Der Gott, der die Welt geschaffen hat und alles, was darin ist, er, der Herr des Himmels und der Erde, wohnt nicht in Tempeln, die von Menschenhand gemacht sind, er lässt sich auch nicht von Menschenhänden dienen, als ob er etwas nötig hätte; er ist es ja, der allen Leben und Atem und überhaupt alles gibt. Aus einem einzigen Menschen hat er das ganze Menschengeschlecht erschaffen, damit es die Erde bewohne, so weit sie reicht. Er hat ihnen feste Zeiten bestimmt und die Grenzen ihrer Wohnstätten festgelegt, damit sie Gott suchen, indem sie sich fragen, ob er denn nicht zu spüren und zu finden sei; denn er ist ja jedem einzelnen unter uns nicht fern. In ihm nämlich leben, weben und sind wir, wie auch einige eurer Dichter gesagt haben: Ja, wir sind auch von seinem Geschlecht. Da wir also von Gottes Geschlecht sind, dürfen wir nicht denken, das Göttliche sei vergleichbar mit etwas aus Gold oder Silber oder Stein, einem Gebilde menschlicher Kunst und Erfindungsgabe. Apg 17,24-29
Das Teilen von Gottes Gegenwart macht glücklich. Wer in der Gegenwart Gottes ist, teilt diese mit allen Menschen, mit den Tieren, Pflanzen, Steinen und Metallen, mit Erde, Wasser und Luft, mit allem, was auf dieser Welt ist, aber auch mit den Planeten unseres Sonnensystems, mit Sonnen, Galaxien und den unfassbaren Weiten dieses Universums samt seinen Energiewellen und den Superpositionen in Wahrscheinlichkeitsfeldern. In Gottes Gegenwart ist alles, was es gibt, gegenwärtig, verbunden im grossen Spiel dieses Universums und verdichtet im Moment des Spielens. Dies zu realisieren, macht glücklich. Viel braucht es dazu nicht. Es genügt die Einsicht, im Spiel zu sein, mitzuspielen und dem Spiel seinen Lauf zu lassen. Die Gegenwart Gottes ist das grosse Integral, sie zu teilen, schafft Zugehörigkeit.
Es ist dieser postchristlichen Zeit zu verdanken, den christlichen Glauben aus seinem konfessionellen Gefängnis befreit zu haben. An die Stelle umfassender Geltungsansprüche von Glaubensaussagen ist eine neue Verbindlichkeit getreten: die Mystik der Gegenwart Gottes. Im Zentrum des Glaubens steht damit nicht mehr ein christliches Bekenntnis, kein Kodex moralischer Grundsätze, keine kirchliche Institution, welche Definitionsmacht beansprucht und das herrschende Narrativ der Epoche bestimmt. Die Mystik der Gegenwart Gottes stellt keine Machtansprüche ins Zentrum. Ihr Fokus auf das Geheimnis der Gegenwart setzt auf die Attraktivität unmittelbarer Präsenz, auf die Freiheit, die darin steckt, sowie auf ihre Liebe und Weisheit. Sie verzichtet auf jede vermittelbare Lehre und komplizierte Theorie und ermutigt stattdessen zu eigener Erfahrung und täglicher Praxis. Ihre Verbindlichkeit gründet in der Selbstevidenz von Gottes Gegenwart im Hier und Jetzt. Das christliche Erbe bleibt damit als Referenz zur Reflexion der eigenen Herkunft bedeutsam, weiss aber um die Begrenztheit religiöser Sprachspiele, verweist über sie hinaus und auf die Gegenwart Gottes in jedem Moment hin. Ein solcher mystischer Glaube ist christlich, insofern er sich dankbar auf sein christliches Erbe bezieht. Doch er ist erst recht postchristlich, insofern er sich selbst entwachsen ist, die Fesseln der Exklusivität abgestreift hat und alles daransetzt, dass Gott als dem Geheimnis der Gegenwart nichts im Wege steht.
Was sich heute auf diese Weise als neue Verbindlichkeit offenbart, ist im christlichen Erbe angelegt. Gesät wurde hier vor langer Zeit, was nun in dieser postchristlichen Zeit ungehindert erblühen kann. Unser Predigttext macht dies deutlich.
Er gibt in direkter Sprache den ersten Hauptteil jener Predigt wieder, die Paulus in Athen auf dem Areopag gehalten hat und heute eine der berühmtesten Reden des Neuen Testaments ist. Die Predigt ist von lukanischer Theologie eingefärbt und wird kaum paulinischer Originalton sein. Sie beginnt mit einer Einführung, welche die Botschaft des Paulus an die philosophisch gebildete Hörerschaft anbinden will. Paulus erzählt da, dass er sich in Athen umgesehen, all die Heiligtümer angeschaut und einen Altar gefunden hat, der dem «unbekannten Gott» gewidmet sei. Er nimmt also in Blick, dass hier in Athen ein Verständnis dafür vorhanden ist, dass selbst eine polytheistische Frömmigkeit nicht alles abdeckt. Die Offenheit für den unbekannten Gott, den nicht zu kennen sie freimütig eingestehen, würdigt er, doch nimmt er in Anspruch, ihnen genau diesen zu verkündigen. Er behauptet damit nicht, das Geheimnis jenes unbekannten Gottes gelüftet zu haben und ihnen nun als Philosophie zu lehren, wohl aber, verbindlich für ihn einzustehen (Apg 17,22b-23).
Hier setzt unser Predigttext ein. Er wendet sich zunächst dem Thema «Gott und Welt» zu (VV24-25). Der Gott, den Paulus verkündet, ist der Gott, der die Welt (τὸν κόσμον) und alles, was darin ist, geschaffen hat. Anders als im hebräischen Denken üblich ist zunächst nicht von Himmel und Erde die Rede, sondern vom griechischen Kosmos, der alles, was es gibt, umfasst. Doch Gott wird als Schöpfer präsentiert, also als derjenige, der ganz anderes ist als der geschaffene Kosmos. Er ist nämlich der Herr des Himmels und der Erde. Als Schöpfer steht er über seinen Geschöpfen. Es ist deshalb undenkbar, dass er in Tempeln wohnt, die von Menschenhand gemacht sind. Was von Menschen gemacht ist, vermag das, was sie geschaffen hat, nicht zu fassen. Ebenso lässt er sich nicht von Menschen dienen, als ob er etwas nötig hätte. Er hat keine Bedürfnisse wie die Geschöpfe. Denn er ist es ja, der Leben und Atem und überhaupt alles gibt. Die Argumentation bewegt sich also in einem Rahmen, der ebenso für hebräisches, wie für griechisches Denken nachvollziehbar ist. Die Bedürfnislosigkeit Gottes zeigt sich in der Tradition der griechischen Philosophie, etwa bei Plato und Plutarch, spiegelt sich aber ebenso im Alten Testament, etwa in der Unangemessenheit des Opferkults (Ps 50,8-13).
Der zweite Strang wendet sich dem Thema «Gott und Mensch» zu (VV26-29). Er stellt zunächst heraus, dass Gott alle Menschen ohne wesentliche Unterschiede geschaffen hat. Aus dem Prototyp eines Menschen – der Bezug zu Adam liegt auf der Hand (Gen 2) – hat er das ganze Menschengeschlecht erschaffen, damit es die Erde bewohne, so weit sie reicht. Der Blick ist universalistisch, alle Menschen überall auf dieser Erde sind als Menschen wie Adam Geschöpf Gottes. Gott hat ihnen feste Zeitstrukturen gesetzt und den Raum zum Wohnen festgelegt. Dabei hat er ein Ziel verfolgt: Sie sollen ihn im Hier und Jetzt von Raum und Zeit suchen und sich fragen, ob er nicht zu spüren und finden sei. Denn er ist ja jedem einzelnen unter uns, also allen Anwesenden, unabhängig von ihrer konkreten Herkunft oder Denkweise, nicht fern. Als Geheimnis der Gegenwart ist er vielmehr jedem näher als dieser sich selbst. In Gott leben, weben und sind wir, ja noch mehr: Wir sind vom Gottes Geschlecht. Mit Recht verweist Paulus darauf, dass dies auch von einigen griechischen Dichtern vertreten wird, etwa von Aratos von Soloi (so im Vorwort seiner «Phainomena»). Ist Gott als Schöpfer zwar ganz anders als seine Geschöpfe, so schafft er als Geheimnis der Gegenwart doch zugleich eine Verbundenheit, die verbindlicher nicht sein könnte. Deshalb dürfen wir, die wir von Gottes Geschlecht sind, nicht denken, das Göttliche (τὸ θεῖον) sei vergleichbar mit etwas aus Gold oder Silber oder Stein, einem Gebilde menschlicher Kunst und Erfindungsgabe. Das Göttliche hat als Geheimnis der Gegenwart eine Verbindlichkeit, die in aller Materie zu erkennen ist, dabei jedoch unverfügbar bleibt.
Nach diesen Ausführungen macht die Fortsetzung deutlich, worum es Paulus aus Sicht des Lukas im Grunde geht: das Hier und Jetzt zu erkennen und umzukehren. Entscheidend ist für ihn nicht eine Theorie, sondern die unmittelbare Erfahrung im praktischen Leben. Doch die Erklärung, die der lukanische Paulus dazu liefert, wird deutliche Reaktionen auslösen (V30-34).
Das heutige Nachdenken über diesen Bibeltext ermutigt uns dazu, über jene Verbindlichkeit nachzudenken, die als Geheimnis dieses Universum jeden Moment gegenwärtig ist, in unserem Predigttext profiliert wird und in dieser postchristlichen Zeit zum Erblühen kommen will.
Diese Verbindlichkeit ist zwar jeden Moment gegenwärtig, doch muss sie wie ein Rohdiamant zuerst freigelegt und geschliffen werden, bevor sich ihre Attraktivität entfalten kann. Ohne Bereitschaft, die dominanten Machtfelder des Alltags zu durchschauen, kann sie schwerlich gefunden werden. Paulus bringt dies messerscharf auf den Punkt. Die Altäre der polytheistischen Religiosität Athens repräsentieren die Fülle kosmischer Machtfelder. Er stellt nicht in Abrede, dass diese vorhanden und wirksam sind. Doch er appelliert an die Einsicht, durch sie hindurchzuschauen und zu verstehen, dass sie nicht vollständig abdecken, was die Wirklichkeit hier und jetzt ausmacht. Er gibt den Athenern zu bedenken, dass der Altar für den «unbekannten Gott» genau dies in Erinnerung ruft. Neue Verbindlichkeit ist damit noch keine geschaffen. Noch dominiert das Kräftemessen zwischen den verschiedenen Machtzentren. Doch die Sehnsucht ist geweckt, dass Powerplay nicht alles und mehr möglich sein könnte. Erst damit ist die Option für jene Verbindlichkeit gegeben, die in der Mystik der Gegenwart Gottes zur Geltung kommen will.
Diese Verbindlichkeit entsteht in dem Augenblick, in welchem das unfassbare Geheimnis des Universums im Hier und Jetzt unmittelbar gegenwärtig wird. Alle kosmischen Machtfelder sind damit augenblicklich vom Strahl der unmittelbaren Gegenwart Gottes durchleuchtet und in ihren Machtansprüchen relativiert. Paulus versucht dies mit dem Bild von Gott als dem Schöpfer dieses Kosmos zu illustrieren. Er verweist damit auf jenes nichtduale Geheimnis, das ganz anders als die Zweiheit von Himmel und Erde ist, nicht in menschgemachten Tempeln wohnt, nicht dem Menschen verfügbar ist, nicht in die Dialektik von Herr und Knecht verstrickt ist, nicht bedürftig ist wie Menschen. Was er verkündet, ist nicht in menschlichen Bildern, nicht in Kategorien wie Personalität und Apersonalität zu fassen, sondern es ist jene unmittelbare Gegenwart, die alles Leben und Atmen, ja allem, was ist, seine Zeit gibt. Erst diese radikale Negation von allem geschaffenen Dies und Das läutert von allem, was der Unmittelbarkeit der nichtdualen Gegenwart im Weg steht und das Bild vom Schöpfergott anzudeuten versucht. Wer dies erfährt, kann sich seiner Dringlichkeit und Selbstevidenz nicht entziehen. Die Verbindlichkeit von Gottes nichtdualer Gegenwart erfasst unmittelbar.
Diese Verbindlichkeit wird im Menschen genau dort und dann aktiviert, wo Gottes Gegenwart von allem Geschöpflichen geläutert ist und zur unmittelbaren Erfahrung wird. In diesem Augenblick wird sogleich klar, dass die nichtduale Gegenwart Gottes nicht im Gegensatz zur Dualität von Dies und Das steht, wie sie dieses Universum prägt, sondern mitten darin gegenwärtig ist. Wird dies realisiert, wird die Gegenwart Gottes augenblicklich zur neuen Verbindlichkeit, mit der die Wirklichkeit gelesen wird. Paulus verweist aufgrund dieser mystischen Erfahrung darauf, dass alle Menschen überall auf der Welt vom gleichen Schlag sind, weil sie wie Adam ganz unmittelbar in Gottes Gegenwart Gottes stehen. Ihnen sind Räume und Zeiten gesetzt, um im Hier und Jetzt Gott als Geheimnis der Gegenwart zu erkennen. Diese Erkenntnis ist an keine bestimmten heiligen Texte gebunden, sondern jedem Menschen unabhängig von seinem wie auch immer bedingten Hintergrund zugänglich. Menschen, ja alle Geschöpfe, sind aufgrund der nichtdualen Gegenwart Gottes in ihnen gleichsam von Gottes Geschlecht, verbunden auf je ihre Weise durch dieselbe Unmittelbarkeit. Wie könnte ich da Gold oder Silber oder Stein, irgendein Gebilde menschlicher Kunst und Erfindungsgabe vergöttlichen? Ist das nichtduale Geheimnis Gottes im Hier und Jetzt zum verbindlichen Ansatz meiner Wirklichkeit geworden, wird all dies in den Schatten gestellt, und an ihre Stelle ist jene Unmittelbarkeit getreten, die sich in Worten nicht fassen lässt, im Hier und Jetzt aber mit ihrer Attraktivität überzeugt.
Es ist genau diese Attraktivität, die das Teilen von Gottes Gegenwart auch in dieser postchristlichen Zeit zur beglückenden Erfahrung macht. Das Geheimnis des Moments machte jeden Augenblick dank seiner Freiheit und Schönheit, seiner Liebe und Weisheit zu einem glücklichen Moment, wie auch immer die Umstände sind. Diese Attraktivität mit anderen Menschen, ja mit allem, was es gibt, zu teilen, schafft Verbundenheit und Resonanz, vervielfacht das Glück und bringt den Moment zum Klingen und Glitzern. Beten wir also, dass wir dieses Geheimnis des Augenblicks kennen lernen und von seiner Verbindlichkeit erfasst werden. Amen.
Predigt vom 3. August 2025 in Wabern
Bernhard Neuenschwander