Sudden understanding

Sudden understanding

Wir legten von Troas ab und gelangten auf dem kürzesten Weg nach Samothrake; am folgenden Tag erreichten wir Neapolis, und von dort kamen wir nach Philippi, einer Stadt im ersten Bezirk von Makedonien, einer römischen Kolonie. In dieser Stadt hielten wir uns einige Tage auf. Am Sabbat gingen wir vor das Stadttor hinaus an einen Fluss; wir nahmen an, dass man sich dort zum Gebet treffe. Wir setzten uns nieder und sprachen mit den Frauen, die sich eingefunden hatten. Auch eine Frau mit Namen Lydia, eine Purpurhändlerin aus Thyatira, eine Gottesfürchtige, hörte zu; ihr tat der Herr das Herz auf, und sie liess sich auf die Worte des Paulus ein. Nachdem sie sich samt ihrem Haus hatte taufen lassen, bat sie: Wenn ihr überzeugt seid, dass ich an den Herrn glaube, so kommt zu mir in mein Haus und bleibt da; und sie bestand darauf. Apg 16,11-15

Alles hat seine Zeit (Koh 3,1), auch der Weg in die Gegenwart Gottes hat seine Zeit. Vieles kann gewusst und doch nicht verstanden sein. Vieles kann erkannt und im Leben doch nicht getan werden. Wer wüsste nicht, dass zu wenig Schlaf der Gesundheit schadet, und es trotzdem nicht schafft, für genügend Schlaf zu sorgen? Wem ist nicht bewusst, dass das Kultivieren der eigenen Freiheit und Souveränität guttut, und dennoch immer wieder zulässt, sich in die Dinge zu verlieren? Einsicht schützt vor Torheit nicht, und die Weisheit kann in den Höhen, dort, wo sich die Wege kreuzen und die Entscheidungen fallen, mit lauter Stimme rufen (Prov 8,1) und kein Gehör finden. Doch auf einmal, wenn die Zeit reif ist, kann es geschehen, dass ankommt, was längstens klar gewesen ist, und verstanden wird, was sich seit langem angezeigt hat. Der Moment mag unscheinbar sein und die Gründe nicht zwingend. Zufällig, spontan, unmittelbar – ganz plötzlich – geschieht es. Die Weisheit kann stets nur geduldig fortfahren, an den Kreuzungen zu rufen und darauf zu hoffen, dass der Groschen fällt. Wann dies der Fall ist, liegt nicht in ihrer Hand. Doch der Moment kann kommen, und Gott kann gegenwärtig werden.

Intuitiv ist der Weg in die Gegenwart Gottes sofort verständlich: Wer wüsste nicht, was es heisst, im Hier und Jetzt zu sein? Sich nicht selbst im Weg stehen, unmittelbar da sein, unbefangen seinen Weg gehen. Ist das nicht klar? Ein 15-Jähriger hat mir neulich erklärt, was dies für ihn heisst. Er liebt Tischtennis. Übt er sich darin, geschieht sein Spiel reflexartig. Er denkt nicht mehr, ist hellwach im Moment und spielt – sonst nichts, ganz einfach. Für ihn ist dies ein Moment der Gegenwart Gottes. Mit dem Älterwerden wird das unbefangene Spiel zuweilen zur kaum lösbaren Herausforderung. Ambitionen versperren den Weg, Erwartungen beseitigen die Leichtigkeit, Empfindlichkeiten verhindern die Unbefangenheit. Auch wenn ich wüsste, was ich tun sollte, gelingt es mir nicht mehr. Ich verstricke mich in meine Gedanken, verliere den Kontakt zum Hier und Jetzt und kann nicht mehr wahrnehmen, was sich in diesem Moment zeigt. Dennoch fällt jeden Moment das Los. Gottes Freiheit hält es in Händen (vgl. Ps 16,5). Sie bestimmt nicht, wohin es fällt; doch wohin es fällt, das ist erfüllt von Gottes Freiheit. Jeder Augenblick birgt damit die Chance, dass das Wunder geschieht, das innere Gefängnis aufbricht und sichtbar wird, was naheliegt und natürlich ist. Der Weg in die Gegenwart Gottes ist voller Zufälle. Und diese sind erfüllt von der Freiheit Gottes, ebenso im Glück wie im Pech, und sie offenbaren den Weg – ganz einfach und unmittelbar.

Unser Predigttext erzählt uns eine Geschichte, die genau dieses unmittelbare, völlig zufällige Verstehen illustriert. Paulus und sein Begleiter befinden sich in Troas, einer Küstenstadt im Nordosten der Ägäis. Dort hat er eine Vision, die ihm die Gewissheit gibt, seine Mission in Mazedonien weiterführen zu müssen. Erzählt wird in unserem Predigttext zunächst der Weg, den sie nun zurücklegen (V11-12).

Die Reise geht zügig voran. In umgekehrter Richtung wird er später fünf Tage benötigen (Apg 20,6). Die auf halbem Weg gelegene Insel Samothrake dient als Übernachtungsort, um am folgenden Tag in die mazedonische Hafenstadt Neapolis weiter zu reisen. Unweit der Stadt folgen sie der grossen römischen Via Egnatia, welche Mazedonien in ostwestlicher Richtung durchquert. Etwa 15km landeinwärts gelangen sie so nach Philippi. Philippi verdankt seinen Namen dem Mazedonierkönig Philipp, dem Vater Alexanders des Grossen. Unterdessen ist die Stadt eine römische Kolonie und Mazedonien in vier römische Bezirke aufgeteilt. Lukas ist mit den Verhältnissen vertraut und erklärt, dass Philippi im ersten Bezirk liegt. Verrät der auch hier verwendete Wir-Stil, dass er seit der Überfahrt von Troas mit ihm Team des Paulus ist? Jedenfalls hält er fest, dass «wir» einige Zeit in Philippi gewesen sind.

Erzählt wird im Folgenden, was sich in Philippi abspielt (VV13-40). Der zweite Teil unseres Predigttextes berichtet von den Anfängen (VV13-15). Offensichtlich sehen sich Paulus und seine Begleiter mit ungewohnten Schwierigkeiten konfrontiert. Anders als bisher können sie in der römischen Stadt nicht einfach die Synagoge aufsuchen und ihre Botschaft dort verkünden. Vielmehr sehen sie sich dazu gezwungen, den Ort, wo sich Juden zum Gebet treffen könnten, zu suchen. Am Sabbat gehen sie deshalb zur Stadt hinaus an einen Fluss, weil sie annehmen, dass man sich dort zum Gebet versammelt. Sie setzen sich und sprechen mit den Frauen, die sich einfinden. Eine Synagoge scheint nicht vorhanden zu sein; die Frauen dürften sich in einem eher informellen Rahmen zum Gebet treffen.

Unter den Frauen, die an diesem Sabbat zu diesem Fluss kommen, befindet sich auch Lydia. Lydia ist Purpurhändlerin aus Thyatira (vgl. Apk 2,18-29). Thyatira ist eine Stadt ganz im Westen Kleinasiens, die für ihre Purpurindustrie bekannt ist. Purpurstoffe gelten als Luxusgüter, der Handel mit ihnen ist ein einträgliches Geschäft. Lydia wird man sich als wohlhabende und selbständig Frau vorzustellen haben. Sie ist nicht Jüdin, gehört aber zu den Gottesfürchtigen, die mit jüdischer Glaubenspraxis sympathisieren. Lydia hört den Gesprächen zu. Und was geschieht nun? Ihr tut der Herr das Herz auf, heisst es V14, und sie lässt sich auf die Worte des Paulus ein. Begründet oder erklärt wird nichts. Offenbar versteht sie, die zufälligerweise an genau diesem Sabbat, an welchem Paulus mit seinen Begleitern an genau diesem Fluss ist, unmittelbar, aus purer Gnade, was er zu vermitteln versucht; denn die Freiheit von Gottes bedingungsloser Gegenwart öffnet ihr Herz. Sie lässt sich darauf ein und realisiert im Zufall des Hier und Jetzt das Geheimnis des Moments, von dem Paulus spricht und das er teilen will. Davon erfasst, lässt sie sich und ihr ganzes Haus taufen und bietet Paulus und seinen Begleitern ihre Gastfreundschaft an. Allerdings setzt sie eine Bedingung. Sie verlangt von ihnen, dass ihr plötzliches Verstehen für sie überzeugend ist. Sie will nicht Illusionen aufsitzen, sondern im Zentrum soll nichts anderes als das Teilen der Gegenwart Gottes stehen. Ist dies der Fall, steht ihr Haus für sie offen. Mit Nachdruck besteht sie darauf, ihr Haus dafür zur Verfügung zu stellen.

Die Hausgemeinschaft der Lydia dürfte die Basis der weiteren Mission in Philippi gewesen sein. Nach dem Zusammenstoss mit der römischen Stadtbehörde kehren Paulus und seine Begleiter dorthin zurück (V40). In seinen Briefen erwähnt Paulus Lydia zwar nicht explizit, doch in seinem Brief an die Philipper erinnert er dankbar daran, dass die Unterstützung in Philippi die einzige gewesen ist, die er beim Aufbruch in Mazedonien für seine Mission erhalten hat (Phil 4,14f).

Besinnen wir uns heute auf diesen Bibeltext, werden wir dazu aufgefordert, über den Zufall und das plötzliche Verstehen der Gegenwart Gottes nachzudenken. Was geschieht mit einem Glauben, der den Zufall bewusst integriert?

Ein Glaube, der den Zufall integriert, nimmt Glück und Pech gleichermassen als Momente, in denen Gottes Freiheit gegenwärtig ist. Damit entsteht persönliche Souveränität in den Hochs und Tiefs des Lebens, ohne die Gegenwart Gottes in Frage stellen zu müssen. Die Reise von Paulus zeigt dies. Die Überfahrt von Troas über die Insel Samothrake nach Neapolis sowie die Weiterreise nach Philippi verlaufen zügig und problemlos. Das Glück begleitet sie. Ihre Mission in Philippi beginnt demgegenüber harzig. Es gibt keine Synagoge, an der sie anknüpfen können, und sie haben keine Unterstützung vor Ort. Doch für Paulus ist Gottes Freiheit im einen ebenso gegenwärtig wie im andern. Später schreibt er nach Philippi (Phil 4,12f): «Ich kann bescheiden leben, ich kann aber auch im Überfluss leben; in alles und jedes bin ich eingeweiht (μεμύημαι: das Verb, vom dem μυστικός, Mystik, abgeleitet ist): satt zu werden und Hunger zu leiden, Überfluss zu haben und Mangel zu leiden. Alles vermag ich durch den, der mir die Kraft dazu gibt.» Der Zufall mag manchmal für Glück, manchmal für Pech sorgen, die Mystik der Nicht-Dualität weiht in beides ein, verweist im Hier und Jetzt an die Liebe und Weisheit, die darin stecken, und fordert ganz pragmatisch dazu auf, zu tun, was zu tun ist. Akzeptiere ich den Zufall, verstricke ich mich nicht in Fragen nach dem Warum und Wozu, sondern finde hier und jetzt in die Gegenwart Gottes. Im Zufall zeigt sich die Unverfügbarkeit und Singularität des Augenblicks.

Die Offenheit für den Zufall schafft die Bereitschaft, sich ernsthaft auf das Hier und Jetzt einzulassen. Wer sich bewusst ist, dass der Zufall jeden Augenblick mit im Spiel ist, verstrickt sich nicht in sein Wollen, Denken und Planen, lässt sich nicht von Gefühlen besetzen und flüchtet nicht in eine fiktive Realität. Im Vordergrund steht vielmehr das Wahrnehmen der Situation, wie sie ist, und das Tun dessen, was getan werden muss. Paulus und seine Begleiter wissen, was ihre Mission ist, und sie sind mit den jüdischen, griechischen und römischen Kulturen vertraut. Im fremden Philippi angekommen, halten sie sich indes schlicht und einfach an die Gegenwart Gottes und suchen sich ihren Weg. Sie bewegen sich in Wahrscheinlichkeitsfeldern, tun, was sich bewähren könnte und hoffen, dass das Glück mitspielt. Gewissheit auf Erfolg haben sie nicht. Auf diese Weise treffen sie am Fluss ausserhalb der Stadt diejenigen Frauen, die sich dann und dort zufälligerweise einfinden. In der Gegenwart Gottes offenbart sich mir das Hier und Jetzt nicht als Momentaufnahme eines grossen Uhrwerks, das seinen Gesetzen folgt und die Zeit determiniert. Es zeigt sich vielmehr als Zusammenspiel von Ursache und Zufall, Berechenbarem und Überraschendem, Bedingtem und Unbedingtem. Glaube ich auf diese Weise, weiss ich, was den Moment bestimmt, aber ich weiss auch, dass er stets noch anders sein kann und dass ich nur verstehe, was hier und jetzt ist, wenn ich mich darauf einlasse.

Schliesslich ist ein Glaube, der um den Zufall weiss, empfänglich für das plötzliche Verstehen der Gegenwart Gottes. Das Ereignis mag völlig evident und überzeugend sein, doch wie davon sprechen? Wie es sich selbst und andern verständlich machen? Das Beispiel Lydias illustriert es. Ihre Begegnung mit Paulus geschieht völlig zufällig. Sie hört den Gesprächen mit Paulus zu, und ohne Grund und Zwang, aus reiner Gnade, öffnet ihr die Gegenwart Gottes das Herz. Im Zufall des Augenblicks blitzt in ihr Gottes Gegenwart auf. Deren Unmittelbarkeit ist völlig überwältigend und evident. Wie aber soll sie diese erklären und in ihr Leben integrieren? Sie lässt sich auf die Botschaft von Paulus ein und lässt sich und ihr Haus taufen. Was ihr widerfahren ist, will sie mit andern teilen, in Worte fassen, und sie will die Interpretation bestätigt wissen. Trifft mich ein mystisches Ereignis, geschieht es zufällig, spontan und unmittelbar – ganz plötzlich. Gebe ich ihm die Aufmerksamkeit, die es verlangt, ringe ich sogleich darum, meine Erfahrung in Sprachspielen reflektiert zu sehen, die passen und mich in die Gemeinschaft mit anderen bringen. Gottes Gegenwart will geteilt werden, aber sie bleibt in der Zufälligkeit und Einmaligkeit des Moments verborgen. Ein Glaube, der darum weiss, verlangt nach Gemeinschaft schaffenden Worten und Taten, aber setzt auf die Unmittelbarkeit des Augenblicks.

Der Zufall gehört untrennbar zu einer materialistischen Sicht auf dieses Universum. Die Mystik des christlichen Glaubens stellt dies nicht infrage, aber sie sieht im Zufall jenes Geheimnis des Augenblicks im Spiel, das Verstehen zu einem plötzlichen Ereignis macht. Verfügbar ist dieses Verstehen nicht. Doch der Moment behält auch in postchristlicher Zeit sein Geheimnis, das auf einmal, ohne Grund, aus purer Gnade, Einsicht schafft. Beten wir also, dass wir uns auf das Spiel mit dem Zufall einlassen und dass wir uns daran freuen, wie Gott darin gegenwärtig wird. Amen.

Predigt vom 1. Juni 2025 in Wabern
Bernhard Neuenschwander

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