The beauty of the moment

The beauty of the moment

Alles hat er so gemacht, dass es schön ist zu seiner Zeit. Auch die ferne Zeit hat er den Menschen ins Herz gelegt, nur dass der Mensch das Werk, das Gott gemacht hat, nicht von Anfang bis Ende begreifen kann. Koh 3,11

Jeder Moment ist ein schöner Moment. Was auch immer gerade geschieht – jeder Moment ist ein Moment der Güte und Weisheit Gottes und deshalb ein Moment, in welches Schönes gegenwärtig ist und Schönes entstehen kann. Wer im Glauben verankert ist, erfährt dies, wer von der Gegenwart Gottes durchdrungen ist, erkennt und gestaltet daraus seine Wirklichkeit. Die Schönheit des Augenblicks gehört zum Glauben wie die Luft zum Atmen. Ihre Gegenwart wird realisiert, wenn man offen für den Moment ist und sich von ihm erfassen lässt.

Was sich so beschreiben lässt, klingt wie eine Oase. Wer sich in dieser Oase des Augenblicks aufhält und seine Aufmerksamkeit auf deren Schönheit richtet, mag sie geniessen, dankbar sein für den Moment und froh, ihn gerade jetzt erleben zu können. Doch wie steht es mit dem Leben ausserhalb dieser Oase? Ist der Blick aus der Oase des Moments in die Weite der Zeit nicht durchzogen? Er sieht Freuden und Leiden, Erfolge und Misserfolge, Glück und Unglück. Gegenwärtig wird er mit revisionistischen Ambitionen frustrierter Grossmächte konfrontiert. «Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.» Wie recht hat doch der grosse Schiller mit diesem Satz im Wilhelm Tell (IV,3). Nimmt sich ein Stärkerer auf Kosten des Schwächeren, was ihm gefällt, kann der Schwächere noch so fromm sein – in Frieden leben kann er nicht. Dies haben die Nachbarn Russland in der Geschichte immer wieder erlebt, jetzt erlebt es die Ukraine. Dies erfahren immer mehr auch die Nachbarn Chinas, im Moment vor allem Taiwan, weil Chinas imperialistische Aggressionen ständig zunehmen. Das Wissen um die Schönheit des Moments mag eine Einsicht der Weisheit sein, eine Einsicht der Weisheit ist indes auch Schillers Beobachtung. Wie kann also die Schönheit des Moments das Herz erfreuen, wenn der Blick in die Zeit für Unbehagen sorgt? wenn düstere Wolken am Zukunftshorizont Angst und Sorgen bereiten? wenn gar Endzeitstimmung aufkommt und die Furcht vor einer bedrohlichen Zukunft die Gegenwart einfärbt?

Zu jeder Zeit stellt sich diese Herausforderung auf neue Weise. Das Muster eines darunterliegenden Themas lässt sich indes kaum übersehen. Mit ihm hat vor mehr als 2000 Jahren auch Kohelet gerungen.

Alles hat er so gemacht, dass es schön ist zu seiner Zeit. Auch die ferne Zeit hat er den Menschen ins Herz gelegt, nur dass der Mensch das Werk, das Gott gemacht hat, nicht von Anfang bis Ende begreifen kann. In diesem Gedanken kristallisiert sich Kohelets persönliche Antwort auf die existentielle Lebenskrise, mit welcher er sich konfrontiert sah. Er hatte die Weisheit gesucht und sich mit Weisheit ein gutes Leben erarbeitet, und er sah, dass die Weisheit mehr Gewinn bringt als die Torheit. Doch er erkannte auch, dass der Weise ebenso wie der Tor stirbt und von den Menschen vergessen wird. Er wurde deswegen nicht weisheitskritisch, doch stürzte ihn diese Einsicht in eine persönliche Krise. Zerrissen in der Verzweiflung zwischen Weisheit und Vergänglichkeit blieb ihm einzig und allein das Standhalten im Glauben an Gott bzw. im weisen Nichtwissen. Alles, was sich für ihn greifen liess, war ihm nichts als ein Hauch (hæbæl), ein Greifen nach Wind (Koh 1,12-2,26).

Dieses Standhalten und Eindringen in das Geheimnis der Zeitlichkeit des Zeitlichen zeigt bei Kohelet Wirkung. Der Verzicht auf rasche Antworten und religiöse oder weisheitliche Erklärungen führte ihn zur Gewissheit, dass es für alles eine Stunde gibt, und dass es eine Zeit gibt für jedes irdische Vorhaben unter dem Himmel – für Positives ebenso wie für Negatives. Er illustriert dies anhand von Gegensatzpaaren existentieller und alltäglicher menschlicher Aktivitäten. So erwähnt er etwa, dass es eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben gibt, zum Zerreissen und Nähen, eine Zeit des Kriegs und eine Zeit des Friedens. Doch ihm bleibt die Frage, was der Gewinn von all der Mühe ist (vgl. Koh 1,3; 2,11.13). Er sieht zwar, dass den Gegensätzen des menschlichen Lebens ihre je eigene Zeit gegeben ist. Die Frage aber, was dies dem Menschen bringt, ist damit für ihn nicht beantwortet (Koh 3,1-9).

Mit unserem Predigttext nimmt er eine neue Sicht ein. Er fragt nicht mehr nach dem Gewinn des menschlichen Tuns, sondern orientiert sich an dem, was Gott gibt. Dank diesem Perspektivenwechsel sieht er, dass Gott alles so gemacht hat, dass es zu seiner Zeit schön ist. Gemäss dem Schöpfungsbericht hat Gott seine Schöpfung nach der Erschaffung des Menschen als gut, als sehr gut, bewertet (Gen 1,31). Kohelet interpretiert dies nun so, dass alles, auch alles gegensätzliche Tun des Menschen, zu seiner Zeit gut und schön ist (vgl. Koh 5,17). Diese Güte und Schönheit ist der Gewinn des Menschen in all seinem Mühen – wenn er sie denn wahrnimmt.

Und genau hier verortet er, wie die Fortsetzung zeigt, das Problem (Koh 3,11b-15). Gott hat dem Menschen zwar ein Verständnis für das Geheimnis der Zeit (im hebr. Text steht עֹלָם, ʿolam, das Wort für «Ewigkeit», «ferne Zeit») ins Herz gegeben. Nur vermag der Mensch dieses nicht von Anfang bis Ende zu begreifen. Deshalb soll er sich freuen, Gutes tun und Gutes geniessen – es ist ein Geschenk Gottes. Doch ist das Tun Gottes ein Geheimnis. Es ist endgültig, nichts ist ihm hinzuzufügen oder wegzunehmen. Was einmal geschah, ist längstens wieder geschehen, und was geschehen wird, ist längst schon geschehen. Alles bleibt erhalten. Die Lichter und Schatten der Vergangenheit kehren stets zurück. Gott sucht und holt wieder hervor, was dem Menschen verloren ging. Kohelet durchbricht also seine existentielle Krise, indem er die Gegenwart der Güte und Schönheit Gottes in allen Widersprüchen des menschlichen Lebens realisiert. Doch er ist sich bewusst, dass das, was ihm da zur Gewissheit geworden ist, im täglichen Leben oft geheimnisvoll und unbegreifbar bleibt.

Alles hat er so gemacht, dass es schön ist zu seiner Zeit. Auch die ferne Zeit hat er den Menschen ins Herz gelegt, nur dass der Mensch das Werk, das Gott gemacht hat, nicht von Anfang bis Ende begreifen kann. Dies ist die Antwort, die Kohelet auf seine existentielle Krise gibt. Doch ist diese Antwort auch für uns heute nachvollziehbar? Versuchen wir, seine Antwort zu verstehen!

Zunächst dies: Weisheit ist eine Funktion der Zeit. Kohelet lässt daran keine Zweifel. Der Weise sucht keine ewigen, zeitunabhängigen Wahrheiten, sondern beobachtet die Zeitlichkeit des Zeitlichen. Das Wissen um die Grenzen des Wissens, die Grenzen der Ressourcen, die Grenzen des Lebens, ökonomisch formuliert: die Knappheit von allem, was es gibt, ist das zentrale Thema des Weisen wie auch seine Herausforderung – jeden Moment. Weise ist nur derjenige, dem das Wissen um diese Grenzen zur existentiellen Krise geworden ist, der diese Krise durchlebt und in dem mitten in der Krise der Impuls zu einer persönlichen Antwort erwacht. Erst wenn die Krise von innen heraus aufgelöst wird, erst wenn der Abgrund der eigenen Zeitlichkeit von einem zeitlosen Impuls durchdrungen ist, erst wenn in der Not der Zeit das Geheimnis der Gegenwart erwacht, entsteht jene Weisheit, die tatsächlich weise geworden ist. Fehlt der Weisheit diese chronosophische Tiefe, bleiben Kohelets kritische Fragen nach dem Gewinn bzw. nach dem Wert der Weisheit unbeantwortet und das existentielle Problem, das sie ansprechen, ungelöst.

Weisheit, die sich der Zeitlichkeit des Zeitlichen stellt, ist überrational. Sie beobachtet die Zeit, aber sucht den Durchbruch durch die Zeit, sie stellt sich der Vergänglichkeit, aber hält sich an das Geheimnis der Gegenwart. Das Ergebnis einer solchen existentiellen Grenzerfahrung ist eine Glaubensgewissheit, welch die zeitlichen Ketten von Ursache und Wirkung überschreitet, sich aber genau in diesen bewähren muss. Eine solche mystische Glaubensgewissheit hat ihre eigene überrationale Evidenz. Sie rekurriert auf das Geheimnis der Gegenwart, das sich rational nicht begründen lässt, ist deswegen aber nicht irrational. Als Ergebnis einer existentiellen Krise bleibt sie etwas Individuelles, dessen persönliche Gewissheit zwar gegeben, dessen Plausibilität aber prekär ist. Sie ringt um rationale Plausibilität und zieht sich nicht eine Glaubensblase zurück. Vielmehr stellt sie sich der Verantwortung vor dieser Glaubensgewissheit für die Zumutungen des Zeitlichen. Kohelet hat in der Überzeugung, dass Gott alles so gemacht hat, dass es zu seiner Zeit schön ist, die Antwort auf seine Krise gefunden – buddhistisch würde man sagen: seine Erleuchtung. In dieser Antwort ist er verankert, sie leitet ihn beim Schreiben seines Buchs, und sie wird immer wieder neu gefordert, sich zu bewähren. An uns ist es, unsere eigene, überrationale Antwort der Weisheit zu geben.

Die Schönheit von Gottes Güte und Weisheit ist in allen Gegensätzen dieser Welt gegenwärtig. Geschehen sie zu ihrer Zeit, kann dies erkannt und gelebt werden. Diese mystische Einsicht Kohelets basiert auf dem bedingungslosen Annehmen und Gestalten, ja Lieben der Wirklichkeit, wie sie hier und jetzt ist. Dies ist weder eine Verklärung der Wirklichkeit, noch ein fatalistisches Hinnehmen dessen, was ist, sondern die Realisation vom Geheimnis der Gegenwart in allen Dingen. Wer seine Welt so erkennt und lebt, ist klar und realistisch bei dem, was ist, sieht im Augenblick das Potential der Güte und Weisheit Gottes und macht daraus in allem das Beste. Ob Gebären oder Sterben, Zerreissen oder Nähen, Krieg oder Frieden – in diesem und seinem Gegenteil, in jedem Konflikt kommt diese Glaubensgewissheit jeden Moment zur Geltung. Weil es indes dem Menschen schwerfällt, ständig im Moment zu sein, und weil er nicht immer bereit ist, die Wirklichkeit zu realisieren, wie sie ist, bleibt die Gewissheit der Gegenwart Gottes prekär, bedarf der Plausibilisierung und muss sich immer wieder neu bewähren. Doch im Grunde war, ist und bleibt dies stets die Wirklichkeit. Im Geheimnis der Gegenwart geht nichts verloren, sind Vergangenheit und Zukunft ständig gegenwärtig, bleiben die Lichter und Schatten der Zeit, und mitten darin klingt die Schönheit der Stille Gottes.

Ja, jeder Moment ist ein schöner Moment. Doch damit dies zur belastbaren und nachhaltigen Glaubensgewissheit wird, ist ein langer und existentieller Prozess nötig. Abnehmen kann man diesen Prozess niemandem. Entweder vollziehe ich ihn höchst persönlich, oder er ist für mich nicht Wirklichkeit. Wird indes die Schönheit der Güte und Weisheit Gottes gegenwärtig, ist auch und gerade ein Moment von Not und Konflikt ein schöner Moment. Beten wird also, dass wir zu jener Schönheit des Glaubens finden, die uns durch alle Hochs und Tiefs des Lebens und Sterbens trägt. Amen.

Predigt vom 07. August 2022 in Wabern
Bernhard Neuenschwander

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