Wort der Stille

Wort der Stille

Die Vertriebenen nun zogen umher und verkündigten das Evangelium. Philippus ging hinab in die Hauptstadt Samarias und verkündigte den Leuten dort den Christus. Und sie kamen in Scharen und folgten aufmerksam den Ausführungen des Philippus; und sie stimmten ihm zu, als sie seine Worte hörten und die Zeichen sahen, die er tat. Viele hatten unreine Geister, die laut brüllend ausfuhren, viele waren verkrüppelt oder gelähmt und wurden geheilt. Und es kehrte grosse Freude ein in jener Stadt. Ein Mann aber mit Namen Simon war zuvor in der Stadt als Magier aufgetreten und hatte die Bevölkerung von Samaria in Bann geschlagen mit der Behauptung, er sei etwas ganz Grosses, und alle, Gross und Klein, hingen ihm an und sagten: Dieser Mann ist die Kraft Gottes, die man ‚die Grosse‘ nennt. Sie hingen ihm an, weil sie lange Zeit gebannt waren von seinen Künsten. Als sie nun Philippus Glauben schenkten, der das Evangelium verkündigte vom Reich Gottes und vom Namen Jesu Christi, liessen sie sich taufen, Männer und Frauen. Auch Simon selbst kam zum Glauben; er liess sich taufen und hielt sich fortan an Philippus; und er war fassungslos angesichts der grossen Zeichen und Wunder, die da geschahen. Apg 8,4-13

Die Gegenwart Gottes ist die Erlösung mitten im Unerlösten. Ohne Aufwand, ohne Anstrengung ist sie da, bedingungslos, still, jeden Moment, überall. Sie nährt die Seele, stärkt den Geist und heilt den Körper. In ihr zu leben, tut gut, für sie einzustehen, ist ein Segen. Denn ständig ist sie konfrontiert mit der Geschichte, in welcher sie steht. Alte Verletzungen treiben ihr Unwesen, Unvollständiges sorgt für Verwirrung, Zeitliches sucht seine Verewigung und Blitze schlagen ungeplant ein. Für Leid und Not ist gesorgt, und ihr Ende ist nicht in Sicht. Die Gegenwart Gottes ist deshalb gefordert. Sie soll auch unter Belastungen lauter und klar bleiben, was sie ist, sie soll mitten in den Bedingungen dieser unerlösten Zeit ihre erlösende Unbedingtheit aufrichten. Doch wie soll das gelingen?

Die westlichen Gesellschaften sind weich und fluid geworden. Die Grenzen zwischen natürlichen Gegebenheiten und kulturellen Konstruktionen lösen sich auf. Die Unterscheidung von analogen und digitalen, realen und fiktiven, wahren und gefakten Wirklichkeiten verschwimmt. Virtuelle Welten schaffen ein Metaversum ungeahnter Möglichkeiten. Gross ist der Wunsch, sich zu optimieren und mit synthetischen Substanzen emotional zu designen. Die Subjektivität ist grenzenlos, und die Notwenigkeit, sich festzulegen, minimal. Entsprechend kurz ist die Halbwertszeit der Verbindlichkeiten, umso dringender indes das Bedürfnis, alle Optionen offen zu halten und spontan zu entscheiden. Der Moment ist wichtig, um agil im Fluiden zu navigieren und das Gefühl von Selbstbestimmtheit zu haben. Doch die Gegenwart hat keinen Wert in sich, ist nicht die Tür zur Erlösung und nicht der Anker, der Orientierung schafft. Der Moment ist vielmehr selber fluid geworden. Ich fliesse in seinem Rauschen, ohne zu wissen, wie mir geschieht.

So im Fluss zu sein, kann befreiend und attraktiv sein. Wie könnte ich etwas anderes wollen? Umso erschreckender ist dann allerdings die Konfrontation mit harten Fakten. Es gibt autoritäre Regimes, Gewalt und Krieg auf dieser Welt. Die Ukraine ist Teil von Europa, von hier nur wenige Flugstunden entfernt. Es gibt Menschen, die ihr Zuhause unter schrecklichen Umständen verlieren und zur Flucht gezwungen sind. Es gibt Hunger und Armut, es gibt Krankheiten und Schmerzen, es gibt Verzweiflung und Tod. Die Biologie eines Menschen verändert sich nur langsam, und sein Gehirn ist dem eines Steinzeitmenschen immer noch sehr ähnlich. Auch wenn sich manches in beschleunigtem Tempo ändert und diese Welt immer rascher eine andere wird, so bleiben grundlegende Strukturen davon erstaunlich unbehelligt und konstant. Diese Fakten kann ich ignorieren, beseitigen kann ich sie nicht. Ich bin zerrissen zwischen einer postmodernen, weichen, fluiden und einer alten, harten Wirklichkeit samt ihren ehernen Gesetzen des menschlichen Daseins.

Die Gegenwart Gottes steht mitten zwischen diesen beiden Wirklichkeiten. Sie gibt der Spontaneität der fluiden Welt Tiefe und der Härte der objektiv vorhandenen Welt Liebe. Bin ich in der Gegenwart Gottes, erwache ich aus dem Schlaf des fluiden Rauschens, seinen Illusionen und Idealen und stelle mich den harten Gegebenheiten meiner Welt. Doch die Gegenwart Gottes bringt mich auch in den Fluss der Zeit, zeigt mir ihre Güte und Weisheit und befreit mich dazu, mich lauter und klar in der Komplexität der Wirklichkeit zu bewegen. Der Weg in die Gegenwart Gottes ist ein integrativer Weg, ein Weg, der Verbindungen schafft und dabei frei und unbefangen bleibt.

Unser Predigttext illustriert dies. Er erzählt von fluiden und harten Realitäten, und mitten darin navigiert er klar und aufrichtig. Ihm geht eine längere Erzählung über Stephanus voraus, die mit dessen Steinigung und der ersten gewaltsamen Verfolgung der christlichen Urgemeinde endet. Stephanus war der Erstgenannte aus dem Kreis der sieben Weisen, ein Mann von Geist und Weisheit (Apg 6,3), der dank der Gegenwart Gottes sogar im Angesicht seiner Steinigung ein offenes Herz für seine Mörder behielt (Apg 7,60). Er blieb stark in Güte und Weisheit und trotz der Härte seiner Steinigung weich und aufrichtig. Der Ansatz, dem er folgte, wird am Beispiel von Philippus weiter verdeutlicht.

Philippus gehört nämlich ebenfalls zum Kreis der Sieben, die sich durch Geist und Weisheit auszeichnen. Genannt wird er unmittelbar nach Stephanus an zweiter Stelle (Apg 6,5). Seine Stärke ist die Verkündigung des Evangeliums. Später in der Apostelgeschichte wird er ausdrücklich als Evangelist bezeichnet (Apg 21,8). Er ist mit Einsamkeit und Ohnmacht vertraut, hört auf die Stille Gottes und lässt sich von ihr führen (vgl. Apg 8,26). Aufgrund der gewaltsamen Verfolgung der urchristlichen Gemeinde wandern viele in Richtung Judäa und Samaria (Apg 8,2), und sogar bis nach Phönizien, Zypern und Antiochia (Apg 11,19). Doch die Flüchtenden nehmen ihren Glauben mit und verkünden auf ihrem Weg das Evangelium (V4). Ihre Flucht wird zur Werbekampagne für ihren Glauben. Philippus ist Wortführer der Geflüchteten, zieht in die Hauptstadt Samarias und wird dort zum Repräsentanten des Evangeliums (V5). Trotz der Härte, die er in Jerusalem erlebt hat, bleibt er weich in der Stärke von Geist und Weisheit.

Erzählt wird, dass er den Christus verkündet, der den Weg in die Gegenwart Gottes gezeigt hat (V5). In Scharen kommen die Leute und folgen aufmerksam seinen Ausführungen. Viele stimmen ihm zu, als sie seine Worte hören und die Zeichen sehen, die er tut (V6). Wie Jesus unterstreicht er seine Verkündigung mit Heilungen (V7). Er treibt unreine Geister aus, die laut brüllend ausfahren (Lk 4,33-36.41), und er heilt Gelähmte (Lk 5,17-20). Grosse Freude breitet sich deshalb in der Stadt aus.

Seine Botschaft ist von unmittelbarer Kraft, sodass sie auch einen Konkurrenten überzeugt. Ein Mann namens Simon ist nämlich als Magier in der Stadt aufgetreten und schlägt die Leute in Bann (VV9-11). Alle, Gross und Klein, hangen ihm an und sagen: Dieser Mann verkörpert die Kraft Gottes, die man die Grosse nennt. Seine Künste nehmen sie richtiggehend gefangen. Doch nicht die Freiheit von Gottes Gegenwart steht im Zentrum, sondern die Faszination gegenüber diesem Menschen und seiner fluiden Welt. Als nun Philippus mit seiner Botschaft auftritt, gehen den Leuten die Augen auf, und sie schenken ihm Glauben (VV12-13). Philippus fasziniert nicht mit seiner magischen Kraft, sondern stellt die frohe Botschaft vom Reich der Güte und Weisheit von Gottes Gegenwart in die Mitte und verweist darauf, wie Jesus Christus diese Botschaft interpretiert und gelebt hat. In der Folge lassen sich Männer und Frauen taufen. Auch Simon kommt zum Glauben, lässt sich taufen und hält sich fortan an Philippus. Denn er ist fassungslos angesichts der grossen Zeichen und Wunder, die da geschehen. Dass Simon tatsächlich überzeugt ist von der Kraft, die da am Werk ist, wird nicht in Frage gestellt. Doch versteht er die bedingungslose Freiheit nicht, in der diese Kraft geschieht, sondern bleibt gebannt von ihrer Macht.

Die Fortsetzung stellt genau dies heraus (VV14-24). Sobald Simon nämlich erlebt, dass die Apostel Menschen die Hände auflegen und diese den Geist empfangen, bietet er Geld an und will das, was er als Vollmacht zu erkennen meint, erwerben. Petrus weist ihn deshalb harsch zurecht. Simon aber bleibt in sich gefangen und versteht nicht, dass die Gegenwart von Gottes Geist unverfügbar ist, dass sie unmittelbar da ist, wenn sich ein Mensch lässt und ihr nicht im Weg steht.

Von Philippus ist in diesem Abschnitt nicht mehr die Rede. Dennoch gibt sein Beispiel auch heute zu denken. Denn er steht, wie Stephanus, auf der Grundlage von Geist und Weisheit für seinen Glauben ein und überzeugt damit Menschen. Warum und wozu tut er das?

Die Referenz von Philippus ist das Geheimnis der Stille Gottes – jener Stille, die bedingungslos im Lärm von Gewalt und Wunder gegenwärtig ist, die ihn von sich selbst befreit und seinem Wort Kraft gibt. Vertraut wie Stephanus mit Geist und Weisheit, kennt er die menschliche Einsamkeit und Ohnmacht gegenüber der bedingungslosen Gegenwart Gottes, doch weiss er auch um die Kraft der Stille, die darin liegt. Der Widerstand der jüdischen Elite und deren Anhänger ist hart, und die Steinigung von Stephanus schrecklich. Aber auch die verführerische Wirkung des selbstbewussten Populisten Simon, der die Menschen mit seinen Künsten in Bann zieht und ihre Wirklichkeit verflüssigt und durcheinanderbringt, ist verwirrlich. Philippus aber bleib mitten im Lärm dieser harten und fluiden Wirklichkeiten zentriert in der Stille der bedingungslosen Gegenwart der Freiheit Gottes. Diese Stille zeigt ihm ihre Güte, und deren Weisheit lehrt ihn den Umgang mit den widersprüchlichen Wirklichkeiten, mit denen er zu tun hat. Ihm ist klar, dass Jesus Christus genau für dies Kraft der Stille eingestanden ist und dass er in jedem Menschen, der an ihn glaubt, als innerer Meister dafür einsteht. Deshalb ist dieses Wort der Stille das Zentrum seiner Botschaft, deshalb steht er für genau diese Botschaft ein, deshalb kann er sowohl die harte Wirklichkeit der Verfolgung akzeptieren, als auch Zeichen und Wunder tun, welche fluide, weiche Wirklichkeiten schaffen.

In unserer postchristlichen Zeit hat dieses Wort der Stille nichts an Bedeutung verloren. Zwar schaffen unsere weichen und fluiden Gesellschaften viel Lärm. Die Verflüssigung der modernen, objektiv geglaubten Realität in die unzähligen, subjektiven Realitäten der Postmoderne produziert eine Flut gefühlter Wirklichkeiten. Diese Fülle von Wirklichkeiten schaukeln sich im Wettbewerb um Aufmerksamkeit an Lautstärke, Schrillheit und Verquertheit immer weiter hoch. Die Extrempositionen harter und fluider, konservativer und progressiver, binärer und diverser Weltbilder überbieten sich mit ihrem Geschrei. Das Wort der Stille wird mitten darin nur allzu leicht übergangen und missachtet. Seine Aktualität wird indes bloss umso grösser. Es erinnert uns an jene bedingungslose Gegenwart, die zwar ständig gegenwärtig ist, für uns aber erst hörbar wird, wenn wir ihr die nötige Beachtung schenken, die zwar unserer Erlösung und Befreiung ist, in uns aber ihre Güte und Weisheit erst entfaltet, wenn wir durch sie die Unerlöstheit dieser Welt realisieren. Das Wort der Stille gibt uns jene Freiheit, die Stress abbaut, stabilisiert und Orientierung schafft. Es fördert unsere Empfänglichkeit und Akzeptanz für das, was ist, und es stärkt unseren Mut, das, was ist, mit Liebe und Weisheit zu gestalten. Vieles liegt nicht in unseren Händen, vieles ist indes sehr wohl das Ergebnis unserer individuellen und sozialen Konstruktionen. Das Wort der Stille steht für einen moderaten Konstruktivismus ein, der um das Annehmen und Verändern weiss und der beides mit Güte und Weisheit angeht.

Das Evangelium als Wort der Stille Gottes mag heute oft unbeachtet und ignoriert werden. Dennoch ist seine Aktualität ungebrochen. Es verbindet uns mit dem Geheimnis unserer Zeitlichkeit, es befreit uns vom Lärm der Zeit, und es gibt uns Klarheit in dieser Zeit. An uns liegt es nun, dem Evangelium standzuhalten und für dessen Wort einzustehen. Beten wir also, dass wir das in aller Einsamkeit und Lauterkeit tun, und dass wir uns vom Wort der stillen Gegenwart Gottes leiten lassen. Amen.

Predigt vom 06. August 2023 in Wabern
Bernhard Neuenschwander

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