So gelangte er auch nach Derbe und Lystra. Und dort war ein Jünger mit Namen Timotheus – Sohn einer jüdischen Mutter, die zum Glauben gekommen war, und eines griechischen Vaters -, der bei den Brüdern und Schwestern in Lystra und Ikonium einen guten Ruf hatte. Ihn wollte Paulus als Begleiter mitnehmen; und er nahm ihn und beschnitt ihn mit Rücksicht auf die Juden, die in jener Gegend wohnten; denn alle wussten, dass sein Vater Grieche war. Sie zogen nun zusammen durch die Städte und übergaben die Beschlüsse, die von den Aposteln und Ältesten in Jerusalem gefasst worden waren, mit der Weisung, sich daran zu halten. So wurden die Gemeinden im Glauben gestärkt und wuchsen von Tag zu Tag. Apg 16,1-5
Ist Gott gegenwärtig, lösen sich Verstrickungen auf und ordnen sich die Dinge. Niemand kann Gott fassen, niemand kann sagen: Hier ist Gott, dort ist Gott. Doch die Rede von Gottes Gegenwart ist eine Aufforderung zur Umkehr: der Umkehr der Aufmerksamkeit vom Aussen zum Innen, vom Fluss der Zeit zum Hier und Jetzt, vom Vielen zum Geheimnis der Gegenwart. Geschieht diese Umkehr, wird der Moment weit und der Augenblick heilig. Verwirrung und Unsicherheit legen sich wie der aufgewirbelte Sand im Wasserglas. Das Wasser wird klar und durchsichtig, die Oberfläche der Welt zum lebendigen Relief. Auf einmal zeigt sich, was hier und jetzt Gestalt gewinnen und Thema werden will, auf einmal wird deutlich, was im Hintergrund bleibt, Kontext bildet und vorderhand nicht im Zentrum steht. Auf diese Weise ordnen sich die Dinge, ohne Druck und Zwang, gleichsam von selbst. Es entstehen Klarheit und Einsicht, und es zeigt sich der Weg. Der Schlüssel dazu aber ist die Freiheit des Augenblicks, die Gegenwart Gottes.
Diese Freiheit ist heute zunehmend bedroht. Das Thema «Beschleunigung» ist als Zeichen postchristlicher Zeit längstens ausgemacht.[1] In einer beschleunigten Zeit wird die Gegenwart immer kürzer. Immer rascher ist sie überholt, immer schneller ist sie vorbei. Die heute verfügbaren Optionen künstlicher Intelligenz geben der Beschleunigung nochmals kräftig Schub und verkürzen die Gegenwart weiter. Algorithmen, die an vergangenem Material trainiert sind, steuern die Zukunft. Für den homo digitalis wird die Zukunft von der Vergangenheit dominiert, und die Gegenwart schrumpft zum prekären, höchst flüchtigen Übergang, der kaum noch zu fassen ist. Damit verliert er indes nicht nur die Gegenwart Gottes, sondern ebenso seine Freiheit. Statt den Moment selbstbestimmt anzunehmen und zu gestalten, verstrickt er sich in das Getriebe der Beschleunigung. Wie könnte ihm da die Rede von der Gegenwart Gottes nicht zur bedeutungslosen Floskel werden?
So dominant und verführerisch die moderne Beschleunigung ist, so spürbar werden zunehmend auch die Kosten, die sie verursacht. Als Kontrapunkt wird deshalb das Thema «Resonanz» vorgeschlagen.[2] Das ist zweifellos ein guter Ansatz. Menschen, die ihre Resonanzfähigkeit entwickeln, bleiben auch in beschleunigter Zeit in gutem Kontakt mit sich, ihren Mitmenschen und ihrem Umfeld. Doch genügt dies? Muss ein Mensch mit einem säkularen Resonanzkonzept nicht auch sich selbst transzendieren und sich auf das Geheimnis des Moments, auf die Gegenwart Gottes, einlassen? Wird nicht erst so die Gegenwart frei genug, ihre Freiheit zu erweisen, sodass ein Mensch resonanzfähig werden kann? «Unverfügbarkeit» ist jedenfalls als Thema der Resonanzfähigkeit ebenfalls markiert.[3] Aus der Perspektive des christlichen Glaubens kann man dies nur unterstreichen. Geben wir ihr die Chance, sich selbst zu erklären! Unser Predigttext lädt dazu ein.
Er berichtet vom Beginn der zweiten grossen Reise der paulinischen Mission. Dabei wird deutlich, welche Vorkehrungen Paulus diesmal trifft, um trotz dem inneren Widerspruch seiner Botschaft erfolgreich zu sein, also um die unmittelbare Gegenwart Gottes anderen Menschen zu vermitteln. Die Gemeinde Antiochias hat ihn für dieses Unternehmen der Gnade Gottes anvertraut, und Paulus hat sich Silas als Begleiter ausgewählt. Zusammen ziehen sie nordwärts Richtung Syrien und Kilikien, der Heimat des Paulus, und stärken die Gemeinden. Hier setzt unser Predigttext ein.
Notiert wird zunächst kurz und knapp der weitere Reiseweg (V1a). Paulus und Silas ziehen durch die kilikische Pforte auf dem Karawanenweg von Tarsus über das Taurusgebirge nach Lykaonien zuerst in die Stadt Derbe, der Endstation ihrer ersten Reise (vgl. 14.20f), und anschliessend nach Lystra, der Stadt, in welcher Paulus auf seiner ersten Reise zwar zunächst als Gott verehrt, dann aber gesteinigt wurde (vgl. 14,6-20). Erzählt wird nun, was dort geschieht. In Lystra lebt nämlich der Jünger mit Namen Timotheus (V1b). Timotheus hat eine jüdische Mutter, die christlich geworden ist, und einen griechischen Vater. Eine solche Mischehe ist nach jüdischen Massstäben verboten, ihre Kinder gelten jedoch als jüdisch und sollten nach dem mosaischen Gesetz erzogen werden. Bei Timotheus ist dies jedoch nicht erfolgt, er wurde nicht beschnitten. In den Gemeinden von Lystra und Ikonium steht er jedoch in gutem Ruf (V2). Ihn will Paulus deshalb als weiteren Begleiter mitnehmen (V3a). Später bezeichnet Paulus Timotheus als «mein geliebtes und treues Kind» (1Kor 4,17), als einen, der ihm gleichgesinnt ist, als einen, der nicht mit seinen eigenen Dingen beschäftigt ist, sondern mit der Sache Jesu (Phil 2,19-23). An der Mission des Paulus hat er entscheidenden Anteil (Phil 1,1; 1Thess 1,1; 3,2f; 1Kor 16,10f). Schliesslich wird er derjenige sein, der sein Erbe weiterentwickelt und zu wahren versucht (1/2Tim). Ihn also will Paulus auf seine Reise mitnehmen.
Für Paulus steht ausser Frage, dass Timotheus zu diesem Zweck beschnitten sein muss (V3b). Das überrascht zunächst. Auf dem Apostelkonzil hat er sich erfolgreich dafür eingesetzt, dass seinem Begleiter Titus, der Grieche ist, die Beschneidung nicht aufgezwungen wird (Gal 2,3). Was also ist jetzt anders? Lukas macht klar, dass Paulus Timotheus aus Rücksicht auf die Juden beschneidet, die in der Gegend wohnen, weil alle wissen, dass sein Vater Grieche ist. Unmissverständlich will Paulus also zum Ausdruck bringen, dass Juden wie Timotheus zu Israel gehören und sich über dessen Gesetz nicht hinwegsetzen sollen. Er stellt damit nicht in Frage, dass für Nichtjuden die Befolgung des mosaischen Gesetzes keine Heilnotwendigkeit ist. Aber im praktischen Umgang miteinander soll die Frage, ob das jüdische Gesetz erfüllt oder nicht erfüllt wird, kein Stein des Anstosses sein. Oder um mit Paulus zu sprechen: «Weil ich frei bin gegenüber allen, habe ich mich zum Sklaven aller gemacht, um möglichst viele zu gewinnen.» Gegenüber Juden gibt er sich als einen, der ihr Gesetz, obwohl frei vom Gesetz, erfüllt, gegenüber Nichtjuden als einen, der, obwohl von Christus bestimmt, ohne Gesetz lebt (1Kor 9,19-23). Er zeigt damit, wie stark er von der Pragmatik der alten, jüdischer Weisheit durchdrungen ist.[4] Allen will er sich anpassen. Entscheidend ist, was sich bewährt. Keine geschichtlich bedingten Konventionen der bedingungslosen Gegenwart Gottes soll im Wege stehen.
Mit dieser Klarheit ziehen Paulus zusammen mit Silas und Timotheus von Stadt zu Stadt (V4f). Lukas verzichtet auf eine Beschreibung der Reiseroute, hält aber fest, dass sie die von den Aposteln und Ältesten in Jerusalem am Apostelkonzil gefassten Beschlüsse (Apg 15,23-29) weitergeben und die Weisung geben, sich daran zu halten. Betont wird also ihre Loyalität gegenüber den Jerusalemer Abkommen, weil ihre Freiheit vom Gesetz nicht in Frage steht. Die Wirkung, die ihr Auftritt mit diesem Ansatz hat, spricht für sich: Gegen innen werden die Gemeinden im Glauben gefestigt, gegen aussen wachsen sie von Tag zu Tag. Ihre grosszügige und flexible Anpassung an die Menschen, denen sie sich zuwenden, sorgt dafür, dass der Vermittlung ihrer Botschaft von der unmittelbaren Gegenwart Gottes so wenig wie möglich im Weg steht.
Das heutige Nachdenken über diesen Predigttext fordert dazu auf, über den inneren Widerspruch nachzudenken, welcher der Vermittlung der unmittelbaren Gegenwart Gottes eigen ist. Paulus hat um diesen Widerspruch gewusst, und er hat deshalb für seine zweite grosse Reise Vorkehrungen getroffen.
Machen wir uns zunächst dies bewusst: Die Gegenwart Gottes geschieht unmittelbar und ist nicht vermittelbar. Jesus lebt und bezeugt sie, Paulus versteht das Einstehen für sie unter Juden und Nichtjuden als seine Lebensaufgabe – dennoch bleibt sie ein unverfügbares Ereignis, das bedingungslos, aus lauter Gnade, geschieht und jeder menschlichen Verfügbarkeit entzogen ist. Sie ist jene Folie des Hier und Jetzt, deretwegen Verstehen ein persönliches Ereignis bleibt. Ich weiss nur, was kalt und warm ist, wenn ich kalt und warm erlebe, ich kenne Hunger und Sattheit nur, wenn ich beides am eigenen Leib erfahre. Ich kann davon sprechen, und ich kann andere davon sprechen hören. Doch ich verstehe die Worte nur im Horizont der Erfahrung, die mir zur Verfügung steht. Vielleicht verstehe ich trotz vielen Worten nichts, und vielleicht verstehe ich ohne Wort sogleich. Vieles kann mir im Weg stehen, um im Geheimnis der Gegenwart anzukommen und zu verstehen, was hier und jetzt geschieht Jeder Moment ist unverfügbar und einmalig, jeder Moment vergegenwärtigt Gottes Freiheit. Deshalb sind der Vermittlung Grenzen gesetzt, deshalb geht jeder Mensch seinen eigenen Weg, und deshalb ist Nachsicht unter Menschen angesagt. Menschliches Verstehen ist nicht von der Vermittlungstechnik abhängig, sondern hat seine eigene, unmittelbare Zeit.
Dennoch muss das Wagnis unternommen werden, das Unmittelbare zu vermitteln. Die Gegenwart Gottes will geteilt, ihre Liebe und Weisheit wahrgenommen und gestaltet werden. Sie ist das unfassbare, nichtduale Geheimnis, das den Impuls zur Dualität, zur Schöpfung, in sich trägt. Ihr ist deshalb nicht nur die Stille des Schweigens inne, sondern ebenso der Klang ihrer Vermittlung. Deshalb verkündet Jesus ihre Nähe und gibt sie in seinen Taten zu spüren, deshalb begibt sich Paulus erneut auf Reise und versucht sie Menschen zu vermitteln. Will ich in ihren Fussstapfen gehen, muss ich einerseits mit der Unverfügbarkeit der Gegenwart Gottes vertraute sein und ihre Unvermittelbarkeit kennen, andererseits muss ich aber auch um ihren Impuls der Liebe zur Schöpfung wissen und mich von ihrer Weisheit belehren lassen. Doch wenn ich beides kenne – das Geheimnis Gottes und das Hier und Jetzt, das Nichts und das Sein, das Nichtduale und das Duale – kann ich nicht anders als für sie einstehen, sie in diesem Moment gegenwärtig halten und sie mit Worten und Taten teilen. Alle Materie ist Medium Gottes, alle Materie ist nichts als Materie und vermittelt doch zugleich ständig Gottes Gegenwart.
Dies zu vermitteln, ist anspruchsvoll genug, die Beseitigung unnötiger Hindernisse deshalb unentbehrlich. Für Paulus hat dies ganz praktische Konsequenzen: Was er vermitteln will, muss er zunächst selbst leben. Er hält sich an die Gegenwart Gottes, ihre Liebe und Weisheit, und tut, was sich darin bewährt (vgl. Ps 111,10). In der Freiheit der Gegenwart passt er sich seiner Umgebung an, lässt sich nicht provozieren und verzichtet auf unnötige Provokationen. Aus diesem Grund beschneidet er Timotheus und bemüht sich, den Juden keinen Anstoss geben. Diese Vorkehrung ist nachvollziehbar. Bin ich so stabil in der Freiheit der Gegenwart Gottes, dass ich mich selbst nicht triggern lasse oder andere triggern muss, habe ich eher die Chance, die Gegenwart Gottes teilen zu können und auf offene Ohren zu stossen. Dieses Vorgehen übersieht Illusionen und Widersprüche nicht, und es hat keine Scheu, wo nötig, Kritik zu üben. Aber es weiss, was im Zentrum steht, und bleibt darin klar. Garantie auf Erfolg gibt es – das zeigen die Leidensgeschichten von Jesus, Paulus und vielen andern – dennoch nicht. Das ist indes auch nicht nötig; denn es schielt nicht auf Erfolg und biedert sich nicht den Umständen an, sondern steht ein für die Gegenwart Gottes wie es die Umstände erfordern – manchmal sanft, manchmal harsch – und vertraut darauf, dass sie zu ihrer Zeit erwacht. Halte ich mich daran, entstehen Grosszügigkeit und Humor gegenüber Unwichtigem sowie Leichtigkeit und praktische Relevanz für den Alltag.
Gott ist jeden Moment gegenwärtig, seine Gegenwart zu teilen, ist ein Segen. Jeder Moment an jedem Ort dieses Universums bezeugt sie. Sie zu vermitteln, ist deshalb gerade auch in dieser postchristlichen, beschleunigten Zeit das Gebot der Stunde. Dennoch bleibt ihre Vermittlung unverfügbar und ein Ereignis der Gnade, das jeder technischen Machbarkeit entzogen ist. Beten wir also, dass wir für sie einstehen und die Souveränität zur Anpassung, so wie sie dienlich ist, aufbringen können. Amen.
[1] Rosa, Hartmut (2012, 9. Aufl.): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt a. M.: suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1760.
[2] Rosa, Hartmut (2019, 8. Aufl.): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Frankfurt a. M.: suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2272.
[3] Rosa, Hartmut (2020): Unverfügbarkeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Taschenbuch 5100.
[4] Neuenschwander, Bernhard (2022): Weisheit der Mystik, Band I, II, III. Predigten zu den Psalmen, Berlin: Fromm Verlag.
Predigt vom 11. Mai 2025 in Wabern
Bernhard Neuenschwander