das gleiche Verantwortungsbewusstsein. Die Grosszügigkeit der einen, weckt bei anderen falsche Anreize. Institutionelle Abläufe gewinnen an Bedeutung, Fragen ökonomischer Nachhaltigkeit stellen sich. Mit dem Entstehen von Klöstern im 4. Jahrhundert werden diese zu Orten, in denen das urchristliche Modell reaktiviert wird. Späteren Ordensreformen referenzieren immer wieder auf unsern Predigttext. Martin Luther denkt demgegenüber vor allem an Hausgemeinschaften, Johannes Calvin an die Grosszügigkeit der Besitzenden, den Armen zu geben. Ihm ist indes die Abgrenzung gegenüber den Schwärmern wichtig. Gütergemeinschaft bedrohe die politische Ordnung. Seit dem 19. Jahrhundert wird die Praxis der Urgemeinde, wie sie sich in unserem Text spiegelt, von Sozialisten als Kommunismus interpretiert. Allerdings betont etwa Thomas Merton, der dies auch tut, die spirituelle Dimension dieses Kommunismus. Anders als im «unechten Kommunismus der Marxisten» spreche diese niemandem das Recht auf Besitz ab.[1]

Wie interpretieren wir nun dieses Modell der Urgemeinde heute? Aus meiner Sicht ist es ein Beispiel für die Kraft, die Menschen entfalten, welche die Verantwortung im Hier und Jetzt einmütig leben. Entscheidend ist der Ansatz, aus welchem es erfolgt. Sind wir in Christus, leben wir in dieser Verantwortung, und Gott ist mit seiner erlösenden Gegenwart mitten in uns wirksam. Die Gegenwart Gottes schützt uns vor ungerechtfertigten Ansprüchen von andern, und sie motiviert uns, danach zu suchen, wie wir einander unterstützen können, sodass Gott unter uns gegenwärtig wird. Vielleicht ist allen sofort klar, was zu tun ist. Vielleicht braucht es deutliche Worte und einen Klärungsprozess, um einen Konsens herzustellen und Einmütigkeit zu schaffen. Sicher aber entsteht die Motivation zu tun, was erlöst. Gehen wir von diesem Ansatz aus, ist das konkrete Ergebnis stets offen. In diesem Fall mag Gütergemeinschaft die Lösung sein, in jenem ist sie es gerade nicht. In diesem Fall entsteht mehr Gemeinschaft durch Teilen, in jenem ist der Respekt vor der Verschiedenheit gerade gemeinschaftsfördernd. Im Zentrum steht, situationsbezogen und unter Einbezug aller Beteiligten jene Lösung zu finden, die in der Gegenwart Gottes hilfreich ist und sich bewährt.

Die Umsetzung dieses Ansatzes kann von unterschiedlichen Gruppen auf je ihre Weise geschehen. Eine Familie oder ein Team kann**n ihn befolgen, aber auch eine Gemeinde oder ein Unternehmen. Zwischen Staaten kann er nochmals anders zur Geltung kommen. Doch eine Gemeinschaft, deren Glieder in der Verantwortung für die Gegenwart Gottes stehen, respektiert die Freiheit des andern, bemüht sich um Übereinstimmung und unterstützt sich gegenseitig gegen Gewalt und Aggression durch kriminelle, imperialistische oder diktatorische Regimes. Wie könnten wir da die Ukraine nicht unterstützen? Taiwan? Die Proteste «Frau, Leben, Freiheit» im Iran? Die Verantwortung im Hier und Jetzt, in der wir im Namen von Jesus Christus dem Nazarener stehen, ruft uns dazu auf, zu tun, was die Not lindert, heilt und erlöst. Eine solche Verantwortungsethik ist pragmatisch, ihre Motivation aber bleibt die Güte und Weisheit der Gegenwart Gottes. Beten wir also, dass wir uns dieser Verantwortung stellen und tun, was sie uns zu tun gebietet. Amen.

[1] Thomas Merton (2020, 4. Aufl.): Christliche Kontemplation. Ein radikaler Weg der Gottessuche, München, Claudius: 250f.

Predigt vom 12. Februar 2023 in Wabern
Bernhard Neuenschwander

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