Die Erlösung II

Die Erlösung II

Ihr Lieben, schenkt nicht jedem Geist Glauben, sondern prüft die Geister, ob sie aus Gott sind. Denn viele falsche Propheten sind hinausgegangenen in die Welt. Daran erkennt ihr den Geist Gottes: Jeder Geist, der sich zu Jesus Christus bekennt, der im Fleisch gekommen ist, ist aus Gott; und jeder Geist, der sich nicht zu Jesus bekennt, ist nicht aus Gott. Und das ist der Geist des Antichrists, von dem ihr gehört habt, dass er kommt. Der ist jetzt schon in der Welt.
1Joh 4,1-3

Liebe Gemeinde
Menschen sind empfindsam und verletzlich. Sie sind keine geschlossenen Monaden, sondern sie sind auf Beziehung, Austausch und Resonanz angelegt. Und zwar mit sich selbst, ihrer Umwelt und ihrer Geschichte. Jeder Atemzug macht dies deutlich, jeder Blickkontakt, jede Erinnerung und jede Hoffnung. Dabei umfasst diese Bezogenheit die körperliche Ebene ebenso wie die emotionale und kognitive. Jeder dieser Bereiche steht in Ko-Respondenz, und jeder dieser Bereiche kann differenzierter oder konfluenter, empathischer oder gewaltsamer, besser oder schlechter ko-respondieren. Gelingt diese Ko-Respondenz nimmt die Zufriedenheit zu, misslingt sie, entstehen Frustrationen, Schmerzen und Leiden.
Gewiss, die Ko-Responenzfähigkeit kann geübt, entwickelt und kultiviert werden. Doch ist genau dies keine Selbstverständlichkeit. Man kann in seine Programme und Gewohnheiten verstrickt bleiben, man kann in seiner Verstockheit verharren und sich weigern, sich auf die aktuelle Situation einzulassen, und man kann verbissen um sich selbst drehen und keinen Bezug zu dem, was ist und werden will, aufnehmen. Die Folge ist, dass man die eigen Unfähigkeit und Schwäche ausagiert, dass man die eigene Unzufriedenheit weitergibt, dass man also leidet und Leiden verursacht. Leider ist genau dies nichts Ungewöhnliches und unter Menschen keine Seltenheit. Beispiele, die davon berichten, gibt es im Kleinen und Grossen zuhauf, und Geschichten, die von unreifen, kleinlichen und unerlösten Ichs geschrieben sind, vernehmen wir täglich. Die Passionszeit gibt uns Gelegenheit, darüber nachzudenken und uns darauf zu besinnen, wie wir mit dem eigenen und fremden Ungenügen klar kommen. Unser Predigttext weist uns dazu den Weg.
Es ist ein Text, der ein ganz bestimmtes Problem angeht, das in der johanneischen Gemeine vorhanden ist: das Problem, dass neben dem Glauben, der vom Geist Gottes geleitet ist, ein Irrglauben herumgeistert, der vom Geist des Antichrists getrieben ist. Zwar hat sich der 1. Johannesbrief mit diesem Thema schon früher auseinandergesetzt (1Joh 2,18-27). Nachdrücklich hat er erklärt, dass zwar viele Antichristen aufgetreten sind, die aus ihrer Mitte hervorgegangen sind, sich aber von der Gemeinde distanziert haben (V18f), dass die Glaubenden jedoch ein Salböl empfangen haben, den heiligen Geist, ein Salböl, das sie zu Wissenden macht, so dass sie sich von niemandem belehren lassen müssen, weil dieses Salböl in ihnen bleibt und sie die Wahrheit kennen (V20f.27). Die Gefahr, von Irrlehrern verwirrt zu werden, hat der Brief also thematisiert, und er hat auch deutlich gemacht, was das Gegenmittel gegen diese Verwirrung ist: dass die Glaubenden im heiligen Geist, der in ihnen gegenwärtig ist, bleiben, dass sie sich an die Kraft, die in ihnen erwacht ist, halten und dass sie sich nicht durch Irrlehrer, die zwar von ihnen ausgegangen sind, nun aber von aussen auf sie einwirken, durcheinander bringen lassen. Die Botschaft, im Glauben an die Gegenwart des heiligen Geistes in der eigenen Mitte zu bleiben und sich nicht durch äussere Beeinflussung beirren zu lassen, hat der Brief also bereits klar vertreten. Dass er sie dennoch noch einmal aufgreift, weist darauf hin, dass das Problem in der Gemeinde akut ist und der Beachtung bedarf.
In dieser Situation spricht unser Predigttext die johanneische Gemeinde liebevoll an und fordert sie zu einer stabilen und kritischen Verankerung im Glauben auf. Ihr Lieben, schenkt nicht jedem Geist Glauben, sondern prüft die Geister, ob sie aus Gott sind. Im Zentrum steht hier nicht die Aufforderung, zwischen guten und bösen Geistern zu unterscheiden. Paulus könnte im Zusammenhang mit den korinthischen Pneumatikern diese Unterscheidung im Blick haben (vgl. 1Kor 12,3; Thess 5,21). Der 1. Johannesbrief hat einen andern Fokus. Ihm geht es darum, dazu zu ermutigen, im eigenen Glauben zu bleiben und ihn nicht gegen aussen zu verdrehen. Der anschliessende Satz begründet, weshalb dies geboten ist. Denn viele falsche Propheten sind hinausgegangenen in die Welt. Der Grund, weshalb man seinen Glauben auf seine Mitte und nicht nach aussen richten soll, besteht also daran, dass man sich mit seiner Öffnung nach aussen den vielen falschen Profeten aussetzt, die in die Welt hinausgegangen sind. Dabei steht nicht der Glaube an Profeten, die in der Welt begegnen, im Zentrum, sondern der Glaube, der in der unbedingten Gegenwart Gottes erwacht und dieses Erwachen jeden Moment des Lebens realisiert.
Diese Ausrichtung auf die Gegenwart Gottes im eigenen Leben zeigt, woran man den Geist Gottes erkennt. Daran erkennt ihr den Geist Gottes: Jeder Geist, der sich zu Jesus Christus bekennt, der im Fleisch gekommen ist, ist aus Gott; und jeder Geist, der sich nicht zu Jesus bekennt, ist nicht aus Gott. Das Kriterium, an welchem man den Geist Gottes erkennt, zeigt sich also daran, wie man Jesus Christus bekennt. Betrachtet man ihn als fiktive Gestalt, die einen mehr oder weniger überzeugenden Mythos illustriert, aber keine Existenz im Fleisch hat, erkennt man den Geist Gottes nicht. Erst wenn man erkennt, dass Gott in Jesus Christus Fleisch geworden ist und dass er im Fleisch gegenwärtig ist, hat man seine unbedingte Gegenwart realisiert. Dieselbe Erkenntnis, die bereits das Johannesevangelium festgehalten hat (Joh 1,14a; 6,53), wird hier also vom 1. Johannesbrief gegenüber den Pseudoprofeten ins Feld geführt.
Was genau die Lehre der falschen Profeten ist, wird nicht klar. Klar ist freilich, dass sie einen mehr oder weniger gnostisierenden Dualismus von Fleisch und Geist vertreten. Dazu gehört, dass Fleisch und Geist gesonderte Bereiche markieren, die voneinander getrennt sind. Der Bereich des Fleisches umfasst alles Körperliche, Unvollkommene, Vergängliche mithin Leidvolle, der Bereich des Geistes alles Intelligible, Ideale, Unzeitliche mithin Leidlose. Man kann sich leicht vorstellen, dass sich die Profeten, die diese Weltsicht vertreten haben, dazu berufen fühlen, für den Bereich des Geistes zu kämpfen, zu missionieren, andere über diese Wahrheit zu belehren und sie ihnen zu erklären. Für sie wird Jesus Christus eine Art mythische Figur sein, die den Bereich des Geistes und dessen Kampf mit dem Bereich des Fleisches in dramatischer Form zur Geltung bringt und dadurch aufzeigt, dass der Geist den Kampf gegen das Fleisch gewinnt. Ob und inwiefern er aber ein realer, historischer Mensch ist, der wie jeder Mensch Stärken und Schwächen hat sowie
Freuden und Leiden empfindet, wird für sie unerheblich sein. Für sie dürfte nur entscheidend sein, dass er die Hauptfigur eines Erlösermythos ist, der den Bereich des Geistes illustriert und demjenigen, der sich an ihm orientiert, den Weg zur Erlösung weist.
Der 1. Johannesbrief stellt sich mit aller Kraft gegen eine solche Sicht von Jesus Christus. Er macht sich stark für einen Glauben, der Gott im geschichtlichen Menschen Jesus Christus erkennt, der den heiligen Geist im Fleisch findet und die unbedingte Gegenwart Gottes in der bedingten Wirklichkeit von Welt und Geschichte realisiert. Für ihn gibt es keinen Bereich des Geistes, den man dem Bereich des Fleisches gegenüberstellen kann. Vielmehr versteht der den Geist als unbedingte Gegenwart in der Bedingtheit, und er betrachtet alles, was sich denken und erfassen, beschreiben und sagen lässt – und sei dies ein noch so zeitloses Ideal, ein noch so hoher Wert oder ein noch so abstraktes Bild von einer leidlosen Ewigkeit – als ein Phänomen, das durch all jene, die dieses vertreten, bedingt ist und deshalb dem Bereich des Fleisches zugehört. Der 1. Johannesbrief ist hingegen davon überzeugt, dass der Glaube an den heiligen Geist im Fleisch erwacht, dass er nicht von aussen gelehrt und vermittelt werden kann und dass er jeden Moment in der unvollkommenen Welt und der vergänglichen Geschichte realisiert werden will.
Es ist offensichtlich, dass der Glaube, für den der 1. Johannesbrief einsteht, vom Glauben, den die falschen Profeten vertreten, ganz verschieden ist. Für ersteren ist der Glaube ein Ereignis von Gottes Liebe, das keine Trennung zwischen Fleisch und Geist schafft, für letztere jedoch eine menschliche Erkenntnis von einem Geist, der vom Fleisch getrennt ist. Da jedoch für beide wichtig ist, überhaupt zwischen Fleisch und Geist zu unterscheiden, scheinen sie sich auf den ersten Blick zu gleichen. Umso deutlicher sieht sich der 1. Johannesbrief deshalb am Schluss unseres Predigttextes dazu gezwungen, den antichristlichen Geist der falschen Profeten klar heraus zu heben. Und das ist der Geist des Antichrists, von dem ihr gehört habt, dass er kommt. Der ist jetzt schon in der Welt. Bereits früher hat der 1. Johannesbrief darauf hingewiesen, dass auch der Antichrist nicht eine mythische Figur ist, sondern dass Antichristen schlicht und einfach die Gestalt von Irrlehrern haben (1Joh 2,18). Hier nun wird wenigstens dies klar: Indem sie den Bereich des Geistes vom Bereich des Fleisches trennen, sind sie vom antichristlichen Geist geleitet; indem sie die dualistische Trennung von Fleisch und Geist lehren und für den Bereich des Geistes gegen den Bereich des Fleisches kämpfen, sind sie von jenem widerchristlichen Geist getrieben, der nicht im Glauben verankert ist, sondern Verwirrung schafft und in die Irre führt. Die Botschaft des 1. Johannesbriefes ist hier völlig klar und eindeutig.
Für uns heute ist es nicht selbstverständlich, diese Botschaft ebenso klar und eindeutig nachzuvollziehen. Immerhin hat die Position derjenigen, die vom 1. Johannesbrief als falsche Profeten bekämpft werden, im Abendland Karriere gemacht. Der Dualismus von Geist und Materie hat sich in unserer Kultur in vielen Varianten eingenistet und wird oft gar nicht mehr als solcher erkannt. Wer würde nicht Themen wie Gott, Glaube, Religion, Liebe, Denken, Sprache usw. dem Bereich des Geistes zuordnen und dem Bereich der Materie gegenüberstellen? Umso mehr weckt die Position des 1. Johannesbriefs in modernen Ohren skeptische Rückfragen. Ist denn der heilige Geist tatsächlich in dieser Welt und dieser Geschichte, wie wir sie kennen, gegenwärtig? Also auch in der Sünde, im Unrecht und Unfrieden, in der Gewalt und dem Leiden? Und welchen Sinn macht es, so von Gott zu reden?
Diese kritischen Rückfragen sind zweifellos verständlich. Sie zeigen, wie stark wir von Überzeugungen, Werten und Normen geleitet sind, die einem Weltbild im Geiste Platons verpflichtet sind und sich nicht dem christlichen Glauben verdanken. Umso intensiver müssen wir also über den Glauben nachdenken.
Der 1. Johannesbrief gibt uns zu bedenken, dass der Geist nicht der Materie gegenübersteht, sondern in ihr geschieht. Er entlarvt einen Glauben, der an etwas glaubt, das von der Materie getrennt ist, als Scheinglaube. Wer also den Glauben als Traum missbraucht, um dem Körper zu entfliehen, als Druckmittel, um den Körper zu disziplinieren, wer seine Idealvorstellungen von Gerechtigkeit und Frieden usw. dem realen Leben aufzwingt, wer sich aus Glaubensgründen über demokratische Beschlüsse hinwegsetzt, wer wie ein Jihadist mit Gewalt für seine Ideale und seine Ideologie und gegen die Welt kämpft, ist vom widerchristlichen Geist getrieben.
Der Glaubende, der sich vom heiligen Geist leiten lässt, nimmt stattdessen in Freiheit und Verantwortung die Welt und ihre Herrschaftssysteme, bedingungslos wie sie sind, unterzieht sich ihren Gesetzen und Geboten und sucht auf dieser Grundlage, was sich verändern und optimieren lässt. Kritik und Widerstand sind damit nicht ausgeschlossen, sondern durchaus gewollt. Aber sie unterziehen sich den geltenden Spielregeln und anerkennen, wenn sie diese übertreten, ihre Schuld. Das Beispiel von Dietrich Bonhoeffer zeigt, was dies heissen kann: Er bekannte sich zum Widerstand gegen das Naziregime, und er war auch bereit, seine Schuld gegenüber dem geltenden Gesetz anzuerkennen. Für ihn war dies nicht eine Entscheidung zwischen Gut und Böse bzw. Geist und Fleisch, sondern eine für das kleinere Übel bzw. das weniger Schlechte im Fleisch. Für den Glaubenden bleibt unter jedem aktuell gültigen „Regime der Wahrheit“ stets jener Geist leitend, der mitten im Glaubenden, mitten in den schwierigen Verhältnissen, mitten in der sündhaften Welt frei und klar ist, der ihm seine Verantwortung nie abnimmt, sondern ihn dazu auffordert, diese auf seinem Weg in der bedingten Welt wahrzunehmen und zu gestalten. Der heilige Geist ist zwar die unbedingte Gegenwart Gottes, seine Realisation aber ist ein Akt der Selbstverantwortung des Glaubenden in der bedingten Wirklichkeit.
Es ist nicht selbstverständlich, den Geist Gottes in der Sünde, im Verkehrten und Verstrickten, in Ungerechtigkeiten und Gewalt, in Gegnern und Feinden zu erkennen. Die Versuchung, dem alten Dualismus von Geist und Materie zu verfallen und einen Bereich des Guten von einem Bereich des Bösen zu trennen, ist rasch zur Stelle. Wenn man sich als Opfer widriger Umstände fühlt, erst recht.
Unser Predigttext ermutigt uns demgegenüber, nicht diesen Weg zu wählen, sondern sein Herz im Glauben zu öffnen, in den Abgrund der Demut zu steigen und die Gegenwart der unbedingten Freiheit Gottes im Hier und Jetzt zu realisieren, wie auch immer sich dieses präsentiert. Ein solcher Glaube ist radikal. Er geht zu den Wurzeln unseres Menschseins, und er geht zu den Wurzeln unserer Erlösung. Wenn dieser Glaube erwacht, erwacht eine Klarheit im Umgang mit den eigenen und fremden Unzulänglichkeiten, eine Güte, die wahrnimmt und akzeptiert, was ist, und zugleich die Motivation behält, das Beste daraus zu machen.
Die aktuelle Passionszeit ist eine gute Gelegenheit darüber nachzudenken, den Dualismus zwischen Sünde und Erlösung zu überschreiten und diejenige Erlösung zu finden, die sich mitten in der Sünde ereignet. Beten wir deshalb, dass Gott unser Herz öffnet und wir frei werden, unsere Erlösung im Leiden zu realisieren. Amen.

Predigt vom 17. März 2013 in Wabern
Bernhard Neuenschwander
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