Durch ihn wird euch Vergebung der Sünden verkündigt. Von allem, wovon ihr durch das Gesetz des Mose nicht freigesprochen werden konntet, wird jetzt jeder, der glaubt, in ihm freigesprochen. Apg 13,38-39
Die Gegenwart Gottes ist wie das Glitzern der Sonne im Morgentau: ein Hier und Jetzt ohne Raum und Zeit. Wie könnte ich einen solchen Moment fassen? Ruhig und unaufgeregt liegt der Morgentau auf den Blättern der Kapuzinerkresse vor meinem Küchenfenster. Das Licht der aufgehenden Sonne spiegelt sich in ihm und bringt den kleinen Wassertropfen zum Funkeln. Ganz unmittelbar fällt er mir ins Auge. Ich kann ihn nicht übersehen. Es glitzert ein Stern auf dem Grün, und ich weiss nicht: Schau ich auf die Erde oder schau ich in den Himmel? Durchsichtig geworden ist der Moment. Ich weiss doch, dass es Morgen ist und dass ich in meiner Küche zum Fenster hinausschaue. Wach und aufmerksam bin ich da, und doch öffnet sich darin ein Moment ohne Raum und Zeit, ohne Worte und Gedanken, ein Moment der Fülle, die kein Grösser oder Kleiner kennt und völlig offensichtlich ist.
Solche geschenkten Momente zeigen es überdeutlich: Gottes Gegenwart wirkt durch ihre reine Präsenz. Sie greift nicht ein in den Lauf der Zeit, sie setzt die Gesetze dieses Universums nicht ausser Kraft, und sie verhindert nicht, was der Zufall an Glück und Pech bereithält. Wie könnte ich erwarten, dass Gott mit seiner Gegenwart das Spiel der Evolution auf ein Ziel hinsteuert? Gottes Gegenwart ist nicht in Kategorien wie Gut und Böse zu fassen. Sie sorgt nicht für dieses, und sie kämpft nicht gegen jenes. Doch wenn Gott gegenwärtig wird wie das Glitzern der Sonne im Morgentau, zeigt sich mitten im Zufall Freiheit – Freiheit, die hier und jetzt von jedem Dies und Das befreit, Freiheit, die mit Liebe zur Weisheit erfüllt, Freiheit, die spielt und tanzt und singt. Diese Freiheit macht Freude. Sie schafft den Moment, sie schafft dieses Universum, sie schafft das Spiel der Evolution. Werde ich von ihrer Spielfreude erfasst, verstehe ich, dass alles sein kann und nichts sein muss. Ich werde frei – frei zum Spiel des Lebens. Glitzert die Sonne im Morgentau, ist das ganze Universum da, und die Tür zu seinem Spiel steht weit offen.
Was diese fast schon poetischen Worten andeuten, versucht unser Predigttext auf prosaische Weise zu erläutern. Versuchen wir, ihm auf die Spur zu kommen!
Er steht in der ersten grossen Pauluspredigt der Apostelgeschichte. Es ist Sabbat. Paulus befindet sich zusammen mit Barnabas in Antiochia in Pisidien in einem jüdischen Gottesdienst. Das Leitungsgremium der dortigen Synagoge fordert ihn zum Sprechen auf. Er packt seine Chance und macht sich daran, seine Botschaft einem gemischten Publikum jüdischer und nichtjüdischer Herkunft nahebringen. Im ersten Teil seiner Predigt spricht er davon, dass Gott bereits in der Vergangenheit in Israel gegenwärtig gewesen ist und dass diese Gegenwart für Israel ein Segen gewesen ist (Apg, 13,16-25). Der zweite Teil konzentriert sich auf die Gegenwart Gottes in Jesus Christus. Seine Pointe ist die Botschaft von dessen Auferstehung von den Toten. Er macht deutlich, dass der Auferstandene das Zeichen dafür ist, dass Gott im Hier und Jetzt, aber frei von Raum und Zeit unmittelbar gegenwärtig ist (Apg 13,26-37). Der nun folgende dritte Teil versucht, diese Botschaft weiter zu erläutern.
Unser Predigttext befindet sich in diesem dritten Teil. Er spricht die Anwesenden erneut an (vgl. V16.26) und gibt ihnen zu verstehen, dass nun die entscheidende Botschaft kommt (V38). Was folgt, ist eine lukanisch gefärbte Kurzfassung dessen, was heute als paulinische Rechtfertigungslehre bezeichnet wird. Paulus spricht in seinen Briefen auf verschiedene Weise davon. In ihr verdichtet sich sein Verständnis des christlichen Glaubens. Wie also zeigt sich hier diese Botschaft?
Paulus hält zunächst fest, dass durch ihn, also durch Christus, die Vergebung der Sünden verkündet wird (V38a). Mit Sünde meint Paulus die Verstrickung in die Geschichten der Welt. Bin ich verstrickt, bin ich nicht mehr frei und unbefangen in der Gegenwart Gottes. Meine Wachheit für den Moment ist getrübt, die Dinge, die ich erlebe, bringen mich durcheinander, ich verliere mich an vergangene Erlebnisse und lasse mich von Erwartungen an und Befürchtungen vor der Zukunft gefangen nehmen. Vergebung der Sünde meint die Befreiung aus dieser Verstrickung. Ich lasse los, was mich gefangen nimmt, werde frei, in der Gegenwart Gottes zu sein und die Fülle des Moments wahrzunehmen. Ermöglicht wird dies, sagt Paulus, durch ihn, also durch Christus. Denn Christus ist der Meister der Gegenwart Gottes. Ist er in mir gegenwärtig, wird er in mir zum inneren Meister, der mir die Tür zur Gegenwart Gottes öffnet, sodass ich wieder frei im Hier und Jetzt sein kann. Das ist der Grundgedanke seiner Botschaft.
Diese Botschaft verdeutlicht er im Folgenden vor einer Negativfolie (V38b). Das Gesetz des Mose hat diese Befreiung nur ungenügend geschaffen. Seine Weisheit hätte eine Hilfe sein sollen, in der Gegenwart Gottes zu leben. Unnütz ist es nicht (vgl. Lk 16,16f). Doch das Gesetz ist Last und Druck geworden und hat nicht immer in die befreiende Gegenwart Gottes, sondern in die Verstrickung geführt. Deshalb spricht Paulus nun vom Glauben als Ausweg (V39). Wer sich nämlich für den Glauben öffnet, der kann in Christus die Last des Gesetzes abschütteln und in die Freiheit der Gegenwart Gottes gelangen. Der Glaube ist also jene Präsenzerfahrung, in welcher ich in Christus frei in der Gegenwart Gottes bin. Geschieht dies, wird der Moment durchsichtig, und ich erlebe die Fülle des Augenblicks.
In der Fortsetzung kommt Paulus zum Schluss seiner Predigt und gibt zu bedenken, dass diese Befreiung zur Gegenwart Gottes ernst genommen und nicht geringgeschätzt werden soll (VV40f). Er verweist auf ein Prophetenwort, das im Kontext, in dem er es nun verwendet, an die Verächter der Gegenwart Gottes gerichtet ist und sie davor warnt, sich nicht zu wundern, wenn sie mit etwas konfrontiert werden, das sie nicht erwartet haben (Hab 1,5). Was er damit sagen will, ist klar: Wer den Moment aus den Augen verliert, muss mit unangenehmen Überraschungen rechnen. Offenbar macht Paulus mit seiner Predigt Eindruck. Beim Hinausgehen aus der Synagoge wird er gebeten, am nächsten Sabbat mehr von diesen Dingen zu erzählen (V42). Viele Juden und ihnen Nahestehende folgen Paulus und Barnabas; diese sprechen mit ihnen und fordern sie auf, sich an die Gnade Gottes zu halten, also an seine bedingungslose Gegenwart, die ganz von selbst, aus purer Freiheit, mit ihrer Liebe und Weisheit in jedem Hier und Jetzt da ist.
Soweit unser Predigttext. Wir erinnern uns an die Poesie vom Morgentau, und wir haben Gelegenheit, uns zu überlegen, was das eine mit dem andern zu tun hat. Nehmen wir uns einen Moment Zeit, dem auf die Spur zu kommen!
Die Poesie vom Morgentau und die alte Botschaft der Bibel klingen völlig verschieden. Ihre Sprache, ihre Denkweise wirkt so anders, dass der Eindruck entsteht, sie hätten nichts miteinander zu tun. Doch der Eindruck trügt. Es gibt eine grosse Schnittmenge. In beidem geht es darum, dass sich ein Hier und Jetzt ohne Raum und Zeit öffnet. Sehe ich das Glitzern der Sonnenstrahlen im Morgentau, weiss ich es sogleich. Seine Poesie berührt mich unmittelbar. Doch was in einem solchen Moment aufleuchtet, zeigt mir, dass ich zu etwas viel Grösserem gehöre: zu einem Spiel, das in diesem Universum ständig gespielt wird. Im Moment, in welchem ich die Sonne im Morgentau glitzern sehe, fliegen die Würfel, Raum und Zeit sind unscharf, und es öffnet sich im Zufall eine Freiheit, die ich nicht fassen kann. Ist der Moment vorbei, sind die Würfel gefallen, und ich weiss, was Sache ist. Doch dieser Moment, dieser Moment, in welchem die Freiheit der fliegenden Würfel in mir aufblitzt, dieser Moment ist ein religiöser, ein mystischer Moment, ein Moment, der mich mit dem Geheimnis der Gegenwart, oder christlich formuliert: mit der Gegenwart Gottes, vertraut macht. In solchen Momenten treffen sich Poesie und Religion, in solchen Momenten wird Religion poetisch und die Poesie religiös.
Solche Momente sie Freiheitsmomente. Das Glitzern der Sonne im Morgentau macht sie mir unmittelbar spürbar. Doch wie mache ich mich mit einem solch flüchtigen Moment vertraut? Wie verstehe ich jenes Spiel des Universums, in welchem ich mich auf einmal wiederfinde? Wie spreche ich von ihm? Und wie teile ich eine solche Erfahrung mit anderen Menschen? Genau diese Fragen haben auch Paulus und die anderen Autoren der Bibel beschäftigt. Unser Predigttext macht den Versuch, diese Freiheit als Vergebung der Sünde zu interpretieren. Für uns heute sind diese Worte so belastet, dass wir sie kaum noch benützen können. Aber was sie meinen, ist dennoch hochaktuell: eben die Befreiung von der Verstrickung, um unbefangen im Moment zu sein. Erlebe ich sie, ist es offensichtlich: Sie tut gut. Sie stärkt Körper und Geist, und sie nährt die Seele – wie auch immer die Würfel im Spiel gerade fallen. Bin ich von der Freiheit der fliegenden Würfel und ihrer Spielfreude erfasst, kann ich spielen, tanzen und singen, und ich weiss, dass das Spiel ereignisoffen ist und jeden Moment weitergeht.
Dies Schicht für Schicht ins eigene Leben zu integrieren und jeden Moment in dieser Spielfreude zu leben, ist ein Weg. Morgentau ist Proviant für den Tag. Er gibt meiner Seele das Wasser und die Kraft, heute meinen Weg zu gehen. Doch gibt es auch eine Struktur, die mich ständig mit Proviant versorgt, um in der Freiheit des Moments zu leben und im Spiel des Universums mitzuspielen? Paulus bietet den Glauben an Christus als Proviant an. Bin ich in Christus, dem Meister des Wegs in die Gegenwart Gottes, sprudelt die Quelle, die mich jeden Moment mit Morgentau versorgt (vgl. Joh 4,14). In diesem Glauben finde ich die Freiheit der Gegenwart Gottes und nehme jeden Tag als Spiel, in diesem Glauben bin ich verbunden mit der Liebe Gottes zur Weisheit und suche spielend meinen Weg. Solcher Glaube ist etwas anderes als das Für-wahr-halten einer Information, die ich nicht überprüfen kann: Solcher Glaube ist die Klarheit, die mir die Augen für jenen Morgentau öffnet, der auf jedem Moment liegt, und mich mit der Freiheit der fliegenden Würfel ins Hier und Jetzt bringt.
Was wäre das Leben von uns Menschen dieser postchristlichen Zeit ohne die Poesie vom Morgentau und ohne die Freiheit der Gegenwart Gottes? Freuen wir uns also darüber und lassen wir uns davon erfassen! Beten wir deshalb, dass uns die Poesie dieser Freiheit zum Singen und Tanzen bringt und mit ihrer Spielfreude erfüllt. Amen.
Predigt vom 3. November 2024 in Wabern
Bernhard Neuenschwander