Liebt nicht die Welt noch was in der Welt ist. Wenn einer die Welt liebt, ist die Liebe zum Vater nicht in ihm. Denn alles, was in der Welt ist das Begehren des Fleisches und das Begehren der Augen und das Prahlen mit dem Besitz -, ist nicht vom Vater, sondern von der Welt. Und die Welt vergeht, mit ihrem Begehren; wer aber den Willen Gottes tut, der bleibt in Ewigkeit.
1Joh 2,15-17
Liebe Gemeinde
Das Leiden gehört zum Leben. Weder Macht noch Reichtum, weder Bildung noch persönliche Fähigkeiten garantieren ein leidfreies Leben. Manchmal helfen diese Faktoren, Leiden zu reduzieren. Doch manchmal helfen sie auch nicht. Sicher aber ist dies: dass sie nicht in der Lage sind, das Leiden ganz und nachhaltig zu beseitigen. Wer lebt, ist mit Leiden konfrontiert. Eigenem und fremdem. Daran erinnert uns die Passionszeit jedes Jahr neu.
Gewiss, das Leben ist nicht immer leidvoll. Zum Leben gehört stets beides: das Schöne und das Hässliche, das Angenehme und das Unangenehme, das Freudvolle und das Leidvolle. Die eine Seite kann über kürzere oder über endlos lang scheinende Strecken im Vordergrund stehen, die andere Seite ist dennoch nie ganz ausgeschaltet. Auch Zeiten der Freude haben ihren Wermutstropfen und Zeiten des Leidens ihre hellen Augenblicke, und beide wechseln sich im Laufe des Lebens immer wieder ab. Das ist selbstverständlich und klar. Nur ist es nicht ebenso selbstverständlich und klar, damit auch gut zurecht zu kommen. Normalerweise wird die eine Seite eindeutig bevorzugt und die andere ebenso eindeutig vermieden. Kaum jemand ist unglücklich, wenn er ohne Leiden ist, und kaum jemand leidet gerne. Die Bedürfnisse der Menschen und vermutlich aller Lebewesen, insofern sie empfindungsfähig sind, lassen hier keine Zweifel. Das eine ist erwünscht, das andere ist nicht erwünscht.
Wenn dies so ist, dann stellt sich die Frage, ob und inwiefern es dank dem Glauben eine Erlösung im Leiden gibt. Geht es auch für den Glaubenden bloss darum, möglichst Leiden zu vermeiden? Oder soll man ein inneres Gleichgewicht zwischen Freuden und Leiden anstreben? Oder ist die Antwort auf diese Frage schlicht und einfach irrelevant, weil man ohnehin manchmal mit dem einen und manchmal mit dem andern konfrontiert ist und man nicht in der Lage ist, das Problem aus der Welt zu schaffen?
Aus der Perspektive des Glaubens ist diese Frage nicht irrelevant. Sie ist es deshalb nicht, weil der Glaube den Glaubenden nicht gleichgültig den Freuden und Leiden seines Lebens preisgeben, sondern weil er ihm eine Freiheit mitten in all dem, was er erfährt, verschaffen will. Diese Freiheit im Umgang mit dem Leben ist der Mehrwert des Glaubens, die Erlösung in den Freuden und Leiden, und genau diese Erlösung ist für den Glauben zentral. Ob man sie sucht und findet, verändert die eigene Lebensgestaltung entscheidend. Denn daran entscheidet sich nicht nur, ob man sich nach dieser Freiheit sehnt und ausrichtet, sondern ob man sie auch wirklich erfährt.
Der Glaube gibt Befreiung, und er ist auch die Tür zu ihrer Realisation in der konkreten Lebensgestaltung, in den Freuden und Leiden, im Glück und Unglück. Dies zu konkretisieren, ist das Anliegen unseres Predigttextes.
Dieser Text steht in einem Abschnitt des 1. Johannesbriefes, der aus 2 Teilen besteht. Im ersten Teil (1Joh 2,12-14) wird die Gemeinde dazu ermutigt, im Glauben verankert zu bleiben. Angesprochen werden die Kinder, die Väter und die jungen Männern, und zwar zweimal. Zunächst wird ihnen versichert, dass ihre Sünden vergeben sind, dass sie den erkannt haben, der von Anfang an war und dass sie den Bösen besiegt haben. Sodann wird ihnen bestätigt, dass sie den Vater erkannt haben, dass sie den, der von Anfang an ist, erkannt haben sowie dass sie stark sind, dass das Wort in ihnen bleibt und dass sie den Bösen besiegt haben. Die Anerkennung, welche den Angesprochenen gegeben wird, ist also sehr eindeutig, und sie hält klar und nachdrücklich fest, dass ihr Glaube erwacht ist und dass sie die Gegenwart der unbedingten Freiheit Gottes realisiert haben.
Unser Predigttext bildet den zweiten Teil dieses Abschnitts. Er setzt also die soeben gesprochene Anerkennung voraus und baut auf sie auf. Ihm geht es nicht darum, sie nun mit einer Forderung zu relativieren, sondern deutlich zu machen, dass der Glaube nicht ein verfügbares Gut ist, sondern ein Ereignis, das im konkreten Lebensvollzug der angesprochenen Menschen Gestalt gewinnen und sich dabei bewähren will. Ihr Glaube ist nicht ein Haben, sondern ein Sein, das im Werden ist, er ist das Erwachen, das sich jeden Moment realisieren will.
Sein Leitgedanke wird gleich zu Beginn formuliert: Liebt nicht die Welt noch was in der Welt ist. Die radikale Absage an das, was hier Welt genannt wird, muss auf dem Hintergrund der johanneischen Denkweise verstanden werden. In der johanneischen Gemeinde wird durchaus auch positiv über die Welt gesprochen. Denn sie ist und bleibt Gottes Schöpfung (Joh 1,10b. vgl. 1,3; 17,24). Negativ spricht sie über die Welt, insofern sie die Welt unter der Herrschaft des Bösen, also sündig bzw. verstrickt sieht (Joh 12,31; 14.30; 16,11). Den mittleren Weg dazwischen verfolgt sie, wenn sie festhält, dass der Sohn in die Welt gesandt ist, um sie zu erlösen (Joh 3,14; 1Joh 4,9). Die Aufforderung Liebt nicht die Welt noch was in der Welt ist, nimmt also nur Bezug auf die negative Sicht der Welt und bedeutet hier schlicht und einfach, dass man nicht der Herrschaft des Bösen erliegen und sich nicht in die Sünde verstricken soll.
Die Erläuterung, die unser Predigttext an diese Aufforderung anschliesst, bestätigt dies. Wenn einer die Welt liebt, ist die Liebe zum Vater nicht in ihm. Insofern man nämlich der Herrschaft des Bösen erliegt, liebt man die Welt und lebt nicht die Liebe zu Gott. Mag auch die Liebe, mit der Gott den Menschen liebt, der menschlichen Liebe zu Gott vorausgehen (1Joh 4,10), im Menschen, welcher der Herrschaft des Bösen dient und die Welt liebt, ist die göttliche Liebe verdeckt und nicht zum Erwachen gekommen. Insoweit die göttliche Liebe vom Menschen nicht realisiert wird, ist die Liebe zu Gott auch nicht in ihm. Dieser Mensch bleibt unter der Herrschaft des Bösen und ist nicht in der Lage, in die Gegenwart der unbedingten Freiheit Gottes zu gelangen.
Die Fortsetzung erläutert, worin sichtbar wird, ob und inwiefern die Welt der Herrschaft des Bösen dient und nicht von Gott ist. Denn alles, was in der Welt ist das Begehren des Fleisches und das Begehren der Augen und das Prahlen mit dem Besitz -, ist nicht vom Vater, sondern von der Welt. Leitvokabel ist das wiederholte Wort Begehren ). Dieses Wort ist zwar nicht der zusammenfassende
Oberbegriff, wie der Wechsel auf das Prahlen zeigt, doch besteht kein Zweifel, dass das Prahlen als konkreter Ausdruck des darunter liegenden Begehrens zu verstehen ist. Das Begehren und seine Artikulation als Prahlen ist also das, was die Herrschaft des Bösen und das Fehlen der Liebe zu Gott manifestiert.
Was mit dem Begehren gemeint ist, wird in dreifacher Weise konkretisiert. Zunächst ist vom Begehren des Fleisches die Rede. Dieses Begehren bezeichnet jede Form von Anhaften wollen an etwas. Die Reduktion dieses Begehrens auf eine getriebene oder suchtartige, unfreie Befriedigung körperlicher Bedürfnisse insbesondere der Sexualität, des Hungers und Dursts, aber auch auf das Klammern an persönlicher Sicherheit, Macht, Luxus oder Prestige greift zu kurz. Das Fleisch bezeichnet in der johanneischen Denkweise die ganze leibliche Existenz (Joh 1,14a). Dessen Begehren umfasst deshalb alles, was das eigene Menschensein an etwas festklebt und ihm seine Freiheit raubt.
Das Begehren der Augen unterstreicht denselben Gedanken, indem es das Anhaften wollen an Bilder besonders hervorhebt. Auch dieses Begehren beschränkt sich nicht auf Bilder, welche mehr oder weniger sexualisiert Lust wecken oder sonst ein begehrtes Objekt abbilden, sondern umfasst alle Bilder, die nicht hinterfragbar sind, die der unmittelbaren Sicht auf Gott im Weg stehen und sich zu Götzen aufblähen. Das Begehren nach solchen Bildern zeigt, dass man der Herrschaft des Bösen dient und nicht in der Liebe zu Gott ist.
Das Prahlen mit dem Besitz illustriert auf nochmals andere Weise dasselbe. Wer sich mit seinem materiellem oder immateriellem Besitz identifiziert, sich an ihm festklammert und mit ihm prahlt, manifestiert, dass er daran anhaftet und dass er kein freies und befangenes Verhältnis zu seinem Besitz hat. In seiner Unfreiheit steht es deshalb unter der Herrschaft des Bösen und ist nicht in der Liebe zu Gott.
Die eigentliche Pointe, die durch die Herrschaft des Bösen und seine Konkretisierung als Begehren von etwas gegeben ist, zeigt sich im Schlusssatz: Und die Welt vergeht, mit ihrem Begehren; wer aber den Willen Gottes tut, der bleibt in Ewigkeit. Insofern die Welt unter der Herrschaft des Bösen steht, vergeht sie. Die Souveränität des Gekreuzigten hat offenbart, dass der Herrscher der Welt gerichtet ist und die Liebe Gottes den längeren Atem hat (Joh 12,31; 16,11). Während also die Herrschaft des Bösen und mit ihr das Begehren vergeht, bleibt die Möglichkeit zur Realisation des Willens Gottes in jedem Moment bestehen. Mag man vom einen zum andern jagen, mag man immer mehr und anderes wollen, dieses Begehren wird nicht nachhaltig sättigen, sondern als Scheinsättigung enttarnt werden. Was hingegen wirklich befriedigt, ist die Verankerung im göttlichen Willen, die Bereitschaft, in diesem hier und jetzt zu leben, der Mut, die Gegenwart der unbedingten Freiheit Gottes zu realisieren.
Die Position des ersten Johannesbriefs muss auch uns heute zu denken geben. Gewiss, sie will dazu ermutigen, in der Freiheit des Glaubens verankert zu bleiben und sich nicht vom Begehren beherrschen zu lassen. Dies klingt zweifellos gut. Doch ist es auch gut? Ist das Begehren nicht eine völlig natürliche menschliche Regung? Muss eine solche Regung tatsächlich als Ausdruck der Herrschaft des Bösen verteufelt werden, der man widerstehen soll? Wird auf diese Weise nicht einfach das klassische Programm des Glaubens als moralischer Disziplinierungsmassnahme des Menschen gestartet, das ihm zwar Erlösung verheisst, ihn jedoch in einen Konflikt bringt zwischen dem, was er möchte und dem, was er sollte, dabei aber bloss zur Bildung einer Doppelmoral führt, die ihrerseits wiederum eine Reihe von Folgeproblemen schafft?
Diese kritischen Rückfragen sind durchaus nachvollziehbar. Sie weisen auf ein bekanntes und verbreitetes Missverständnis hin, dem biblische Texte wie unser Predigttext ausgesetzt sind. Ihre Pointe liegt jedoch an einer andern Stelle. Ihre Pointe besteht darin, seine Chance zu packen, in der Freude an der Realisation der göttlichen Freiheit die Freude an den Versuchungen, denen man ausgesetzt ist, aufzulösen und so in den Hochs und Tiefs des Lebens Erlösung zu erfahren.
Es gibt viele Versuchungen. Nicht alle sind für uns gleichermassen verführerisch. Was mich unberührt lässt, kann einen andern Menschen in Beschlag nehmen, sein Suchtpotential wecken und ihn nicht mehr loslassen. Dafür kann ich Schwachstellen haben, die andere nicht haben, aber an denen ich gefährdet bin, möglichen Verlockungen aufzusitzen, mich zu vergessen und mich von meinem Begehren gefangen nehmen zu lassen. So verschieden die Versuchungen sein mögen, sie gaukeln uns eine Freude vor, die uns nicht wirklich befriedigt, die uns stattdessen abhängig, leer und unzufrieden macht, die uns dadurch, dass sie uns nicht befriedigt, zu verstärkter Befriedigung verführt und uns dabei immer mehr beherrscht.
Diese Suchtspirale grundsätzlich zu verstehen, ist bedeutsam, erst recht bedeutsam aber ist, diejenigen Varianten dieser Grundstruktur zu verstehen, die an unseren schwachen Stellen einzudringen und sich in unser Leben einzuhängen versuchen. Verstehen aber ist nicht genug.
Was wir auch noch brauchen, ist ein Gegenmittel, das stärker, wirksamer, befriedigender ist als die Freude an der Versuchung und das uns Kraft, Motivation und Wille gibt, der Versuchung standzuhalten. Und dieses Gegenmittel ist die Freude an der Freiheit, und zwar die Freude an der göttlichen Freiheit und die Freude an ihrer Umsetzung in der Erarbeitung unserer menschlichen Freiheit. Sind wir in dieser Freude, durchschauen wir die Freude an der Versuchung, weichen ihre Attraktivität auf und neutralisieren ihren Reiz. Wenn immer uns dies gelingt, stabilisieren, stärken und erweitern wir die Freiheit, wenn immer uns dies gelingt, lassen wir unsere Freude und unsere Lebenszufriedenheit wachsen und leuchten.
Es lohnt sich, sich dies auch und gerade in der Passionszeit in Erinnerung zu rufen. Wir können mit Schönem oder Hässlichem, Angenehmem oder Unangenehmem, Freudvollem oder Leidvollem konfrontiert sein, in der Mitte unseres Glaubens bleibt die Freude an der Freiheit. Sie öffnet uns dafür, die Dinge zu nehmen wie sie sind, und sie öffnet uns dafür, das Beste aus ihnen zu machen. Die Freude an der Freiheit macht beides, das Annehmen und das Verändern, leicht, durchlässig und flockig, löst starre Formationen und Verhärtungen auf und gibt uns in den Hochs und Tiefs des Lebens ein weites und heiteres Herz. Sie ist die Ressource des Glaubens, sie ist die Kraft, die uns im Glück und Unglück aufrecht stehen und gehen lässt, sie ist unsere Erlösung in den Freuden und Leiden des Lebens. Beten wir deshalb, dass wir uns nicht von unserem Begehren gefangen nehmen lassen, sondern in der Freude an der Freiheit verankert bleiben. Amen.
Predigt vom 10. März 2013 in Wabern
Bernhard Neuenschwander
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