Orientation

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Da kamen einige von Judäa herab und lehrten die Brüder: Wenn ihr euch nicht beschneiden lasst nach dem Brauch des Mose, könnt ihr nicht gerettet werden. Es entstand aber ein heftiger Zwist und Paulus und Barnabas gerieten mit ihnen in Streit, worauf man anordnete, Paulus und Barnabas und ein paar andere von ihnen sollten mit dieser Streitfrage zu den Aposteln und Ältesten nach Jerusalem hinaufziehen. Nachdem sie von der Gemeinde feierlich verabschiedet worden waren, zogen sie durch Phönizien und Samaria, wo sie von der Hinwendung der Heiden zum Glauben erzählten und damit allen Brüdern und Schwestern grosse Freude machten. Sie kamen in Jerusalem an, wurden von der Gemeinde, den Aposteln und den Ältesten willkommen geheissen und berichteten, welch grosse Dinge Gott durch sie getan hatte. Einige von der Partei der Pharisäer aber, die zum Glauben gekommen waren, standen auf und sagten, sie müssten die Leute beschneiden und von ihnen verlangen, dass sie das Gesetz des Mose hielten. Apg 15,1-5

Wunderbar, wenn Gott gegenwärtig ist, wunderbar, wenn seine Liebe und Weisheit den Moment erfüllt und seine Freiheit mit aller Klarheit spürbar ist. Doch das Leben ist voller Herausforderungen. Auf einmal stehe ich vor einer unerwarteten Frage. Was soll ich dem Menschen, der mich mit ihr konfrontiert, antworten? Wie reagiere ich auf sein Anliegen? Wie auf den Konflikt, in den er mich involviert? Wie auf die Nachricht seiner Erkrankung oder einer anderen Information? Unzähliges kann mich in Beschlag nehmen und die Gegenwart Gottes vergessen lassen. Mag Gott in Momenten der Meditation und Besinnung gegenwärtig sein, im Getriebe des Lebens ist er oft genug kein Thema. Die täglichen Geschäfte besetzen den Moment. Wie bleibt da noch Platz für Gottes Gegenwart?

Solche Erfahrungen sind menschlich. Menschlich ist indes auch, sie wahrnehmen und reflektieren zu können. Ständig bin ich teilnehmender Beobachter, ständig bin ich ebenso im Geschehen wie in der Lage, mir dieses bewusst zu machen. Ich bin nicht dazu verurteilt, mich von meinem Tun absorbieren zu lassen, sondern ich kann mich zu ihm verhalten. Jeden Moment liegt es an mir zu entscheiden, ob ich den gewohnten Weg fortsetzen oder ob ich Änderungen vornehmen will. Allerdings stellt sich mir dann auch die Frage, woran ich mich orientiere, um zu einer Entscheidung zu gelangen. Der Ratgeber sind viele, die mir ihre Hilfe anbieten. Halte ich mich an diese, oder suche ich die Weisung Gottes?

Der Psalter stellt gleich zu Beginn vor genau diese Frage (Ps 1). Doch weshalb verheisst er demjenigen Wohlergehen, der sich an Gott hält? Weshalb vergleicht er ihn mit einem Baum, der an Wasserbächen gepflanzt ist und fruchtbar ist, während derjenige, der sich an die vielen Ratgeber hält, wie Spreu im Wind verweht? Nun ja, weil das Sinnen über Gottes Weisung nichts anderes als die Suche nach der Freiheit von Gottes Gegenwart samt ihrer Liebe und Weisheit ist. Dieses Sinnen durchblickt die Herausforderungen des Lebens, stellt sich ihren Unsicherheiten, Zweifeln und Irritationen und sucht, was diese auflöst und zu Klarheit befreit. Gottes Gegenwart ist ein äusserst wirksamer Katalysator: Sie ermöglicht Prozesse, die ohne sie nicht geschehen, und setzt Potentiale frei, die sonst nicht zur Verfügung stehen. Dabei vermischt sie sich nicht mit mir und meinen Fragen, aber ist untrennbar in mir und meinen Fragen da. Diese selbstlose Präsenz macht Gottes Gegenwart segensreich.

Sich an dieser selbstlosen Präsenz Gottes zu orientieren, ist zuweilen anspruchsvoll. Bereits die Urkirche hat es erlebt. Unser Predigttext führt es vor.

Er erzählt nämlich die Vorgeschichte zum wohl wichtigsten Ereignis der Urkirche. Kaum zufällig hat es Lukas in der Mitte seiner Apostelgeschichte platziert. Heute ist es als «Apostelkonzil» bekannt. Der Ausdruck ist missverständlich, weil weder alle Apostel anwesend noch die gesamte Kirche durch Repräsentanten vertreten sind. Die Bezeichnung hat dennoch ihr Recht, weil in Anwesenheit von Aposteln eine Entscheidung getroffen wird, die für die damalige und spätere Kirche grosse, auch juristische Verbindlichkeit erlangt. Der Konflikt, der geklärt werden muss, kristallisiert sich in der Frage, ob die Beschneidung und mit ihr das jüdische Gesetz eine Bedingung ist, dass Menschen ohne jüdischen Hintergrund zur christlichen Gemeinde gehören können. Die Gemeinde der grossen Metropole Antiochia neigt dazu, auf diese Bedingung zu verzichten und darauf zu setzen, dass Gottes Gnade entscheidend ist. Die kleine und traditionelle Gemeinde Jerusalems orientiert sich demgegenüber stärker an der Verankerung im jüdischen Gesetz. Es überrascht nicht, dass die unterschiedlichen Positionen früher oder später zum Konflikt führen. Berichtet wird nun, wie der Konflikt in den späten 40er Jahren in Jerusalem gelöst wird.

Unser Predigttext erzählt unaufgeregt, wie der Konflikt beginnt (V1). Es kommen einige von Judäa nach Antiochia herab und lehren die Brüder und Schwestern. Jerusalem wird vorerst nicht genannt, auch wird nicht präzisiert, wer sie sind. Dennoch wird der Gemeindefrieden gestört. Denn sie lehren, dass diejenigen, die sich nicht nach dem Brauch des Mose beschneiden lassen, nicht gerettet werden. Die Antiochener sind mit Paulus und Barnabas bisher davon ausgegangen, dass ihre Gemeinde jene Gemeinschaft von Menschen ist, die die Gegenwart Gottes miteinander teilen, auch wenn sie nicht beschnitten sind oder das mosaische Gesetz befolgen. Der Konflikt ist damit programmiert (V2). Zwischen ihnen auf der einen Seite und Paulus und Barnabas auf der andern entsteht ein heftiger Streit. Die Gemeinde Antiochias ordnet deshalb an, dass einige aus ihren Reihen, angeführt von Paulus und Barnabas, zu den Aposteln und Ältesten nach Jerusalem hinaufziehen sollen, um die Streitfrage zu klären. Die Delegation wird in einem Gottesdienst feierlich verabschiedet und macht sich umgehend auf den Weg (V3). Sie ziehen durch Phönizien und Samaria und erzählen dort von ihrer Erfahrung, dass sich nicht nur Juden, sondern auch Heiden zum Glauben hinwenden. Dabei hält Lukas fest, dass sich in den dortigen christlichen Gemeinden alle Brüder und Schwestern über diese Nachricht freuen und sich damit auf die Seite der antiochenischen Delegation stellen.

Sodann wird die Ankunft in Jerusalem beschrieben (V4-5). Lukas erzählt auch hier unaufgeregt. Die Delegation kommt in Jerusalem an und wird von der Gemeinde, den anwesenden Aposteln sowie den Ältesten willkommen geheissen. Der Konflikt kommt vorerst gar nicht zur Sprache. Die Delegation bekommt vielmehr die Gelegenheit zu erzählen, welch grosse Dinge Gott durch sie getan hat. Zu denken ist also an die erste grosse Mission von Paulus und Barnabas, in welcher sich Gott bei der Gewinnung von Menschen nichtjüdischer Herkunft als mächtig erwiesen hat (Apg 13-14). Lukas deutet damit an, dass der Streitfall im Grunde bereits im Sinne von Paulus und Barnabas vorentschieden ist. Dennoch erhebt sich Widerstand, zwar nicht aus der ganzen Gemeinde, aber doch von einem Flügel. Eine Gruppe von Pharisäern, die zum christlichen Glauben gekommen ist, steht auf und fordert die Beschneidung der Heiden und ihre Unterstellung unter das Gesetz des Mose. Damit liegt der Konflikt auf dem Tisch. Die Fortsetzung wird erzählen, wie er ausgetragen wird.

Das Nachdenken über diesen Predigttext konfrontiert mit einer fundamentalen Frage, die sich nicht nur der Urkirche gestellt hat, sondern bis zum heutigen Tag aktuell ist: Was gibt Orientierung, wenn sich Auffassungen von Glauben gegenüberstehen, die sich gegenseitig ausschliessen?

Aus lukanischer Sicht ist diese Frage im Moment, in welchem der Konflikt aufbricht, längstens entschieden. Die Freiheit der bedingungslosen Gegenwart Gottes ist in ihrer Unmittelbarkeit in einer Weise evident, dass daraus alles andere geklärt werden muss. Deshalb berichtet er unaufgeregt vom ausgebrochenen Konflikt, deshalb macht er sich mit Gelassenheit daran, zu erzählen, wie der Konflikt ausgetragen wird. Was ihm diese Freiheit gibt, steckt in der Gegenwart Gottes und war, ist und bleibt jeden Moment gültig. Blitzt sie in mir auf, weiss ich mich von ihr getragen; bin ich unmittelbar von ihr erfasst, gehe ich einen Konflikt ruhig und klar an. Der Grund, so zu agieren, ist nicht mein Ich, sondern liegt im Geheimnis der Gegenwart, das mich und alles, was es gibt, jeden Moment bedingungslos, unmittelbar, ohne mein Zutun, aus purer Gnade, durchdringt. Lebe ich in dieser Gnade des Augenblicks, gehe ich Konflikte mit Liebe und Weisheit an und vertraue, dass sich Lösungen finden lassen, die sich bewähren. Die Gegenwart Gottes ist damit meine Orientierung.

Allerdings ist genau dies eine ständige Herausforderung. Menschen neigen dazu, bei sich selbst statt bei der Gegenwart Gottes anzusetzen. Sie übergehen die Gegenwart Gottes, die ihnen näher ist, als sie sich selbst, und kommen zur Gewissheit, sie seien sich selbst am nächsten. So verlieren sie die Gegenwart Gottes aus dem Blick, so machen sie sich selbst zum Massstab, der ihnen Orientierung geben soll. Unser Predigttext bietet ein Beispiel, das für viele steht. Hier sind es jene Pharisäer, die zwar zum Glauben gekommen sind, aber an dem verhaftet bleiben, was ihnen bisher Orientierung gegeben hat: der Beschneidung samt dem mosaischen Gesetz. Was auch immer als natürliches, durch Gewohnheit etabliertes oder gesetztes Gesetz erachtet wird, verbaut – wenn es zur absoluten Orientierung wird – den Zugang zur unmittelbaren Gegenwart Gottes. Sobald egoistische Motive mit Verweis auf das Gesetz des Stärkeren, ein Gewohnheitsrecht oder ideologische bzw. moralische Konstruktionen gerechtfertigt werden, ist dies der Fall. Orientiere ich mich stattdessen an der Gegenwart Gottes, stehe ich selbstverantwortlich in ihrer Freiheit. Meine Triebe und Bedürfnisse – also das, was Freud das «Es» nennt – und meine moralischen Leitplanken, das Über-Ich, sind integriert, aber stehen nicht an erster Stelle. Gehe ich meinen Weg in der Freiheit der Gegenwart Gottes, ist diese meine Orientierung, und ich bin in der Lage, ihn mündig und erwachsen zu gehen. Mag dies auch manchmal anspruchsvoll sein, es befreit und bewährt sich.

Schliesslich impliziert die Orientierung an Gottes Gegenwart, sich an ihre selbstlose Präsenz in Konflikten zu halten. Dies schafft Freiheit, nötige Auseinandersetzungen nicht zu umgehen, sondern ruhig und klar anzupacken. Die Antiochener machen es vor. Sie halten sich an die unmittelbar Gegenwart Gottes und vertrauen darauf, dass deren selbstlose Präsenz evident ist, für sich spricht und auch die Jerusalemer überzeugt. Unaufgeregt entsenden sie deshalb ihre Delegation und stellen sich dem Konflikt. Die selbstlose Präsenz von Gottes Gegenwart sucht nicht dieses oder jenes, sondern wirkt katalytisch: Sie schafft einen Moment der Unbefangenheit für ihre Liebe und Weisheit. Was damit konkret gemeint ist, muss eine Gemeinschaft, die Gottes Gegenwart miteinander teilt, immer wieder neu erforschen und ausformulieren. Doch im Zentrum steht nicht ihre situative Interpretation, sondern die selbstlose Präsenz der Gegenwart Gottes, also die Unmittelbarkeit dieses mystischen Ereignisses. Orientiere ich mich an der Gegenwart Gottes, stehe ich in der Verantwortung vor ihrer Freiheit, aber ich übernehme sie, indem ich mich auf das Hier und Jetzt einlasse und mich der Aufgabe, mit der es mich konfrontiert, stelle.

In dieser postchristlichen Zeit wird die Orientierung an der Gegenwart Gottes oft übersteuert und übergangen. Sie erinnert jedoch an das, was allem menschlichen Tun vorausgeht: die Unmittelbarkeit der Gegenwart in allem, was es gibt. Ihre selbstlose Präsenz gibt Mut zur Freiheit der Demut, und sie beschenkt mit ihrer Liebe und Weisheit. Beten wir also, dass wir uns in diesem Hier und Jetzt an Gottes Gegenwart orientieren und dass wir es stets von Neuem tun. Amen.

Predigt vom 26. Januar 2025 in Wabern
Bernhard Neuenschwander

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