Und ich sah, dass die Weisheit mehr Gewinn bringt als die Torheit, wie das Licht mehr Gewinn bringt als die Dunkelheit. Der Weise hat Augen im Kopf, aber der Tor tappt im Dunkeln. Doch erkannt ich auch, dass ein und dasselbe Geschick beide treffen kann. Koh 2,13f
Die Weisheit des Glaubens lehrt, ein guter Baum zu sein. Ein guter Baum ist fruchtbar und bringt gute Frucht. Die Weisheit des Glaubens lehrt aber auch Demut – den Mut, nicht den eigenen Egoismus auszuagieren, sondern dasjenige Leben zu leben, das Gott gibt. Beides gehört zusammen. Die Weisheit beobachtet den Lauf der Zeit, nimmt, was sich bewährt, und lässt, was nicht funktioniert. Sie blickt auf das Allgemeine, auf Strukturen und den Zusammenhang von Ursache und Wirkung, aber weiss auch, dass jede Situation einmalig ist. Sie sieht die Trends der Gesellschaft, nimmt auf, was in der Luft ist, beachtet die Veränderungen. Doch sie hat die Demut, sich davon nicht verführen zu lassen, sich nicht zu verkaufen, sondern danach zu suchen, was hier und jetzt gefordert ist. Weisheit in Demut ist voll von Menschlichkeit und zugleich ganz individualisiert. Sie beobachtet, was Menschen miteinander verbindet, aber hat den Mut, dieses Wissen zu lassen und den einzelnen Menschen zu seinem eigenen Leben zu führen. Ein ideologisch imprägniertes, allgemeingültiges Menschheitsideal ist ihr ebenso fremd wie das Imitieren von Vorbildern. Sie ermutigt, von allem zu lernen, doch genau sich selbst auf seine eigene und individuelle Weise in diese Welt einzubringen.
Solche Weisheit ist in vielen alten und neuen Kulturen bekannt. Die Suche nach dem, was sich für ein gutes Leben bewährt, beschäftigt Menschen unabhängig von ihren konkreten kulturellen Gegebenheiten. Die Sprache, die verwendeten Bilder und Beispiele sind verschieden. Doch erstaunlich sind bei allen Unterschieden auch die Gemeinsamkeiten. Dabei zeigt sich auf unterschiedliche Weise, jedoch mit beeindruckender Zuverlässigkeit, dass Impulskontrolle, Demut und das Hören auf das Zeitlose, das an der Zeit ist, unverzichtbar sind, um die richtige Kombination von Allgemeinem und Individuellen zu realisieren. Erkennen, Ethik und Ästhetik passen in dieser Weisheit zusammen, doch wollen Verstand und Herz, Denken und Handeln, Wahrnehmen und Fühlen auf individuelle Weise verbunden sein. Weisheit in Demut ist kulturverbindend, und sie ist zugleich differenziert und integrativ.
Im heutigen Informationszeitalter ist die Weisheit in den Hintergrund getreten. Die moderne Gesellschaft versteht sich zwar als Wissensgesellschaft, die global vernetzt ist, riesige Mengen an Daten sammelt und diese mit modernen Technologien auswertet. Doch Weisheit in Demut lässt sich auf diese Weise nicht gewinnen. Sie entsteht auf anderen Wegen. Unser Predigttext verweist auf einen dieser Wege.
Und ich sah, dass die Weisheit mehr Gewinn bringt als die Torheit, wie das Licht mehr Gewinn bringt als die Dunkelheit. Der Weise hat Augen im Kopf, aber der Tor tappt im Dunkeln. Doch erkannt ich auch, dass ein und dasselbe Geschick beide treffen kann. So klingt das Fazit, das Kohelet aus seinem langen Leben zieht. Dieses Fazit ist ambivalent: Einerseits hat der Weise einen Gewinn, wie das Licht ein Gewinn ist. Denn der Weise hat Augen im Kopf, sieht und erkennt, und dies ist gegenüber dem Toren ein Vorteil. Andererseits erwartet beide dasselbe Geschick. Im konkreten Moment mag die Weisheit zwar ein Gewinn sein, doch angesichts der Vergänglichkeit zerfällt dieser Gewinn und ist nichts als ein Hauch. Der Kontext, in welchem unser Predigttext steht, führt diese Ambivalenz aus.
Vor unserem Predigtext erzählt Kohelet, dass er sich vornahm, in Weisheit alles zu erforschen, was unter dem Himmel getan wird (Koh 1,12-2,11). Er versuchte es mit Freude und genoss den Wein. Grosse Werke vollbrachte er: So baute er Häuser und pflanzte Weinberge, legte Gärten an und machte Wasserteiche. Er kaufte sich Sklaven und Sklavinnen, Herden von Rindern und Schafen, häufte Silber und Gold und liebte die Frauen. Seine Weisheit blieb ihm erhalten, und sie verschaffte ihm ein angenehmes Leben. Doch alle Annehmlichkeiten, die er sich verschaffte, entpuppen sich im als Hauch (hæbæl), als Greifen nach Wind.
Nach unserem Predigttext wird Kohelet noch deutlicher (Koh 2,15-26). Ebenso wie es dem Toren geht, der sich nie um Weisheit bemüht hat, kann es auch ihm ergehen. Weder an den Weisen noch an den Toren wird man sich ewig erinnern. Beide sterben, und beide gehen vergessen. Alles, was sich Kohelet mühevoll erarbeitet hat, muss er früher oder später zurücklassen, und wer weiss, ob derjenige, der es allenfalls aufgreift, ein Weiser oder ein Tor ist! Kohelet wird deshalb von Lebensekel erfasst. Er hasst, was er sich erarbeitet hat, und selbst bei Nacht kommt sein Herz nicht zur Ruhe. Offensichtlich bringt der Mensch nichts Gutes zustande, alles kommt aus Gottes Hand. Wieder muss er feststellen: Das menschliche Tun ist nichts als ein Hauch (hæbæl), ein Greifen nach Wind.
Für Kohelet ist das Leben also eine existentielle Krise geworden. In der einen Hand hält er zwar die Weisheit, und er weiss, dass die Weisheit ein gutes Leben verschafft. Doch in der anderen Hand ist seine Vergänglichkeit, und ihretwegen ist alles, was er hat, nichts als ein Hauch, ein Greifen nach Wind. Seine Weisheit erkennt dieses Dilemma, und sie selbst führt ihn in dieses hinein. Er wird nicht weisheitskritisch, sondern er wird sich selbst zum Dilemma, zerrissen zwischen den Gegensätzen. Was ihm bleibt, ist der Glaube, dass alles aus Gottes Hand kommt. In diesem Glauben hält er mitten in der Verzweiflung seiner Krise stand, in diesem Glauben verliert er sich selbst und seine Gewissheiten, ja noch mehr: In dieser Krise wird er zum Abgrund seiner Demut. Etwas ganz Menschliches wird bei ihm auf höchst individuelle Weise Realität: die Erfahrung, dass er nichts ist als derjenige, der er im Geheimnis der Gegenwart ist.
Und ich sah, dass die Weisheit mehr Gewinn bringt als die Torheit, wie das Licht mehr Gewinn bringt als die Dunkelheit. Der Weise hat Augen im Kopf, aber der Tor tappt im Dunkeln. Doch erkannt ich auch, dass ein und dasselbe Geschick beide treffen kann. Diese Gedanken Kohelet fordern dazu auf, über die Demut in der Weisheit nachzudenken, über die Notwenigkeit der Weisheit, sich selbst zu lassen und mit dem weisen Nichtwissen vertraut zu werden.
Dazu gehört zuerst der Mut zur existentiellen Krise. Heute scheint keine Mühe zu gross, sich jede etwas tiefer gehende Krise vom Leib zu halten. Wir sind von einer umfassende Ratgeberliteratur umsorgt, finden im Internet auf jede Frage eine Antwort und beherrschen das Navigieren durch das Meer der Unsicherheiten bestens. Die Abgründe der eigenen Existenz bleiben dabei gut geschützte Tabubereiche, die wir weiträumig umschiffen und aus unserem Bewusstsein verdrängen. Kohelet hat einen andern Weg beschritten. Er stellt sich dem Dilemma seines Daseins; denn bei aller Wertschätzung der Weisheit bleibt auch bei ihm der Stachel der eigenen Vergänglichkeit. Anstatt die eigene Sterblichkeit zu verdrängen, bringt er aber den Mut auf, sich auf dasjenige Problem einzulassen, das aufgrund seines Bewusstseins ständig gegenwärtig ist: das Wissen um die Grenzen seines Wissens, das Wissen um die Grenzen seines Lebens. Er lässt sich mit einer Konsequenz auf dieses existentielle Problem ein, dass alles andere in den Hintergrund tritt. Er wird gleichsam seine eigene Verzweiflung, hält dieser Stand und flüchtet sich nicht in eine vermeintliche Antwort – weder in eine religiöse noch in weisheitliche. Das ist vorbildlich, und das ist der Anfang von weisem Nichtwissen.
Was Kohelet hier auf seine ihm eigene Weise vorlebt, ist in der Geschichte der Mystik vielfach bezeugt. Wer Religion nicht bloss als traditionelle Oberfläche, Moral oder Kulturgut, sondern als Ausdruck existentieller Fragen des Daseins versteht, kommt zwangsläufig zu den Fragen Kohelets. Im Neuen Testament konfrontiert das Kreuz Jesu, der das Wort bzw. die Weisheit Gottes ist, mit diesen Fragen. Deshalb ist dieses Kreuz – wie Paulus sagt – Ärgernis und Torheit, zugleich aber Kraft und Weisheit Gottes (1Kor 1,23f). Die christliche Mystik hat sich dies zu eigen gemacht, indem sie wie etwa Bernhard von Clairvaux den Gekreuzigten in die Arme nehmen oder wie Johannes vom Kreuz die Dunkle Nacht beschreiten will. Das gleiche Thema ist anders und doch ähnlich indes auch in den asiatischen Religionen präsent.
Gar nicht so anders als Kohelet fordert etwa der chinesisch-japanische Zen-Buddhismus dazu auf, sich dem Problem von Wissen und Nichtwissen, Leben und Tod ganz existentiell zu stellen, in den Abgrund der Demut zu steigen und die eigene Ichlosigkeit zu realisieren. Sprüche wie «Zeige dein ursprüngliches Gesicht, ohne an Gut und Böse zu denken!» (Hui-Neng) oder «Wenn Wert und Gegenwert, Leben und Tod gekommen sind, was tust du dann?» (Hisamatsu) sind Heuristiken, die in diese menschliche Krise führen wollen. Sie werden Koân genannt – ein Wort, das in seinem chinesischen Kontext ursprünglich den Gerichtsprozess bezeichnet, also genau dasselbe wie das griechische Wort κρίσις (Krise). Die Grundfragen der menschlichen Existenz stellen sich im Laufe der Jahrhunderte und in den verschiedenen Kulturen erstaunlich ähnlich und konstant. Dies zu verstehen, schafft Verbundenheit und Menschlichkeit.
Die Antworten auf die existentiellen Grundfragen fallen indes höchst individuell aus. Es macht einen grossen Unterschied, ob ich meine Individualität durch eine bestimmte Haarfarbe, ein bestimmtes Hobby oder eine bestimmte Meinung suche, oder ob sie die Antwort auf eine persönliche, existentielle Krise ist. Der moderne Mainstreamindividualismus ist weit davon entfernt, eigene Antworten auf die Fragen der existentiellen Abgründe zu geben. Wer seine Integrität hingegen in der Tiefe seiner Demut findet, tut in aller Bescheidenheit, was er tun muss – jeden Moment neu und im Wissen um das weise Nichtwissen. Er baut Sandburgen, die von der nächsten Flut weggeschwemmt werden, oder errichtet steinerne Paläste, die Stürme überdauern sollen. Es ist völlig irrelevant, was der gesellschaftliche Wert einer solchen Tätigkeit ist. Sie hat ihren Sinn in der Präsenz, mit der sie ausgeführt wird. Dieser Sinn wird nicht vom Ich geschaffen, ist nicht das Ergebnis eigener Arbeit und Mühe und dient nicht dem Ego. Er hat seinen Zweck in sich. Das Ich kann höchstens Brunnen sein, nicht aber Quelle. Der Brunnen bietet Wasser der Quelle an, und er kümmert sich nicht darum, ob sein Wasser getrunken wird oder nicht. Jeder Mensch kann auf seine ihm eigene Weise ein Brunnen sein, dessen Wasser von der Quelle in der Tiefe des eigenen Daseins aufsteigt und dem Leben dient. Doch die Antwort, wie ich Brunnen bin, kann nur ich ganz persönlich geben. Kohelet hat damit gerungen, jeder Mensch muss darum ringen, wenn er sie geben will. Immer wieder neu.
Wir haben in unserer heutigen Wissensgesellschaft Zugang zu einer Fülle von Informationen, die nicht mehr zu überschauen ist. Die Grundfragen der Weisheit stellen sich uns indes auf ganz existentielle Weise. Es liegt ganz an uns selbst, zu entscheiden, ob wir uns auf sie und das weise Nichtwissen einlassen oder nicht. Wir müssen nicht das Ideal eines bestimmten Baums oder Brunnens erfüllen. Es genügt, wenn wir die Demut haben, derjenige Baum oder Brunnen zu sein, den wir hier und jetzt in der Gegenwart Gottes sind. Beten wir also, dass wir den Mut zur Demut aufbringen und dazu stehen, wie Gott in uns auf diese Welt kommen will. Amen.
Predigt vom 3. Juli 2022 in Wabern
Bernhard Neuenschwander