Die Brüder und Schwestern aber schickten Paulus und Silas noch in der Nacht nach Beröa weiter. Als sie dort ankamen, begaben sie sich in die Synagoge der Juden. Dort war man ihnen freundlicher gesinnt als in Thessalonich. Sie nahmen das Wort mit grosser Bereitschaft auf und forschten Tag für Tag in den Schriften, ob es sich so verhalte. So kamen viele von ihnen zum Glauben und ebenso nicht wenige von den angesehenen griechischen Frauen und Männern. Apg 17,10-12
Das Geheimnis der Gegenwart ist völlig evident, jeden Moment, hier und jetzt. Der Glaube erkennt darin, wie Gott gegenwärtig ist, und er findet in der Gegenwart Gottes, was ihn schafft: jenes Geheimnis, das allem, was ist, seine Zeit gibt, jenen unsichtbaren Fixstern, der Orientierung stiftet, jene unfassbare Achse, die in den Stürmen des Lebens Ruhe und Trost vermittelt. Wer glaubt, ist unmittelbar im Hier und Jetzt. Wenn ich spreche, spreche ich; wenn ich traurig bin, bin ich traurig. Ich nehme wahr, was ist, übersteuere meine Wahrnehmung nicht, und ich bin mir zweifelsfrei gewiss, dass nichts wichtiger ist als das, was hier und jetzt werden will. Auf diese Weise wird mir der Moment, wie auch immer die Umstände sind, zur Offenbarung Gottes, zum Moment, der mir deren Liebe und Weisheit zeigt und mich mit ihrer Evidenz überzeugt.
Ist diese zweifelsfreie Gewissheit des Augenblicks nicht sonnenklar und aus sich selbst evident? Offenbar ist das Naheliegende zuweilen fern und das Offensichtliche manchmal unfassbar. Auf der Suche nach Gewissheit, verliere ich mich in der Komplexität von Daten und Optionen. Sehe ich die Blume in dieser Hecke mit dem Asphalt vor ihr oder dem Baum neben ihr? Höre ich die Aussage der Politikerin mit dem lauten Mikrophon vor dem Hintergrund ihrer Parteizugehörigkeit oder im Kontext ihrer Fachkompetenz? Was ich wahrnehme, kann ich unterschiedlich interpretieren, und was ich interpretiere, kann ich unterschiedlich bewerten. Gewissheit finde ich auf diese Weise freilich nicht. Vielleicht suche ich Halt in einem ideologischen Konstrukt, das mir die Welt deutet, vielleicht werde ich Fundamentalist und setze alles daran, meine Überzeugungen als das Wahre und Gute zu propagieren. Doch ist das mehr als Selbstgerechtigkeit? Ist das eine Gewissheit, die alle Zweifel hinter sich gelassen hat? Offensichtlich nicht. Ein Glaube, der bloss für wahr hält, was richtig sein soll, kann sich aufblähen, selbstsicher auftreten und den Zweifel verdrängen, nicht aber auflösen oder verhindern.
Gesucht ist jedoch ein Glaube, der frei von Gut und Böse ist, frei von jedem Urteilen und Bewerten, frei von jedem Dies und Das und doch bedingungslos, direkt, unmittelbar im Hier und Jetzt gegenwärtig. Erst ein solcher Glaube schafft jene Gewissheit, die sich an nichts festhält, keine Selbstbestätigung sucht, die eigene Nichtigkeit kennt und nicht von Zweifel und Angst bedrängt werden kann. Doch wie soll ein solcher Glaube geschehen? Wie soll ein Glaube möglich sein, der jenseits jeglicher Dualität mitten in der Dualität des Hier und Jetzt zur Geltung kommt und zweifelsfreie Gewissheit in der Fragilität und Vergänglichkeit des Daseins gibt? Die Botschaft von der bedingungslosen Gegenwart Gottes stellt vor diese Frage und fordert zu einer Antwort auf. Unser Predigttext macht genau dies deutlich.
Er erzählt eine Episode, die Paulus und seine Begleiter zu Beginn ihrer Mission auf europäischem Boden erlebt haben. Begonnen haben sie diese Mission in Mazedonien, in der römischen Kolonie Philippi (Apg 16,11-40). Von dort sind sie nach Thessalonich weitergereist und haben ihre Botschaft mehrfach in der Synagoge verkündet. Aus der Judenschaft lassen sich einige überzeugen, doch finden sie vor allem bei den gottesfürchtigen Griechen Resonanz. Dies weckt allerdings den Argwohn der ansässigen Juden. Sie verursachen einen Aufruhr, schleppen Jason, den Gastgeber, der Paulus und seinen Begleitern Quartier gegeben hat, zusammen mit weiteren Personen, vor die Stadtpräfekten und klagen sie an, dass sie die öffentliche Ordnung stören und sich über den Kaiser hinwegsetzen, indem sie sich für einen andern König stark machen. Sie interpretieren die Botschaft von Paulus also bewusst politisch, um sie politisch zu bekämpfen. Allerdings wird die Anklage rasch fallen gelassen, weil Paulus und seine Begleiter nicht auffindbar sind. Sie sind offenbar bereits geflohen und haben sich als Ursache des Konflikts aus dem Spiel genommen. Nach der Darstellung des ersten Thessalonicherbriefs scheint Paulus durchaus ein Vertrauensverhältnis zu Menschen in Thessalonich aufgebaut zu haben (1Thess 2,9-12.17.19f; 3,6). Lukas nimmt von dort indes nur den erfreulichen Anfang und das tumultartige Ende in Blick (Apg 17,1-9).
An dieser Stelle setzt unser Predigttext ein. Mit Unterstützung von Gemeindegliedern in Thessalonich gelingt es Paulus und Silas, sich in der Nacht unbemerkt nach Beröa abzusetzen (V10a). Beröa ist etwa 80km von Thessalonich entfernt und liegt an der grossen Strasse nach Mittel- und Südgriechenland. Auf dem Weg nach Athen und Korinth ist Beröa ein natürliches Etappenziel. Wie üblich begeben sich Paulus und Silas auch hier in die Synagoge und versuchen dort, ihre Botschaft anzubinden (V10b). Offenbar haben sie mehr Erfolg als zuvor in Thessalonich (V11). Die Leute sind ihnen freundlicher gesinnt, und sie ringen darum, in der Botschaft von der Gegenwart Gottes zweifelsfreie Gewissheit zu finden. Denn sie nehmen das Wort, das ihnen Paulus verkündet nicht nur mit grosser Bereitschaft auf, sondern sie erforschen Tag für Tag in den Schriften, um zu überprüfen, ob es sich so verhalte, wie ihnen Paulus sagt. Wichtig ist ihnen offenbar, dass sie zu einer Gewissheit finden, die zwar aus sich selbst evident ist, aber dennoch durch die Lebensumstände belastbar ist und kritischen Rückfragen ihrer Glaubensgemeinschaft standhält. Diesen Weg zu gehen, führt zu Erfolg (V12). Viele von der Synagoge, aber auch nicht wenige von den angesehenen griechischen Frauen und Männern kommen zum Glauben.
Allerdings berichtet die Fortsetzung, dass der Aufenthalt in Beröa auch im Tumult endet (V13-15). Die Initiative dazu startet nicht vor Ort, sondern geht von den Juden in Thessalonich aus. Als diese nämlich vom Wirken des Paulus in Beröa hören, zetteln sie auch hier einen Aufruhr an. Die Gemeinde vor Ort überlegt nicht lange, sondern schickt Paulus mit Begleitung sogleich nach Athen. Die bisherigen Begleiter von Paulus, nämlich Silas und Timotheus, der nun auch genannt wird, bleiben vorerst in Beröa. Doch sie folgen Paulus auf dessen Bitte hin möglichst rasch nach. In Athen ist Paulus noch auf sich selbst gestellt; sie werden erst in Korinth wieder zusammentreffen. Die Gemeinde in Beröa hat Bestand. Lukas erzählt später, dass sie sich an der Kollekte, die Paulus für Jerusalem erhebt, beteiligt (Apg 20,4).
Das heutige Nachdenken über diesen Predigttext zeigt, dass die Botschaft von der Gegenwart Gottes unfassbar ist und doch zweifelsfreie Gewissheit schaffen will. Wie also kommt es zu dieser Gewissheit?
Die Frage konfrontiert mit einem Dilemma. Einerseits soll die Gewissheit so stark sein, dass sie in den Irrungen und Wirrungen des Lebens jeden Moment Mitte und Mass gibt. Die Botschaft der Gegenwart Gottes soll also in einer Weise Ansatz und Ressource sein, dass deren Attraktivität im Markt der Möglichkeiten die Kraft hat, sich gegenüber Alternativen durchzusetzen. Andererseits ist diese Botschaft kein Dies oder Das, keine Idee, die sich fassen und festhalten lässt, sondern ein unverfügbares Ereignis, das jeden Moment neu geschieht. Paulus ist sich dessen genau bewusst. Deshalb tritt er für die Botschaft engagiert und überzeugt ein, überlässt das Suchen und Finden der Gewissheit aber seiner Zuhörerschaft. Mit seiner Predigt kann er nicht mehr als auf die Tür hinweisen, hindurchgehen müssen alle selbst. Doch die Tür ist ein Dilemma. Wie soll ich zu jener Gewissheit gelangen, die meiner Kontrolle restlos entzogen ist? Wie soll das Geheimnis des Moments zu meinem Zentrum werden, wenn es doch für mich völlig unverfügbar ist?
Der Weg zur Gewissheit führt genau durch dieses Dilemma. Durch die Reibung mit dem Dilemma geschieht jener Läuterungsprozess, der mit allem konfrontiert, was dem Ankommen im Geheimnis des Moments im Weg steht. Paulus knüpft seine Botschaft an die Synagoge an. Ihre Schriften betrachtet er als hilfreiche Werkzeuge dieses Prozesses. Gewissheit über das Geheimnis der Gegenwart können sie indes nicht schaffen. Die Auseinandersetzung mit ihnen schafft keine zwingenden Beweise, und als Autorität, die über Gut und Böse, Wahr und Falsch verfügt, funktionieren sie genauso wenig. Doch sie helfen, eigene Zweifel und Unsicherheit in Worte fassen, Fragen zu stellen und um Antworten zu ringen. Die Schriften der Bibel sind, wie alle Texte von Menschen, die um das Geheimnis der Gegenwart gerungen haben, ein Schatz, der mich dazu ermutigt, mich auf diesen Läuterungsprozess einzulassen und mich dem Dilemma des Augenblicks zu stellen. Sie machen mir deutlich, dass ich diesen Weg in die Gegenwart mit all den vielen Menschen teile, die diesen Weg auch gegangen sind, geben mir aber auch zu verstehen, dass ich ihn nur in diesem Augenblick auf meine einmalige und persönliche Weise gehen kann.
Gelingt in diesem Läuterungsprozess der Durchbruch durch das Dilemma, entsteht Gewissheit. Diese Gewissheit ist irreversibel, insofern die Unmittelbarkeit der Gegenwart Gottes evident geworden ist und die Kraft ihrer Liebe und Weisheit alle Zweifel und Angst durchbrochen hat. Verfügbar geworden ist sie damit jedoch nicht. Worin sie besteht, muss sich jeden Moment neu erweisen. Die Menschen in Beröa illustrieren es. Sie forschen Tag für Tag in den Schriften, ob sich die Dinge so verhalten, wie Paulus sagt. Ihre Forschung ist kein methodengesteuertes, überprüfbares Testverfahren, sondern ein existentielles Ringen um Kompatibilität zwischen ihrer Erfahrung vom Geheimnis des Moments und ihrem Verständnis von dessen Reflexion in den Texten. Gewissheit entsteht erst, indem beiden Seiten Genüge getan ist. Finde ich nur in der Stille Gewissheit, bleibe ich sprachlos und verpasse das konkrete Hier und Jetzt. Verharre ich bei den Worten, die mir den Moment deuten, verpasse ich die Unmittelbarkeit der Gegenwart. Erst wenn ich ohne jedes Zögern aus der Unmittelbarkeit im Hier und Jetzt spreche, zeigt sich jene Gewissheit, die das Ringen um Gut und Böse durchbrochen hat, die Gegenwart Gottes offenbart und in Belastungen unerschütterlich ist. Kopieren und Wiederholen lässt sich dieser Vorgang nicht. Die Gewissheit der Gegenwart Gottes ist kein menschliches Machwerk, sondern geschieht im Moment frisch und neu aus sich selbst, aus purer Gnade.
Zweifelsfreie Gewissheit, wie sie im Geheimnis des Moments entsteht, ist das Ergebnis eines existentiellen Prozesses, bei welchem das Gefängnis meines Bewusstseins durchbrochen und Gott unmittelbar gegenwärtig wird. Heilige Texte wie die Bibeltexte sind für diesen Weg in die Gegenwart so nützlich, wie es eine Landkarte beim Wandern ist. Das eigene Gehen nehmen sie indes nicht ab. Beten wir also, dass wir frei von uns selbst werden und die Gewissheit der Gegenwart Gottes finden. Amen.
Predigt vom 22. Juni 2025 in Wabern
Bernhard Neuenschwander