Erwachen

Erwachen

Und siehe, ein Gesetzeskundiger trat auf, ihn zu versuchen, und sagte: Meister, was muss ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe? Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Wie liesest du? Darauf antwortete er und sagte: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft und mit deinem ganzen Denken“ und „deinen Nächsten wie dich selbst.“ Da sprach er zu ihm: Du hast recht geantwortet; tue das, so wirst du leben! Der aber wollte sich rechtfertigen und sagte zu Jesus: Und wer ist mein Nächster? Jesus erwiderte und sprach: Ein Mensch ging von Jerusalem nach Jericho hinab und fiel Räubern in die Hände; die zogen ihn aus und schlugen ihn und gingen davon und liessen ihn halbtot liegen. Zufällig aber ging ein Priester jene Strasse hinauf; und er sah ihn und ging vorüber. Ebenso kam auch ein Levit an den Ort, sah ihn und ging vorüber. Ein Samariter aber, der unterwegs war, kam in seine Nähe, und als er ihn sah, hatte er Erbarmen mit ihm und trat hinzu, verband seine Wunden, indem er Oel und Wein darauf goss, hob ihn auf sein Tier, brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. Und am folgenden Tage nahm er zwei Denare heraus, gab sie dem Wirt und sagte: Pflege ihn! Und was du mehr aufwenden wirst, will ich dir bezahlen, wenn ich wiederkomme. Welcher von diesen dreien, dünkt dich, sei der Nächste dessen gewesen, der den Räubern in die Hände gefallen war? Er aber sagte: Der, welcher ihm die Barmherzigkeit erwiesen hat. Da sprach Jesus zu ihm: Geh auch du hin, tue desgleichen!
Luk 10,25-37

Liebe Gemeinde Ostern: Auferstehung Christi. Befreiung aus Anhaftung und Verstrickung. Erwachen zum ewigen Leben… Wir kennen die Worte. Wir kennen die Botschaft. Wir kennen die Geschichte vom gekreuzigten Christus, der am 3. Tag seinen Jüngern begegnet ist. Und wir haben auch gehört, dass dieses Ereignis für die Menschen, die es erlebten, von grösster Bedeutung war und ihr restliches Leben nachhaltig veränderte. Aber heute? Was heisst Ostern heute? Ist Ostern heute mehr als ein freier Sonntag? Ein Fest mit Eiern und Hasen aus Schokolade für Kinder? Oder ist Ostern heute einfach noch der letzte Rest eines vorchristlichen Festes zum Frühlingsanfang? Etwas, das uns an die Zyklen der Natur erinnert, die wir heute so gerne vergessen? Zweifellos kann Ostern dies alles heute auch sein. Wer könnte schon etwas gegen ein fröhliches Kinderfest oder ein schönes Frühlingsritual haben! Doch wenn sich Ostern darin erschöpfen würde, hätte sie ihre grundlegende Kraft und Bedeutung verloren, wäre zu einer netten Harmlosigkeit geschrumpft, die wenig verändert und wenig fordert und die man nach Belieben beachten oder beiseite lassen könnte. Über solche Ostern bräuchten wir hier nicht zu sprechen, für solche Ostern bräuchten wir keine öffentliche Feier, solche Ostern könnten wir im privaten und persönlichen Bereich beachten oder auch nicht. Aber Ostern wie sie sich im christlichen Glauben ereignet, ist davon grundsätzlich verschieden.
Für den Glauben ist Ostern das Ereignis des grossen Erwachens. Des Erwachens zum ewigen Leben. Ein Ereignis also, das sich nicht mit Worten festhalten und beschreiben lässt, sondern das man nur kennt, insofern es sich am eigenen Leib ereignet. Was Erwachen ist, kann man einem Schlafenden nicht erklären. Alle noch so gut überlegten Worte erreichen ihn nicht. Ebenso wenig erschliessen alle noch so gut gemeinten Erklärungen von Ostern das eigentliche Ereignis. Gewiss: die Metapher vom Erwachen für Ostern macht das Unsagbare vertrauter. Wenn wir Ostern als Erwachen beschreiben, bekommen wir eine Vorstellung, was damit gemeint sein könnte. Denn wir wissen, was es heisst, am Morgen aus dem Schlaf aufzuwachen, und wir können uns auch eine Vorstellung davon machen, was es für die Natur heissen könnte, im Frühling nach dem Winterschlaf aufzuwachen. Die Metapher gibt uns eine Ahnung. Was aber Ostern als Ereignis ist, kann sie nicht vermitteln. Um die Metapher vom Erwachen zu verstehen, müssen wir uns auch ein Bild davon machen, was das schlafen ist, auf das sich dieses Erwachen bezieht. Das leuchtet sofort ein: Kennten wir den Schlaf der Nacht oder den Schlaf der Natur im Winter nicht, könnten wir auch das Erwachen aus diesem Schlaf nicht nachvollziehen. Aber was ist das Schlafen, für das Ostern das grosse Erwachen ist? Es geht offensichtlich um noch eine ganz andere Art von Schlafen als um das Schlafen, das wir von der Nacht oder von der Natur im Winter kennen. Um ein umfassendes Schlafen, zu dem auch all unsere Erklärungen von Ostern und all unsere Versuche, Ostern als fröhlichen Kindermorgen zu inszenieren oder als Frühlingsritual zu feiern, gehören. Um ein Schlafen, das zu erfassen sich unserem Alltagsbewusstsein entzieht. Dieses Schlafen können wir mit Worten natürlich nicht beschreiben. Das Wort Schlafen ist eben auch nur eine Metapher für etwas, das wir in Worten nicht fassen können. Aber wir können uns Fragen stellen lassen, Fragen, denen wir das Vertrauen geben, dass sie uns in richtiger Weise auf unseren Schlafzustand hin testen. Sicherheit, ob die Fragen berechtigt sind, haben wir keine. Wir können uns nur auf sie einlassen, uns mit ihnen auseinandersetzen und im besten Fall erleben, dass die Frage eine Tür ist, durch die wir gehen können, um dorthin zu gelangen, wo die Frage überflüssig, die Antwort klar und die Erfahrung unmittelbar wird. Je mehr dies geschehen ist, je mehr wir durch die Frage hindurch zur Erfahrung selbst gelangt sind, desto mehr sind wir aus dem Schlaf zum grossen Erwachen gelangt bzw. desto mehr hat sich uns im Glauben gezeigt, was Ostern ist. Eine Frage, mit der wir uns auf unseren Schlafzustand prüfen können, bietet uns unser Predigttext. Er beginnt mit der Frage des Gesetzeskundigen, was man tun müsse, um das ewige Leben zu ererben. Diese Frage entspricht unserer Frage, was man tun müsse, dass Ostern bzw. das Erwachen zum ewigen Leben geschehe. Jesus gibt die Frage dem Gesetzeskundigen zurück und fragt ihn, was das Gesetz – gemeint ist die Tora – dazu sage. Möglich ist dies, weil die eigentlichen Anweisungen, um zu einer Antwort auf diese Frage zu kommen, nicht neu erfunden werden müssen. Sie sind in den entsprechenden Texten längstens festgehalten. Man muss sie nur hören und tun, dann kann sich das grosse Erwachen zum ewigen Leben ereignen und die Erfahrung gemacht werden, die in Worten und Taten nicht gesagt werden kann.
Der Gesetzeskundige antwortet auf die Frage von Jesus mit dem doppelten Liebesgebot. Er zitiert aus Deuteronomium 6,5 das Gebot zur Gottesliebe und aus Leviticus 19,18 das Gebot zur Nächstenliebe. Das Tun der Liebe sei es also, das zum ewigen Leben führe. Jesus ist mit der Antwort voll und ganz zufrieden. Auch er könnte sagen: Wer liebt, erwacht zum ewigen Leben! Er fordert deshalb den Gesetzeskundigen dazu auf, dies zu tun. Hier könnte das Streitgespräch eigentlich aufhören. Mit der Frage, wie liebesfähig man ist, kann man bereits hinreichend testen, wie es um die eigene Schläfrigkeit bzw. das grosse österliche Erwachen steht. Um sich jedoch nicht so einfach abweisen zu lassen, erzählt das Lukasevangelium, wie der Gesetzeskunde nachhakt und wissen will, wer sein Nächster sei. Der Hinweis auf das Liebesgebot, war für ihn – und vielleicht auch für uns – in seiner Einfachheit zu anspruchsvoll, um sich damit zufrieden zu geben. Es ist halt einfach so: Manchmal ist es leichter, in komplizierte Erwägungen auszuweichen, als das Naheliegenste zu tun! Jesus steigt auf seine Frage ein und erzählt ihm das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Die Geschichte ist einfach und klar aufgebaut: Ein Mensch geht von Jerusalem nach Jericho. Es handelt sich hier um eine Distanz von 27 km mit einem bedeutenden Höhenunterschied (von 740 m ü. M. geht es auf 250 m u. M. hinunter), der Weg durchquert zu einem grossen Teil die Wüste und war bekannt dafür, unsicher zu sein. Unterwegs wird dieser Mensch von Räubern überfallen, ausgezogen, geschlagen und halbtot liegen gelassen. Erzählt wird nun, wie zufällig drei verschiedene Personen an dem Verwundeten vorbeikommen. Die ersten beiden, ein Priester und ein Levit – in der damaligen Gesellschaft wohlangesehene Funktionsträger – sehen ihn, aber gehen an ihm vorbei. Die dritte Person, ein Samariter – die Feindseligkeit der Juden gegenüber den Samaritern war allgemein bekannt – sieht den Verwundete, hat Erbarmen, verbindet ihn, transportiert ihn und bringt ihn in eine Herberge. Dort pflegt er ihn, gibt dem Wirt Geld für die weitere Pflege und kündigt ihm an, alle weiteren Aufwendungen bei der Rückreise zu bezahlen. Sein Einsatz für den Verletzten ist also ausserordentlich gross und steht in kaum zu überbietendem Kontrast gegenüber dem von Priester und Levit. Jesus fragt nun den Gesetzeskunden, welcher der drei Vorbeigekommenen der Nächste des Verwundeten gewesen sei. Im Unterschied zum Gesetzeskundigen fragt er nicht: Wer ist mein Nächster? Sondern: Wer wird dem Verletzten zum Nächsten? Für Jesus ist offenbar der Nächste nicht der, den man als Nächsten haben möchte, sondern der, dem man zum Nächsten wird. Immerhin ist der Gesetzeskundige in der Lage, unbefangen von kulturellen Animositäten festzustellen, dass es der Samariter sei, der dem Verletzten zum Nächsten geworden sei, weil dieser ihm Barmherzigkeit erwiesen habe. Das Liebesgebot, auf welches er sich bereits vorher bezogen hat, bleibt ihm also auch jetzt, zur Beantwortung dieser Frage, wegweisend. Obwohl gut geantwortet, unternimmt Jesus keine Schritte, den Gesetzeskunden als Anhänger zu gewinnen, sondern ermutigt ihn einfach dazu, genauso zu handeln. Offenbar ist genügt dies. Das Erwachen zum ewigen Leben erfordert kein Bekenntnis zur Jüngerschaft; es ereignet sich, wenn man liebt und aus Liebe tut wie der barmherzige Samariter getan hat. Was bedeutet dies nun? Welche Frage stellt uns diese Geschichte, um uns auf unseren Schlafzustand zu prüfen und uns für das Erwachen zum ewigen Leben zu vorzubereiten? Es stellt uns die Frage, ob wir bereit sind, einem andern Menschen zum Nächsten zu werden. Es stellt uns die Frage, ob wir die Offenheit haben, uns so auf einen andern Menschen einzulassen wie dies der Samariter getan hat. Es stellt uns die Frage, ob wir so frei von uns selbst sind, dass nicht wir uns selbst der Nächste sind, sondern dass ein anderer Mensch uns zum Nächsten werden kann. Solange wir diese Frage nicht wirklich bejahen können, sind wir verstrickt in uns selbst, in unsere eigene Sterblichkeit, befangen in unsere eigenen Sorgen, Ängste, Wünsche und im Schlaf dessen, der nicht zum ewigen Leben erwacht ist. In diesem Zustand können wir Fragen nach dem ewigen Leben stellen, wir können mögliche Antworten reflektieren, wir können eine Sehnsucht danach entwickeln, aber wir sind nicht in der Lage, aus dem ewigen Leben zu leben. Es bleibt uns so verborgen, wie dem Schlafenden das Erwachen am Morgen oder dem Winter das Erwachen im Frühling.
Ich bin mir gut bewusst, dass diese Frage, ob wir bereit sind, einem andern Menschen zum Nächsten zu werden, eine sehr anspruchsvolle Frage ist. Sie lässt sich ja nicht einfach damit erledigen, dass wir unsere Bedürfnisse für einen anderen Menschen zurückstellen, uns gehorsam fremden Bedürfnissen anpassen oder uns einem Andern zu Diensten stellen. Tun wir dies, können wir möglicherweise einem andern Menschen durchaus nützlich sein, aber wir werden ihm deswegen noch lange nicht zum Nächsten wie es der Samariter geworden ist. Denn wir sind nicht als wir selbst bereit dem Andern zum Nächsten zu werden. Einem andern Menschen zum Nächsten werden, setzt immer voraus, dass wir gleichsam durch uns selbst hindurch gehen und dem Andern zum Nächsten werden können. Erst wenn wir dies tun, erst wenn wir den Schmerz des offenen Herzens kennen, erst wenn wir die Furcht der Hingabe kennen, erst dann werden wir zum Samariter, zum Liebenden, der als Liebender – und nicht als pflichtbewusster oder angstgetriebener oder einfach strategisch denkender Mensch, sondern wirklich als Liebender – dem andern Menschen näher kommt als sich selbst. Sei dies nun ein unbekannter Mensch oder sei dies ein Familienangehöriger – manchmal sind uns ja diejenigen, uns am Nächsten stehen, am weitesten weg… Versteht man das Gleichnis des barmherzigen Samariters in dieser Weise, ist es weit davon entfernt, eine moralische Normgeschichte zu sein. Vielmehr atmet es dann die Freiheit einer beispielhaften Erzählung vom Erwachen zum ewigen Leben, vom Osterereignis, wie es hier und heute geschehen kann. Es zeigt uns nämlich, was es heisst, von sich selbst befreit zu sein, die grosse Weite des offenen Herzens zu spüren und aus freien Stücken einem andern Menschen zum Nächsten werden zu können. Engagiert man sich aus diesem Erwachen, aus dieser Erfahrung des ewigen Lebens für einen anderen Menschen, geschieht Ostern für diesen und für sich selbst; denn es macht das Wunder einer Menschwerdung sichtbar, die mit und zugleich ohne sich zum Andern und durch den Andern zu sich selbst kommen kann; die dazu befreit ist, einem Andern zum Nächsten zu werden und den Andern sich selbst am Nächsten kommen zu lassen. Beten wir deshalb, dass wir befreit von uns selbst frei zu der Liebe werden, durch die uns der Andere zum Nächsten wird, auf dass es auf dieser Erde Ostern werde. Amen.

Osterpredigt vom 4. April 2007 in Wabern
Bernhard Neuenschwander

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