Uniqueness

Uniqueness

Es begab sich nun, dass Petrus, als er alle Gemeinden ringsum besuchte, auch zu den Heiligen hinabkam, die in Lydda wohnten. Dort fand er einen Menschen mit Namen Äneas, der seit acht Jahren ans Bett gefesselt war, er war nämlich gelähmt. Und Petrus sprach zu ihm: Äneas, Jesus Christus heilt dich. Steh auf und klappe deine Bahre zusammen! Und sogleich stand er auf. Und alle Bewohner von Lydda und der Scharon-Ebene sahen ihn; und sie wandten sich dem Herrn zu. Apg 9,32-35

Jeder Abschied, jeder Tod, macht es offensichtlich, und heute, am Ewigkeitssonntag, ist es wieder spürbar: Was im Moment geschieht, ist völlig einmalig. Das Leben eines Menschen kehrt nicht zurück. Seine Spuren können zwar überall sichtbar sein, und in der Erinnerung kann er weiterhin leben. Gegenstände und Geschichten können von ihm erzählen, und das Herz kann von ihm erfüllt bleiben. Und doch ist nichts mehr so, wie es war. Sein Lachen fehlt, seine schrägen Einfälle, die nur allzu oft Verwirrung stifteten, sind verschwunden, sein mahnendes Wort ruft nicht mehr zur Raison, und seine Verspieltheit, die stets für Heiterkeit sorgte, ist nicht mehr. Die Zeit hat die Wunde vielleicht überwachsen, und der Fluss des Alltags ist in seinen alten Lauf zurückgekehrt. Die Welt ist dennoch eine andere geworden. Der Moment kann nicht mehr mit diesem Du geteilt werden, die Begegnung mit ihm ist vergangen, die gemeinsame Resonanz ist verstummt. Überdeutlich hat sich gezeigt, dass die Zeit mit diesem Menschen ihre eigene Einmaligkeit hat.

Es ist nicht leicht, sich diese Einmaligkeit einzugestehen. Der Moment wird heute rasch und selbstverständlich dokumentiert. Ein Bild mit dem Handy soll ihn bewahren, eine Videosequenz seine Lebendigkeit festhalten. Der Kampf gegen die Vergänglichkeit geht in immer neue Runden, und das Bemühen, festzuhalten, was einem lieb ist, scheut keine Kosten. Doch auch wenn der Einsatz noch so hoch ist: Der Moment ist einmalig, das Leben jedes Menschen ist einmalig, die gemeinsam geteilte Zeit ist einmalig. Diese Einmaligkeit lässt sich durch nichts aufrechnen. Sie ist inflationsresistent und hat ihren Wert in sich. Doch genau dies macht sie so schwer erträglich. Ständig konfrontiert sie mit der Vergänglichkeit. Jeden Moment ruft sie den Tod in Erinnerung. Mit jedem Hier und Jetzt zwingt sie zum Abschied. Wer sich indes auf ihren Schmerz einlässt, wird reichlich belohnt. Sie macht dankbar, und sie macht glücklich für das Geschenk, das sie jeden Moment gibt.

Der christliche Glaube offenbart jeden Moment dieses Geschenk der Einmaligkeit. Er verweist auf jenen Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat und das Geheimnis dieses Universums ist. Dieser Gott umfasst Sterne und Galaxien in Skalen, die jede Vorstellung sprengen, und er durchdringt Wahrscheinlichkeitsfelder, die mit alltäglichen Denkkategorien nicht mehr zu fassen sind. Doch dieser Gott ist als Geheimnis der Gegenwart jeden Augenblick da. Er gibt dem Moment seine Würde, seinen Wert, seine Einmaligkeit. Ist Gott gegenwärtig, verblassen Unsicherheit und Angst. Stattdessen leuchtet das Wunder des Moments auf. Auf einmal wird wirklich, was nur in diesem Augenblick geschehen kann, auf einmal wird das bloss Wahrscheinliche zur Realität und im Moment leuchtet der Glanz der Einmaligkeit.

Unser Predigttext erzählt von einem solchen Moment. Er erzählt, wie im Moment der Gegenwart Gottes ein wunderhaftes Ereignis geschieht, das die Einmaligkeit des Augenblicks unmittelbar vor Augen führt. Hauptfigur ist hier wieder Petrus. Petrus gehört zu den Augenzeugen von Jesus. Er kennt Jesus als Menschen und gehört zu den Zwölf, denen Jesus Vollmacht über alle Dämonen und Kraft, Krankheiten zu heilen, gegeben hat (Lk 9,1). Er erlebt aber auch dessen Auferstehung und Himmelfahrt, und er ist derjenige, der fortan für Jesus als den inneren Meister der Gegenwart Gottes einsteht. In dessen Namen heilt er im Tempel von Jerusalem einen Gelähmten (Apg 3,3-10) und tritt furchtlos und offen vor dem Hohen Rat für ihn ein (Apg 4,1-22). Lukas erzählt dann, wie die Urgemeinde wächst und weitere Personen Leitungsverantwortung übernehmen (Apg 6-8). Vor allem aber berichtet er von Erleuchtung des Saulus (Apg 9,1-31), denn Saulus als Paulus wird für ihn zur Hauptfigur seiner Apostelgeschichte. Hier nun aber kehrt er zu Petrus zurück und erzählt, wie sich dessen Glauben entwickelt und sich für Menschen ohne jüdische Sozialisation öffnet (Apg 9,32-11,18). Unser Predigttext leitet diesen Prozess, den Petrus vollzieht, ein.

Er erzählt zunächst, dass Petrus alle Gemeinden rings um Jerusalem besucht, dabei von Jerusalem gegen die Küste hinunterkommt und auch bei der jungen christlichen Gemeinde der Kleinstadt Lydda vorbeischaut (V32). Dort trifft er auf einen Menschen mit dem griechischen Namen Äneas, der seit acht Jahren ans Bett gefesselt ist, weil er gelähmt ist (V33). Ohne dass die Umstände näher beschrieben werden, ergreift Petrus die Initiative (V34). Er spricht Äneas mit seinem Namen an und sagt ihm, dass ihn Jesus Christus heile. Von einer Vorbereitung, einer heilenden Geste oder einer Erklärung ist nicht die Rede. Der Bericht ist reduziert auf die verbale Feststellung, dass die Heilung durch Jesus Christus geschehe. Petrus lebt in der zweifelsfreien Gewissheit der Gegenwart Gottes, und in dieser fordert er Äneas auf, aufzustehen und seine Bahre zusammenzuklappen. Lapidar wird festgehalten, dass dies Äneas tut und sogleich aufsteht. Die Beglaubigung des Geschehens erfolgt gleich darauf (V35): Alle Bewohner von Lydda und der Sharon-Ebene, also nicht nur diejenigen, die zur christlichen Gemeinde gehören, sehen, dass er wieder auf seinen Beinen steht; sie wenden sich deshalb dem Glauben an Jesus Christus zu.

Die Fortsetzung kommt auf dieses Ereignis nicht mehr zu sprechen. Sie steigert es jedoch, indem sie davon berichtet, dass Petrus im Nachbarsort Joppe nicht nur einen Gelähmten heilt, sondern eine Frau, die krank ist und stirbt, ins Leben zurückholt (Apg 9,36-43). Erklärt wird auch hier nichts. Im Zentrum steht stattdessen auch in dieser Geschichte, dass in der Gegenwart Gottes ein einmaliges Ereignis geschieht, das einem Menschen, dem Jesus Christus zum inneren Meister geworden ist, die Kraft Gottes nahebringt.

Das Nachdenken über diese Geschichte am heutigen Ewigkeitssonntag macht uns mit der Gewissheit vertraut, dass die Gegenwart Gottes jeden einmaligen Augenblick verbindet. Nichts geht verloren, jeder Moment ist in der Gegenwart Gottes eingraviert, alles ist auf diese Weise mit allem verbunden.

In unserer postchristlichen Zeit ist der Bezug zu Gott als dem Geheimnis dieses Universums erodiert. Die Zeit ist messbar, flach und linear geworden, und die Zeitachse ist eindeutig: Was vergangen ist, ist geschehen, und die Zukunft ist noch nicht. Der Glaube an Gott, der als Geheimnis des Universums jeden Moment gegenwärtig ist, gibt diesem Zeitverständnis Tiefe. Den Fluss der Zeit löst er nicht auf. Niemand steigt zweimal in den gleichen Fluss, alles ist ständig in Veränderung. Diese alte Erkenntnis Heraklits stellt auch der Glaube nicht infrage. Wiederholbare Ergebnisse gibt es nur unter Laborbedingungen, in der Komplexität des Lebens bleibt jeder Moment einmalig. Doch der Glaube verweist auf jenes Dritte, das mit mir und dem anderen jeden Moment gegenwärtig ist: die Gegenwart Gottes. Nehme ich den Moment in diesem Dritten wahr, begreife ich, dass er in seiner Einmaligkeit gewürdigt und in die Information von Gott als dem Geheimnis des Universums eingeschrieben ist. In diesem Archiv des Universums bleibt er aufbewahrt, ist mit allem darin Archivierten verbunden und geht nicht verloren. Bin ich in der Gegenwart Gottes, bin ich im Kontakt mit diesem grossen Archiv und lasse mich von dessen Information leiten.

Die Verbundenheit mit dieser Information ist Energie. Sie schafft Präsenz, gibt Kraft, den Moment in seiner Einmaligkeit wahrzunehmen, und zu tun, was hier und jetzt nottut. Unser Predigttext führt ganz konkret vor, was auf diese Weise geschehen kann. Indem Petrus in der Gegenwart Gottes ist, agiert er völlig intuitiv. Er sieht den Gelähmten, sagt, was er zu sagen hat, und die Information der Gegenwart Gottes, die darin steckt, hat Wirkung. Der Gelähmte steht auf und packt seine Bahre zusammen. Er braucht sie nicht mehr. Die Information, die in diesem Augenblick durch Petrus auf ihn hinüberspringt, bewirkt in ihm etwas, das ihn von seinem Leiden erlöst und wieder auf seine Beine bringt. So einmalig dieses Ereignis ist, so typisch ist es auch. Es illustriert die Energie der Information, die in der Gegenwart Gottes steckt.

Lassen wir uns heute, am Ewigkeitssonntag, darauf ein, verbindet es uns nicht nur mit all den Menschen, von denen wir haben Abschied nehmen müssen. Es bringt uns ebenso in unser eigenes Leben, das wir hier und jetzt leben. In der Gegenwart Gottes ist uns das Archiv des Universums zugänglich, und wir können die Nähe zu all den Menschen spüren, die einmal waren und nicht mehr sind. Doch wir verlieren uns nicht in die Vergangenheit, sondern öffnen uns für unsere eigene Zukunft. Im Wissen um die Gegenwart der Vergangenheit wenden wir uns der Gegenwart der Zukunft zu. In der Gegenwart Gottes ist das eine nicht vom andern zu trennen. Vergangenheit und Zukunft sind ein Ganzes. Die Information, die uns jeden Augenblick in diesem Geheimnis des Moments zukommt, zeigt uns den Weg, den wir Schritt um Schritt zu gehen haben. Im Anschluss an unseren Predigttext erzählt uns Lukas sogleich eine nächste einmalige Geschichte. Auch wir kommen ständig in neue einmalige Geschichten. Doch in der Gegenwart Gottes bleiben sie miteinander verbunden und sind in jenem Informationspool aufgezeichnet, aus welchem wir ständig schöpfen können. Wie könnten wir aufhören, uns auch in unserer postchristlichen Zeit davon leiten zu lassen!

Abschied nehmen tut weh. Man kann sich nie daran gewöhnen. Jeder Abschied schmerzt auf seine einmalige Weise. Doch die Gegenwart Gottes gibt Trost. Sie verbindet mit der Information von Gott als dem Geheimnis des Universums. In diesem Archiv geht nichts verloren und ist alles mit allem verbunden. Seine Information ist Liebe und Weisheit. Sie würdigt, was war, sie würdigt, was kommt, und sie gibt Energie für jeden Moment. Beten wir also, dass wir mit der Gegenwart Gottes vertraut werden und lernen, uns von ihr leiten zu lassen. Amen.

Predigt vom 26. November 2023 in Wabern
Bernhard Neuenschwander

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