Zusammenhalt

Zusammenhalt

Paulus blieb noch etliche Tage. Dann nahm er Abschied von den Brüdern und Schwestern und fuhr zu Schiff nach Syrien, zusammen mit Priscilla und Aquila, nachdem er sich in Kenchreä das Haupt hatte scheren lassen; er hatte nämlich ein Gelübde getan. Sie erreichten Ephesus, wo er die beiden zurückliess; er selbst ging in die Synagoge und sprach zu den Juden. Als diese ihn baten, längere Zeit bei ihnen zu bleiben, willigte er nicht ein, sondern verabschiedete sich und sagte: Ich werde zu euch zurückkehren, wenn Gott es will. Dann fuhr er von Ephesus weg. Und er gelangte nach Cäsarea, zog hinauf nach Jerusalem, begrüsste die Gemeinde und ging dann hinab nach Antiochia. Und nach einiger Zeit brach er von dort auf, um zunächst durch das galatische Land, dann durch Phrygien zu ziehen und alle Jünger dort zu stärken. Apg 18,18-23 

Die Gegenwart Gottes ist ein mystisches Ereignis. Sie wirkt ohne Worte, ohne Diskussionen, ohne jedes menschliche Tun. Ihre Verbindlichkeit verbindet ständig alles mit allem. In einem mystischen Augenblick mag ihre Fülle aufblitzen und die Wucht ihrer Unmittelbarkeit einschlagen. Das nichtduale Selbst des Menschen mag erwachen und die eigene Existenz von selbst, ganz natürlich, ohne menschliche Manipulation, aus reiner Gnade verwandeln. Doch sich damit vertraut zu machen, auszupacken, was dies heisst und zu analysieren, in Worte zu fassen und in das eigene Leben zu integrieren, was darin steckt, bleibt stets Stückwerk. Wer sich an diese Arbeit macht, bleibt auf die ihm vertrauen Denkmuster, Traditionen und Gewohnheiten verwiesen, und selbst, wenn er sie reflektiert und zu überschreiten versucht, bleiben all seinem Tun Grenzen gesetzt. Meine Sicht bleibt kontingent, also zufällig und mangelhaft, sogar wenn ich weiss, dass nicht sie im Zentrum steht, sondern die mystische Gegenwart Gottes (vgl. 1Kor 13,8-12).

Diese postchristliche Zeit tut sich zuweilen schwer, ihr christliches Erbe in Erinnerung zu halten. Gewiss: Auch es ist Stückwerk. Doch statt dies zu bedenken, steht die Befreiung von traditionellem Ballast im Vordergrund. Dabei wird nicht selten das Kind mit dem Bad ausgeschüttet.

Zweifellos ist der aufgeklärte Mut, selbst zu denken und die Dominanz kirchlicher Narrative abzuschütteln ein Segen. Zu lange, zu rigoros hat die kirchliche Tradition die Mystik der Gegenwart Gottes verdrängt und sich selbst samt den eigenen Machtstrukturen ins Zentrum gestellt. Was bloss Stückwerk war, wurde als Repräsentation der Ewigkeit behauptet, und was nicht mehr als eine kontingente und begrenzte Sicht war, spreizte sich als absolute Wahrheit und gottgewollte Moral auf. Im Angesicht dieses verstörenden und tief eingravierten Machtmissbrauchs ist das postchristliche Misstrauen ihrem eigenen Erbe gegenüber nur verständlich und nachvollziehbar.

Dennoch helfen Flucht und Verdrängung wenig, kritische Auseinandersetzung und Differenzierung jedoch viel. Will diese postchristliche Zeit nicht die Fehler ihrer Erbschaft wiederholen, auf titanische Selbstvergöttlichung verzichten, ihre eigene Potenz nicht absolut setzen und ihre Macht nicht selbst missbrauchen, kommt sie um eine Konfrontation mit ihrem Erbe nicht herum. Die Fragen des Menschen nach sich selbst und die Irritationen über das, was den Moment hier und jetzt ausmacht, lassen sich nicht beseitigen, sondern bleiben der Weg zum Erwachen des eigenen Selbst. Umso hilfreicher ist deshalb, mit den Antworten früherer Zeiten ins Gespräch zu kommen, von ihnen zu lernen, aber seine eigenen Wege in die Gegenwart Gottes zu gehen.

Genau dieses Vorgehen illustriert unser Predigttext. In äusserst knapper Form macht er deutlich, dass Paulus auf seiner grossen Mission für die Gegenwart Gottes den Überblick nicht verliert und den Zusammenhalt unten all denen, die sich für den Glauben an die bedingungslose Gegenwart Gottes engagieren, ungebrochen ernst nimmt. Er erzählt nämlich von einer Reise in die Gemeinden, von denen er herkommt, und in diejenigen, die er später gegründet hat. Noch befindet er sich in Korinth. Dank seiner Besonnenheit und dem Verhalten des römischen Prokonsuls Gallio hat er einen Aufruhr von jüdischer Seite gegen ihn unbeschadet überstanden (Apg 18,12-17).

Hier setzt unser Predigttext ein und berichtet, dass Paulus noch etliche Tage in Korinth verweilt, bis er schliesslich weiterreist (V18). Lukas will offensichtlich deutlich machen, dass sich Paulus weder von Angst bestimmen und zur Flucht verleiten lässt noch, dass er den Aufenthalt in Korinth ausreizt und länger als geboten bleibt. Er verabschiedet sich von der Gemeinde, in welcher er eineinhalb Jahre verbracht hat (Apg 18,11), und schifft sich in Richtung Syrien ein. Priscilla und Aquila, die ihm während seinem Aufenthalt viel Unterstützung gegeben haben, begleiten ihn. Priscilla wird auch hier zuerst genannt (vgl. V26; Röm 16,3; 2Tim 4,19). Sie hat sich vermutlich für Paulus besonders engagiert. Sehr knapp erwähnt Lukas, dass sich Paulus in Kenchreä, der östlich von Korinth gelegenen Hafenstadt, das Haar scheren lässt; denn er habe ein Gelübde getan. Damit könnte das Naziräatsgelübde gemeint sein (Num 6,1-21), bei dem derjenige, der das Gelübde ablegt, für eine Weile auf berauschende Getränke und das Scheren der Kopfhaare verzichtet. Lukas könnte damit unterstreichen wollen, dass für Paulus eine Phase der rituellen Kultivierung von Besonnenheit und Zentriertheit im eigenen Selbst zu Ende geht und dass er sich mit seiner Reise auf neue Einflüsse von aussen einlässt. Selbstverständlich bleibt sein Tun und Lassen weiterhin im Selbst zentriert, aber im Glauben, dass dies natürlich, von selbst, aus Gnade geschieht und nicht sein Werk ist.

Die Reise nach Syrien erfolgt nicht auf direktem Wege, sondern bringt Paulus zunächst nach Ephesus (VV19-21). Ephesus ist eine bedeutende Stadt des römischen Imperiums, Hauptstadt der römischen Provinz Asien und Sitz des Prokonsuls. Dank ihrem damals wichtigen, heute verlandeten Hafen ist Ephesus als Umschlagsplatz zwischen Okzident und Orient eine wirtschaftliche Metropole. Bereits zu Beginn seiner zweiten grossen Reise peilte Paulus vermutlich Ephesus an, merkte aber, dass er einen anderen Weg zu gehen hatte (Apg 16,7). In Ephesus verabschiedet sich Paulus von Priscilla und Aquila. Die beiden sollen vermutlich mit ihrer Werkstatt eine missionarische Basis aufbauen, auf die sich Paulus, sobald er von seiner Reise nach Syrien zurück ist, wird abstützen können. In Ephesus knüpft er selbst wie üblich an die Synagoge an und findet erfreuliche Resonanz. Jedenfalls wird er gebeten, für längere Zeit zu bleiben. Doch er will zuerst seine Reise abschliessen, bevor er sich wieder für längere Zeit niederlässt. Er stellt indes seine Rückkehr in Aussicht, so Gott will. Es ist klar, dass eine Reise nach Syrien risikoreich ist und keineswegs gesichert ist, dass alles plangemäss vonstattengeht. Mit dieser Zukunftsperspektive verlässt er Ephesus.

Vermutlich per Schiff gelangt er in den Grossraum Syrien (V22). Ziel dürfte Antiochia sein. Doch von Bord geht er in Cäsarea und zieht dann hinauf in die Gemeinde. Ihr Name wird im griechischen Text nicht genannt, doch die Wendung vom Aufsteigen in die Gemeinde kann sich nur auf Jerusalem beziehen. Dort begrüsst er die Gemeinde und steigt dann hinunter nach Antiochia. Was das Motiv des Besuchs ist und was Paulus dort erlebt, wird nicht erzählt. Bezüglich Jerusalem macht Paulus in seinen Briefen deutlich, dass ihm die finanzielle Unterstützung der Urgemeinde am Herzen liegt (vgl. 2Kor 8-9; Röm 15,25-33). In Antiochia war er früher tief verwurzelt (Apg 12,25; vgl. 13,1-3; 15,35), doch brach er unter Spannungen zu seiner zweiten Reise auf (Apg 15,40). Es scheint, dass sein Verhältnis zu Antiochia von Distanz geprägt geblieben ist.

Immerhin hält Lukas fest, dass Paulus einige Zeit in Antiochia bleibt, um dann aber erneut aufzubrechen (V23). Er scheint zunächst der Route seiner zweiten Reise zu folgen und so nach Galatien zu gelangen. Im wenig später geschriebenen Brief an die Galater erinnert er diese daran, dass er bei seinem ersten Besuch von einer Krankheit zu Boden geworfen wurde (Gal 4,13). Mindestens ein weiterer Besuch ist damit impliziert, auch wenn er ihn in seinem Brief nicht ausdrücklich erwähnt. Von Galatien führt ihn die Reise nach Westen durch Phrygien. Ziel ist offensichtlich Ephesus. Die Fortsetzung berichtet dann, was sich dort in Abwesenheit von Paulus ereignet (Apg 18,24-28).

Besinnen wir uns heute auf diese paar Verse, werden wir dazu aufgefordert, über den Zusammenhalt unter den christlichen Gemeinden und Kirchen nachzudenken. Was geben sie uns zu diesem Thema zu bedenken?

Die Grundlage des kirchlichen Zusammenhalts bildet die Verankerung in der bedingungslosen Gegenwart Gottes wie sie – folgen wir der lukanischen Logik – in der Geschichte von Jesus samt seiner Vorgeschichte im Alten Testament und seiner Nachgeschichte in der Kirchengeschichte reflektiert wird. Diese Grundlage ist jeden Moment natürlich, ganz von selbst, aus purer Gnade, gegenwärtig, doch das zu realisieren, ist ein Akt des Glaubens. Er steht in der Selbstverantwortung des Menschen und will entsprechend kultiviert sein. Paulus hat seinerzeit vor Damaskus erlebt, wie ihm der Auferstandene begegnet und sein Selbst zum Erwachen gekommen ist. Dennoch legt er in Korinth ein Gelübde ab und nimmt eine Phase der inneren Läuterung auf sich. Der Diamant, der in ihm zum Leuchten gekommen ist, bedarf, auch wenn er aus sich selbst leuchtet, der Reinigung. Diese Phase ist für ihn jedoch kein Selbstzweck, sondern eine Stärkung für die geplante Reise. Damit ist grundsätzlich klar: Was den kirchlichen Zusammenhalt der Glaubenden, ihre Einheit (vgl. Joh 17,21-24), ausmacht, ist das mystische Ereignis der Gegenwart Gottes, das unter Menschen, ja mit der ganzen Schöpfung, geteilt wird. Im Zentrum steht kein Glaubensbekenntnis, kein Moralkodex, keine Zugehörigkeit zu einem institutionellen Verbund oder einer Machtstruktur. Bringt die Gegenwart Gottes das nichtduale Selbst zum Erwachen, schafft dies die Motivation, es miteinander zu teilen.

Allerdings relativiert dies den eigenen Weg in die Gegenwart Gottes und integriert ihn in den grösseren Kontext der Kirchen aller Zeiten und Kulturen, ja der ganzen Schöpfung. Die Mystik Gottes ist zwar unmittelbar gegenwärtig, offenbart sich jedoch nur in kontingenten Kontexten. Paulus zeigt mit seiner Reise, dass er genau das nicht aus dem Blick verloren hat, sondern würdigen will. Er geht zwar zunächst nach Ephesus und bereitet dort seine spätere Mission vor Ort vor. Dennoch unterbricht er sein eigenes Werk, nimmt sich Zeit für eine beschwerliche Reise und bemüht sich um den Zusammenhalt im kirchlichen Kontext, in welchem sein Werk geschieht. In dieser postchristlichen Zeit manifestiert sich der christliche Glaube auf unzählige Weisen. Zuweilen irritiert, mit welcher Selbstverständlichkeit Glaubensaussagen buchstäblich für wahr gehalten, aus ihrem Kontext gerissen und zur Legitimierung eigener politischer Überzeugungen missbraucht werden. Besonders toxisch wird dies in Verbindung mit autokratischem Gehabe. So wird die eigene Meinung über Gut und Böse auf einmal zur Ideologie, die fraglos gilt und politische Gegner zum Feind im apokalyptischen Kampf erklärt. Zuweilen aber beeindruckt, wie der christliche Glaube die bedingungslose Freiheit des Moments stärkt, Angst vertreibt und für Liebe und Weisheit einsteht. Die Gegenwart Gottes reflektiert sich stets in Kontexten, und diese Reflexionen bleiben Stückwerk.

So verschieden, ja entgegengesetzt kirchliche Reflexionen des christlichen Glaubens sein können, so dezidiert verdanken sie sich dennoch ihren gemeinsamen geschichtlichen Wurzeln. Die konkreten Reflexionen des Glaubens in den unterschiedlichen Kirchen und deren Gemeinden sind wie Äste und Zweige eines Baums, deren Zusammenhalt durch ihre gemeinsamen Wurzeln gegeben ist. Lukas macht deutlich, was dies heisst. Er erzählt, dass Paulus die Urgemeinde in Jerusalem und die Gemeinde in Antiochia, von der er seinerzeit aufgebrochen ist, besucht. Ihre unterschiedlichen Reflexionen des Glaubens sind nicht erwähnenswert, wichtig ist einzig und allein die Kontaktpflege. Lukas lässt aber auch keine Zweifel daran, worauf es ihm ankommt: dass Paulus die Gemeinden besucht, die er gegründet hat, und dass ihm jener Weg am Herzen liegt, den Paulus mit seiner Mission für die bedingungslose Gegenwart Gottes gegangen ist. Ihm vor allem widmet er seine Apostelgeschichte. Beides ist damit auch in dieser postchristlichen Zeit für den Zusammenhalt des christlichen Glaubens bedeutsam: 1. die geteilte Gegenwart Gottes, die über alle Differenzen, Irritationen und Entfremdungen hinweg unmittelbare Einheit schafft und 2. das Kennen, Respektieren und Pflegen der gemeinsamen Wurzeln. Der Zusammenhalt christlicher Gemeinden und Kirchen bleibt damit eine Herausforderung.

Dieser Zusammenhalt ist in postchristlicher Zeit vielfach gefordert. Der Weg in die Gegenwart Gottes ist seine Zentralachse. Doch die Besinnung auf seine geschichtlichen Wurzeln, die kritische Auseinandersetzung mit den biblischen Grundlagetexten und das offene Debattieren von deren Interpretation kultivieren ihn und zeigen bis zum heutigen Tag die Kraft, die in diesem Glauben steckt. Beten wir deshalb, dass wir unser christliches Erbe zu verstehen lernen und mit der Gegenwart Gottes vertraut werden. Amen.

Predigt vom 19. Oktober 2025 in Wabern
Bernhard Neuenschwander

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