Referenzpunkt

Referenzpunkt

Er blieb nun einige Tage bei den Jüngern in Damaskus und verkündigte sofort in den Synagogen, dass Jesus der Sohn Gottes sei. Alle, die davon hörten, waren fassungslos und sagten: Ist das nicht der, der alle, die diesen Namen anrufen, in Jerusalem ausrotten wollte? Und ist er nicht zu diesem Zweck hierher gekommen, um sie auch hier gefangen zu nehmen und vor die Hohen Priester zu führen? Saulus aber trat umso entschiedener auf und versetzte die Juden, die in Damaskus wohnten, in grosse Verwirrung, indem er ihnen bewies: Dieser Mann ist der Gesalbte. Nachdem darüber einige Tage vergangen waren, beschlossen die Juden, ihn zu töten. Saulus aber erhielt Kenntnis von ihrem Plan; sie liessen sogar die Stadttore Tag und Nacht überwachen, in der Absicht, ihn zu töten. Die Jünger aber nahmen ihn und liessen ihn nachts über die Mauer entkommen, indem sie ihn in einem Korb hinunterliessen. Apg 9,19b-25

Gott als Geheimnis dieses Universums ist der unverbrüchliche Referenzpunkt in den Irrungen und Wirrungen des Lebens auf dieser Erde, ja im ganzen Universum. In diesem Geheimnis sind Wahrscheinlichkeitsfelder unabhängig von Raum und Zeit und Ereignisse in Raum und Zeit, also unsere Erde samt den Elementarteilchen und dem Universum mit seinen Sternen und Galaxien, zu einem unfassbaren Punkt verdichtet. Es ist der Punkt jenseits jeder Dualität und doch mitten darin – der Punkt von nichts und allem. Das bloss Wahrscheinliche und das Wirkliche steht in seinem Gravitationsfeld und ist seiner Kraft ausgesetzt, und beides, das nur Wahrscheinliche und das Wirkliche, wird von ihm erschaffen und kommt in ihm zu seiner Zeit. Jeder Moment offenbart Gott als das Geheimnis dieser unfassbaren Dynamik des Universums.

Der christliche Glaube erinnert an diesen unfassbaren Referenzpunkt, und er verweist darauf, dass Jesus Christus eine fassbare Momentaufnahme von ihm ist. Diese Momentaufnahme macht deutlich, dass Gott jeden Moment gegenwärtig ist, ganz konkret, in jedem Hier und Jetzt, aber dass der Augenblick nur der winzige Zipfel von Gott als dem unfassbaren Geheimnis des Universums ist. Der christliche Glaube fordert dazu auf, für diese Momentaufnahme Gottes in Jesus einzustehen, sich mit ihrem Geheimnis vertraut zu machen und den Segen aufzuzeigen, der in ihr steckt. Er gibt zu bedenken, dass Jesus für alle zum inneren Meister werden und dass auf diese Weise Gott für alle zum Referenzpunkt werden kann. Sein Anspruch ist nicht exklusiv. Jesus ist nicht die einzige Momentaufnahme Gottes. Aber er ist eine, die Kraft hat und alle, die sich auf ihn einlassen, unmittelbar ins Kraftfeld vom Geheimnis der Gegenwart Gottes stellt. Daher hat der christliche Glaube über Jahrhunderte eine enorme Wirkung erzielt.

Dies hat sich in unserer postchristlichen Zeit nicht geändert. Wo Jesus Christus zum inneren Meister wird, ist das segensreiche Kraftfeld Gottes unmittelbar aktiv. Geändert hat sich indes die Einsicht, dass Gott als Geheimnis des Universums tatsächlich der Referenzpunkt von allem ist und dass Jesus als innerer Meister effektiv in dessen Kraftfeld stellt. Die Postmoderne hat sich von Objektivität und Autorität verabschiedet und dafür Mehrperspektivität und Subjektivität ins Zentrum gestellt. Dieser stürmische Befreiungsprozess hat vermeintliche Gewissheiten pulverisiert, falsche Überzeugungen und Illusionen verabschiedet und eine neue Unübersichtlichkeit geschaffen. Doch Gott als Geheimnis des Universums ist frei von diesen Erschütterungen der Postmoderne, und Jesus Christus stellt als dessen Momentaufnahme weiterhin jeden Moment in dessen Kraftfeld. Wir könnten wir aufhören, für diesen Referenzpunkt einzustehen!

Unser Predigttext erzählt aus prächristlicher Perspektive, was geschieht, wenn man dies tut. Zu denken gibt dies auch in unserer postchristlichen Zeit. Protagonist ist Saulus, der später Paulus heisst. Voraus geht unserem Predigttext die Erzählung von seiner Erleuchtung (Apg 9,1-19a). Als Verfolger der urchristlichen Gemeinde ist er in Jerusalem aufgebrochen, um in Damaskus und legitimiert durch ein Schreiben des Hohen Priesters alle, Männer und auch Frauen, die sich zum neuen Glauben bekennen, gefesselt nach Jerusalem zurückzubringen. Doch kurz vor Damaskus widerfährt ihm ein mystisches Ereignis. Wie ein Blitz fährt es durch ihn, und er realisiert, dass sich ihm das Geheimnis der Gegenwart Gottes in jenem Jesus offenbart, den er verfolgt. Er braucht drei Tage, um sich vom ersten Schock zu erholen. Erst durch die Begegnung mit Ananias, der verstanden hat, was ihm widerfahren ist, beginnt auch er zu verstehen, dass diese Erleuchtung für ihn die Umkehr seines bisherigen Lebens und die Berufung zu einem neuen Leben ist.

Hier setzt unser Predigttext ein. Vorerst bleibt Saulus noch einige Tage bei den Menschen, die den neuen Glauben an Jesus teilen, in Damaskus (V19b). Doch Lukas erzählt, dass Saulus sofort damit anfängt, in den Synagogen zu verkünden, dass Jesus der Sohn Gottes sei. Die Erleuchtung, die ihm widerfahren ist, lässt ihm keine Wahl: Saulus ist das auserwählte Werkzeug, um für den Namen von Jesus Christus, dem Nazarener, vor Völkern, Königen und auch vor den Israeliten einzustehen (Apg 9,15), und für Lukas ist wichtig, herauszuheben, dass sich Saulus sofort daran macht, dies zu tun. Doch dies sorgt für Fragen (V20). Alle, die davon hören, sind fassungslos. Verwundert stellen sie fest, dass Saulus doch derjenige ist, der alle, die diesen Namen anrufen, in Jerusalem ausrotten wollte und dass er auch derjenige ist, der nach Damaskus gekommen ist, um sie gefangen zu nehmen und vor den Hohen Priester zu führen. Saulus lässt sich davon nicht verunsichern (V21). Vielmehr ist sein Auftritt umso entschiedener, und er versetzt die Juden, die in Damaskus wohnen, in grosse Verwirrung, indem er darlegt, dass dieser Jesus der Gesalbte, der Christus, ist.

Die Situation zieht sich etwas hin, doch nach einigen Tagen beschliessen die Juden Saulus zu töten (V23). Sie kennen seinen Eifer, und seine plötzliche Kehrtwendung betrachten sie als Bedrohung. Saulus aber wird gewarnt (V24). Er erhält Kenntnis von ihrem Plan; die Stadttore werden sogar Tag und Nacht bewacht, um ihn abzufangen und zu töten. Doch Menschen der christlichen Gemeinde, die von seinem Einstehen für Jesus überzeugt sind, helfen ihm (V25). Sie setzen ihn in einen Korb und lassen ihn darin nachts über die Stadtmauer entkommen. Saulus, der als gefürchteter Verfolger von Jesus und der Menschen, die zu ihm stehen, nach Damaskus gekommen ist, verlässt die Stadt als Verfolgter um dessen Namen willen, und zwar kleinlaut durch die Hintertür.

Was anschliessend geschieht, ist nicht ganz klar. Die Erzählung von Lukas in der Apostelgeschichte erweckt den Eindruck, dass Saulus sogleich nach Jerusalem zurückkehrt und sich der christlichen Gemeinde anzuschliessen versucht, dass sich diese aber mindestens zu Beginn vor ihm fürchtet (Apg 9,26). Saulus als Paulus erzählt jedoch, dass er nach seiner Erleuchtung gerade nicht nach Jerusalem hinaufzieht, sondern drei Jahre in Arabia bleibt und erst dann nach Damaskus zurückkehrt (Gal 1,17). Auch berichtet er davon, dass der Statthalter Aretas die Stadttore bewachen lässt, um seiner habhaft zu werden, dass er aber in einem Korb über die Stadtmauer heruntergelassen wird und entkommen kann (2Kor 11,32f). Die Vermutung legt sich nahe, dass Saulus – historisch betrachtet – erst bei seinem zweiten Besuch in Damaskus mit dem Korb flüchten musst. Unser Predigttext stellt die Situation indes so dar, dass Saulus nach dem ersten Schock über die Erleuchtung, die ihn völlig unvorbereitet heimgesucht hat, rasch damit anfängt, für Jesus einzustehen, und deswegen sogleich Leid auf sich nehmen muss (vgl. Apg 9,16). Lukas hebt also sein Engagement und seine Leidensbereitschaft heraus.

Aus heutiger Sicht ist unser Predigttext spannend, weil er exemplarisch aufzeigt, was sich in einem mystischen Ereignis offenbart. Der Sinngehalt, der darin steckt, ist offensichtlich auch heute noch keineswegs erschöpft.

Ein solches Ereignis schafft die unumstössliche Gewissheit von Trost. Es offenbart, dass Gott als Geheimnis des Universums Referenzpunkt des nur Wahrscheinlichen und des Wirklichen ist. Als Geheimnis bleibt es völlig unfassbar, und doch ist die Momentaufnahme, in welcher es sich offenbart, völlig zweifelsfrei. Saulus ist davon komplett überwältigt, und es ist für ihn völlig klar, dass sich Gott in Jesus zeigt und dass in Jesus Gott gegenwärtig ist. Blitzartig kommt er zur Erleuchtung, und blitzartig versteht er, dass dies dasjenige ist, an welchem sich alles ausrichtet. Den Rest des Lebens ist er als Paulus damit beschäftigt, diese blitzartige, ihn total überfordernde Einsicht zu verstehen und zu leben. Dabei wird ihm klar, dass sie der Referenzpunkt ist, der Trost in allen Hochs und Tiefs des Lebens gibt: «Denn ich bin mir gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Gewalten, weder Hohes noch Tiefes noch irgendein anderes Geschöpf vermag uns zu scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.» (Röm 8,38f). Und diese Liebe ist «Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes» (Röm 11,33). Gott als Geheimnis des Universums durchdringt mit seiner Güte und Weisheit nur Wahrscheinliches und Wirkliches, und wo seine Gegenwart einschlägt, wird er zur Gewissheit. Als solches ist er der unverbrüchliche Referenzpunkt, der jeden Augenblick Trost schafft.

Sodann ist ein solches mystisches Ereignis überhaupt kein Anlass für Stolz, vielmehr aber für Demut. Seine Nachhaltigkeit wird mit jeder Leidenserfahrung auf die Probe gestellt. Und dafür ist gesorgt. Bereits Lukas weist unmittelbar nach seiner Erzählung von der Erleuchtung des Saulus darauf hin, dass dieser um des Namens Jesu willen viel wird leiden müssen (Apg 9,16). Mit seinem Bericht, dass Saulus nur wenig später aus Damaskus fliehen muss, macht er sofort deutlich, dass dies sehr konkret zu verstehen ist. Saulus als Paulus reflektiert das Thema, indem er darauf besteht, dass er sich nur seiner Schwachheit rühmen will. Auch er hat seinen Stachel im Fleisch, doch er hat begriffen, dass ihm die Gnade der Gegenwart Gottes genügt und dass ihre Kraft die Vollendung in der Schwachheit findet (2Kor 12,1-10). Die Erleuchtung von Gott als dem Geheimnis des Universums muss sich jeden Moment neu bewähren. Sie macht zwar ihre Liebe und Weisheit evident und offenbart jeden Moment ihr Trostpotential. Doch wer dafür einsteht, muss dies auch im Angesicht von Einsamkeit und Leid, Kritik und Feindschaft tun. Stolz trägt da nicht weit, wohl aber jene Demut, die sich jeden Moment Gott verdankt.

Schliesslich ist dies eine reine Gnadenerfahrung, die in sich selbst begründet ist und aus sich selbst geschieht. Sie lässt sich weder instrumentalisieren noch für eigene Zwecke verfügbar machen. Gott als Geheimnis des Universums schafft Verschränkungen zwischen Menschen und synchrone Ereignisse, die keinen erklärbaren Grund haben. Doch jede gewaltsame Manipulation zerstört sie, jede ideologische oder populistische Vereinnahmung zerbricht sie. Sie legitimiert keine terroristischen Aktionen und motiviert nicht zu blindem Gehorsam. Saulus als Paulus steht deshalb für den Weg der Liebe ein, der jeden Moment in der Gegenwart Gottes neu wahrnimmt und sich von nichts als dieser Wahrnehmung führen lässt (1Kor 12,31ff). So verstandene Gegenwart Gottes kann weder durch Wollen und Gewalt forciert werden noch entlässt sie den Menschen aus seiner Selbstverantwortung. Doch sie macht jenen Gott gegenwärtig, der als Geheimnis des Universums nicht nur Religionen, Völker und Kulturen, sondern alles mit allem verbindet.

Mystische Ereignisse geschehen auch heute. Gott als Geheimnis des Universums hört nicht auf, sich Menschen wie in Jesus in jedem Hier und Jetzt zu offenbaren – unabhängig von deren Alter oder Geschlecht, deren Herkunft oder gesellschaftlicher Position. Wir alle können dies erfahren, wir alle sind deshalb aufgerufen, in unserer postchristlichen Zeit für diesen Referenzpunkt einzustehen. Beten wir also, dass wir den Mut dazu haben und dass wir unseren Weg in die Gegenwart Gottes gehen. Amen.

Predigt vom 05. November 2023 in Wabern
Bernhard Neuenschwander

PDF Datei herunterladen