Die Hoffnung

Die Hoffnung

Seht, welche Liebe uns der Vater gegeben hat, dass wir Kinder Gottes heissen und wir sind es. Darum erkennt die Welt uns nicht, weil sie ihn nicht erkannt hat. Ihr Lieben, jetzt sind wir Kinder Gottes, und es ist noch nicht zutage getreten, was wir sein werden. Wir wissen aber, dass wir, wenn es zutage tritt, ihm gleich sein werden, denn wir werden ihn sehen, wie er ist. Und jeder, der solche Hoffnung auf ihn setzt, heiligt sich selbst, so wie jener heilig ist.
1Joh 3,1-3

Liebe Gemeinde
Es ist nicht immer einfach, im Glauben zu bleiben. Es gibt Zeiten des Zweifels, der Angst und des Zorns, und es gibt Zeiten, in denen man meinen könnte, der Glaube sei nichts als eine Illusion, ein billiger Trost, nichts als Opium fürs Volk und alle, welche den Rausch brauchen, um zu leben. Man kann die Zeitungen lesen, man kann selber in Konflikte und Auseinandersetzungen involviert sein, man kann zusehen, wie sich Viren epidemieartig ausbreiten und ihre Ausbreitung nicht gestoppt werden kann, man kann aber auch einfach an der Last des Alltags schwer zu tragen haben, um auf die Frage zu kommen, wo Gott gegenwärtig ist und wo jene Kraft des Unbedingten zu finden ist, die ermöglicht, sich nicht zu verlieren, sondern standhaft, aufrecht und klar zu bleiben. Solche Fragen sind menschlich und normal, und solche Fragen stellen sich im Laufe eines Lebens immer wieder. Die Adventszeit bietet uns dazu eine besondere Gelegenheit. Denn in der Adventszeit besinnen wir uns auf das Warten, das Noch-nicht-Haben der Erlösung, auf die Verstrickung und Unfreiheit, in welcher sich unser Leben auf dieser Welt abspielt, aber in der Adventszeit besinnen wir uns ebenso auf das Kommen der Erlösung, den Keim der Hoffnung und Freiheit, der in unserem Leben steckt, der in uns erwachen, geboren werden und der in uns zutage kommen will. Unser Predigttext zeigt uns den Weg, wie wir dies tun können. Folgen wir ihm also, auf dass es auch in uns Advent wird!
Es ist ein Text der johanneischen Gemeinde. Er zeigt uns, was aus dem typisch johanneischen Glauben, von dem das Johannesevangelium erzählte, etwa ein halbes Jahrhundert später geworden ist. Das Johannesevangelium hatte immer wieder verheissen, dass die Glaubenden aufgrund des Abschieds Jesu zu dessen Nachfolgern werden, dass in ihnen derselbe Geist der Unbedingtheit, der in Jesus war, erwachen würde und dass sie die Gegenwart derselben unmittelbaren Freiheit Gottes wie Jesus realisieren würden. Im ersten Johannesbrief wird nun dargestellt, was dies heisst. Dabei wird den veränderten zeitgeschichtlichen Umständen Rechnung getragen. Unser Predigttext gibt uns dafür ein eindrückliches Beispiel.
Leitvokabel ist die Gotteskindschaft. So wie Jesus als Sohn Gottes vorgestellt worden ist, so werden nun die Glaubenden als Kinder Gottes bezeichnet. Seht, welche Liebe uns der Vater gegeben hat, dass wir Kinder Gottes heissen und wir sind es. Wenn hier Gott lediglich als Vater und nicht auch als Mutter bezeichnet wird, so ist dies als Ausdruck der damaligen patriarchalen Verhältnisse zu lesen, nicht aber wörtlich zu nehmen. Die Vokabeln „Vater“ und „Kind“ sind Metaphern. Sie rufen die Erfahrung von Verwandtschaft ab, wie sie zwischen Eltern und ihren Kindern besteht, und sie versuchen damit das Verhältnis zwischen Gott und den Glaubenden zu illustrieren.
Wegweisend ist dabei, dass die Kinder zwar gegenüber den Eltern selbständig sind, dass in ihnen aber der „elterliche Same“ steckt. Nur wenige Verse später spricht der erste Johannesbrief nämlich davon, dass in jedem, der aus Gott gezeugt ist, der Same Gottes bleibt (V9). Dies veranschaulicht zum einen, weshalb vom Vater die Rede ist; denn der väterliche Same ist bei der Zeugung offensichtlicher vorhanden als das mütterliche Ei. Es zeigt zum andern aber auch, dass im Zeugenden und im Gezeugten – obwohl sie nicht das Gleiche sind – trotzdem dasselbe vorhanden ist. Auch wenn Gott und die Glaubenden überhaupt nicht das Gleiche sind, so steckt in ihnen doch dasselbe.
Was dies ist, wird in unserem Text mit dem Wort Liebe angedeutet. Die Formel von der „Liebe des Vaters“ illustriert, dass die Gegenwart der unbedingten Freiheit Gottes gütig ist, dass sie als Liebe erlebt wird, dass in den Glaubenden der Keim der bedingungslosen Liebe eingepflanzt ist. Übersetzt in die Sprache der Religionsphilosophie ist dies ein Ausdruck dafür, dass in den Glaubenden, im Moment ihres Glaubens die Liebe derselben unbedingten Freiheit Gottes gegenwärtig ist, die Gott ist, dass dies aber in ihrer individuellen, geschichtlich bedingten Gestalt geschieht, die nicht das Gleiche ist wie Gott, sie aber als Liebende zu dessen Kindern macht.
Dass dies etwas ist, das in der Welt verborgen ist, zeigt der folgende Satz. Darum erkennt die Welt uns nicht, weil sie ihn nicht erkannt hat. Bereits Jesus, der Prototyp der Inkarnation der unbedingten, göttlichen Liebe, ist von der Welt nicht erkannt worden. Das Johannesevangelium hat dies schon im Prolog festgehalten (Joh 1,10). Seine Nachfolger können deshalb nicht damit rechnen, dass es ihnen anders ergehen wird. Das Unbedingte wird vom Bedingten nicht erkannt. Es wird entweder im Erwachen der Unbedingtheit durch sich selbst realisiert und als Geheimnis offenbar oder es bleibt auch als Geheimnis verborgen. Was mit bedingten Kategorien erkennt, also das, was hier mit die Welt gemeint ist, kann das Unbedingte nicht erkennen. Offenbar gelingt der Welt der Sprung ins Unbedingte nicht, ihr ist das Geheimnis verschlossen. Dass dies so ist, bleibt das schwierigste und anstössigste Element des Glaubens. Denn darin steckt die rätselhafte Frage, weshalb einige zum Glauben erwachen und andere nicht.
Der erste Johannesbrief weiss um diese Schwierigkeit, aber auch er kann sie nicht auflösen. Er begnügt sich stattdessen mit der Verheissung, dass der Same, der die Glaubenden zu Kindern Gottes macht, zu einem späteren Zeitpunkt vor aller Augen sichtbar sein wird. Ihr Lieben, jetzt sind wir Kinder Gottes, und es ist noch nicht zutage getreten, was wir sein werden. Wir wissen aber, dass wir, wenn es zutage tritt, ihm gleich sein werden, denn wir werden ihn sehen, wie er ist. Jetzt liegt der Same gleichsam in der Erde verborgen, was in ihm steckt, ist noch nicht an die Oberfläche gekommen. Es wird jedoch der Moment kommen, in welchem genau dies geschehen wird. Dann wird auch klar werden, dass es derselbe Same ist, der in Jesus Christus und in den Glaubenden steckt, weil dann die unbedingte Freiheit Gottes so offensichtlich gegenwärtig sein wird, dass sie von allen erkannt werden wird und nicht mehr übersehen werden kann. Wann dies sein wird und weshalb dies erst zu einem späteren Zeitpunkt geschieht, wird nicht gesagt. Es bleibt ein Ereignis, das im Glaubenden zwar jeden Moment gegenwärtig ist, von der Welt aber nicht zu fassen und zu erkennen ist.

Für die Glaubenden bildet dieses Ereignis die Quelle, aus der sie ihr Leben leben. Und jeder, der solche Hoffnung auf ihn setzt, heiligt sich selbst, so wie jener heilig ist. Die Heiligung ist das Tun des Glaubenden. Die folgenden Verse zeigen, was damit gemeint ist: Die Heiligung geschieht, indem sich die Glaubenden nicht in die Sünde verstricken (V4ff) und stattdessen einander lieben (V11). Bleiben sie in der Gegenwart der unbedingten Freiheit Gottes, besinnen sie sich auf den Samen, der sie zu Glaubenden macht, setzen ihre Hoffnung in ihn, verlieren sich nicht in die vielen Geschichten ihres täglichen Lebens, sondern bleiben aufrecht und klar in der Liebe. Dabei gilt die Maxime, dass sie bloss werden sollen, was sie schon sind: Sie sollen nichts als ihrer Gotteskindschaft wahrnehmen und gestalten. Und sie sollen dies auch tun, wenn die Wirklichkeit, die sie realisiert haben, von der Welt noch nicht erkannt worden ist, wenn sie das, was sie erkannt haben, erst im Glauben realisieren, wenn sie trotz ihrer Erkenntnis, ihr Leben nirgendwo anders als in der Welt leben. Der Same Gottes, der die Glaubenden zu Kindern Gottes macht, ist die Ewigkeit, die sie in der Zeitlichkeit zur Geltung bringen, die Erlösung, die sie im Leiden einer sündhaften Welt realisieren, die Hoffnung, die sie im entfesselten Weltendrama aufrecht erhalten sollen.
Genau diese Hoffnung, die uns der erste Johannesbrief zu bedenken gibt, ist die Hoffnung, auf die wir uns im Advent besinnen. Es ist die Hoffnung auf jenen Keim, der zwar verborgen, aber in uns gelegt ist, der zwar mit den Sinnen nicht wahrgenommen werden kann, aber für alle erkennbar werden wird, der zwar am Wachsen ist, aber erst noch geboren werden muss. Diese Hoffnung bekommt an Weihnachten im Bild vom Kind in der Krippe eine Gestalt, und sie erhält in jedem Menschen, der sie lebt, in jedem Moment, in welchem er sie lebt, eine Gestalt. Doch auch wenn dies für den Glaubenden so der Fall ist, so bleibt es für die Welt unerkennbar. Das Geheimnis, das sich an Weihnachten offenbaren wird, ist ein Schatz, der für die Welt noch vergraben, eine Pflanze, die für sie noch nicht sichtbar geworden, eine Sonne, die für sie noch nicht aufgegangen ist. Was den Glaubenden bleibt, ist das Vertrauen in jenen Samen, die Verankerung in jener Liebe, das Schöpfen aus jener Hoffnung, die sich nicht durch die weltlichen Umstände beirren lässt, sondern unmittelbar aus sich selbst geschieht. Jeden Moment. Hier und jetzt.
Wer dies mit kritischen Ohren hört, kann vielleicht einwenden, dass hier mit vielen Worten eine Realität beschworen wird, die es so nicht gibt und die auch dadurch, dass sie herbeigeredet wird, nicht realer wird. Man mag anerkennen, dass mit diesen Worten die Welt verzaubert wird wie mit Adventslichtern, Adventsgeschichten und Adventsdüften, und man mag zugestehen, dass all dies dem Herzen gut tun und die Sinne erfreuen kann. Aber vielleicht wird man dennoch darauf hinweisen, dass die Welt dadurch keine andere wird, dass es eine Illusion ist, dies zu meinen, ein Zauber, der das Leiden in der Welt verschleiert, ein Rausch, der gegenüber der vorhandene Not betäubt. Ist dieses religiöse Gerede also bloss ein Wortspiel, das mehr oder weniger gefällt, aber jeder Referenz im wirklichen Leben entbehrt?
Diese Frage lässt sich mit rationalen Argumenten nicht beantworten. Es braucht das grosse Erwachen im Herzen, um sich nicht an den Sprachspielen des Advents festhalten zu müssen. Wenn das Herz erwacht, realisiert man in sich selbst die Hoffnung, die in diesen Sprachspielen steckt, den Punkt, auf den sie sich beziehen, die Realität, die sie bezeugen. Dieses Ereignis lässt sich nicht mit dem Willen provozieren, es geschieht mitten in uns, mitten in unserem Leib, mitten in unserem Denken. Bedingungslos. Ziellos. Ohne Warum. Ohne Zweck. Es ist da, bevor wir da sind. Es wirkt, bevor wir etwas tun. Es weckt uns, bevor wir erwacht sind. Durch seine Kraft geht uns das Herz auf, schöpft Hoffnung, und wir freuen uns, dass der Same der Erlösung gesät ist, dass Licht in der Dunkelheit scheint, dass Unschuld in der Schuld bewahrt und Erlösung im Leid geborgen ist. Dieses Ereignis können wir weder begründen noch erklären, es ist eine Gewissheit, die sich durch nichts erschüttern, durch keine Zweifel in Frage stellen und durch keine Angst beseitigen lässt: Es ist unsere Gegenwart, die Gegenwart der unbedingten Freiheit Gottes, die Gegenwart, die wir nicht selber machen, aber in unserem Herzen dankbar wahrnehmen und gestalten können. Genau in dieser Gegenwart realisieren wir, was Advent ist: dass Gott kommt, dass Gott geboren wird, dass Gott in uns zur Welt kommt. Und genau in dieser Gegenwart freuen wir uns wie Kinder über die Adventsgeschichten mit all ihren Lichtern, Liedern, Düften und all ihrem Zauber. Beten wir deshalb, dass unsere Hoffnung erwacht, dass wir den Samen Gottes in unserem Herzen entdecken und dass wir die Kinder Gottes werden, die wir sind. Amen.

Predigt vom 16. Dezember 2012 in Wabern
Bernhard Neuenschwander
Download PDF