Stability in conflicts

Stability in conflicts

In diesen Tagen aber, als die Jünger immer zahlreicher wurden, kam es dazu, dass die Hellenisten unter ihnen gegen die Hebräer aufbegehrten, weil ihre Witwen bei der täglichen Versorgung vernachlässigt wurden. Die Zwölf beriefen nun die Versammlung der Jünger ein und sprachen: Es geht nicht an, dass wir die Verkündigung des Wortes Gottes beiseite lassen und den Dienst bei Tisch versehen. Seht euch also um, Brüder, nach sieben Männern aus eurer Mitte, die einen guten Ruf haben und voll Geist und Weisheit sind; die wollen wir einsetzen für diese Aufgabe. Wir aber werden festhalten am Gebet und am Dienst des Wortes. Der Vorschlag gefiel allen, die versammelt waren. Und sie wählten Stephanus, einen Mann erfüllt von Glauben und heiligem Geist, und Philippus und Prochorus und Nikanor und Timon und Parmenas und Nikolaus, einen Proselyten aus Antiochia, führten sie vor die Apostel, und diese beteten und legten ihnen die Hände auf. Und das Wort Gottes breitete sich aus, und in Jerusalem wuchs die Zahl der Jünger stetig; auch ein grosser Teil der Priester wurde dem Glauben gehorsam. Apg 6,1-7

Die Gegenwart Gottes schafft Klarheit und nimmt die Dinge in den Blick, wie sie sind. Bin ich in der Gegenwart Gottes, rede ich nicht um den heissen Brei herum. Ich bin angstfrei und spreche unbefangen an, was Sache ist. Auch wenn ich mich empathisch auf mein Gegenüber einlasse und einbeziehe, wie meine Worte ankommen, bleibe ich ihm gegenüber aufrichtig und direkt. Das Zeichen der Gegenwart Gottes ist die freie, authentische Rede, die Parrhesia. Wer darin stabil verankert ist, gesteht dem andern Menschen seine eigene Meinung zu, bleibt respektvoll und freundlich und hält vorhandene Differenzen aus. Aber er scheut sich nicht, Konflikte aufzudecken und auszutragen. Die Gegenwart Gottes sucht nicht die oberflächliche Übereinstimmung, in welcher sich alle lieb und nett gegenseitig bestätigen, latente Konflikte unter den Tisch gewischt und die Illusion gepflegt wird, es sei alles bestens. Konfliktfähigkeit gehört untrennbar zur Gegenwart Gottes.

Die Aufklärung ist nach den grossen Verwerfungen des 30-jährigen Kriegs mit ihrem Glauben an die Vernunft auf die Bühne der Welt getreten, überzeugt, dass sich Konflikte mit Vernunft sinnvoll lösen lassen. Die Gründung der UNO nach der Tyrannei des Zweiten Weltkriegs ist eine Frucht dieser Überzeugung. Jedem Menschen sollen Würde und Freiheitsrechte zugestanden sein. Staaten sollen territoriale Souveränität haben, die gegenseitig respektiert wird. Auf dieser Basis soll zwischen Individuen und zwischen Staaten eine vernunftbasierte Weltordnung etabliert werden. Diese soll dafür sorgen, dass Konflikte in einem ökonomisch vertretbaren Rahmen, zielführend und für alle Beteiligten auf gerechte Weise angegangen und gelöst werden können. Ihr Mittel ist – um es in den Worten des deutschen Philosophen Jürgen Habermas zu sagen – der herrschaftsfreie Diskurs, in welchem sich das beste Argument bzw. die vernünftigste Lösung durchsetzen soll.

Unterdessen ist dieser Glaube an die Vernunft gründlich durchgerüttelt worden. Spätestens der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat deutlich gemacht, dass eine vernunftbasierte Konfliktaustragung zwar durchaus vernünftig klingt, aber nicht für alle gleichermassen als Massstab gilt. Ich kann von Kränkungen, Neid und Begehrlichkeiten so sehr bestimmt sein, dass meine Vernunft davon eingefärbt ist. Die emotionalen Kräfte, die in meinem Innern schlummern, können meine Vernunft überfluten und instrumentalisieren, und sie können mir die Illusion geben, ich handle vernünftig, ohne dass ich mir bewusst bin, wie unvernünftig ich agiere. Auf dieser Grundlage folge ich nicht mehr der Vernunft, die eine für alle Beteiligten gerechte Lösung sucht, sondern nehme für mich das ungerechte Recht des Stärkeren in Anspruch. Habe ich die Gewalt, dem andern meine Lösung aufzuzwingen, zögere ich nicht, es auch zu tun. Die Gegenseite mag sich verteidigen und den Respekt ihrer Würde und Freiheit einfordern – gelöst ist der Konflikt für mich erst, wenn ich meine eigene Lösung durchgesetzt habe. Es kann offensichtlich auch in unserer postchristlichen Zeit nicht davon ausgegangen werden, dass Menschen oder Staaten selbstverständlich die Verantwortung für ihre eigene Unordnung und Verstricktheit übernehmen, dass sie sich dem Abgrund dessen stellen, was früher Sünde genannt worden ist, und dass sie Erlösung und Vergebung in der Gegenwart Gottes suchen. Das Thema ist so ungelöst wie eh und je und zudem erschreckend aktuell.

Mit unserem Predigttext haben wir ein Beispiel vor uns, das uns zeigt, wie in der urchristlichen Gemeinde ein Konflikt angegangen und ausgetragen worden ist. Ausgangspunkt ist eine an sich erfreuliche Entwicklung: Das Wirken der Apostel bringt vielen Menschen in Jerusalem Heilung und Erlösung. Ihre Botschaft von der Gegenwart Gottes in Jesus Christus dem Nazarener überzeugt und lässt die Schar der Jünger wachsen. Doch das rasche Wachstum schafft neue Herausforderungen. Eine von ihnen bringt das Fass zum Überlaufen: Die Hellenisten begehren gegen die Hebräer in der Gemeinde auf, dass ihre Witwen bei der täglichen Versorgung vernachlässigt werden. Offenbar besteht die Gemeinde in Jerusalem einerseits aus griechisch sprechenden Judenchristen, die mit den hellenistischen Synagogen in Israel verbunden sind. Andererseits gehören zu ihr aber auch die aramäisch sprechenden Judenchristen, die stärker in der Tradition verankert sind. Der Kreis der zwölf Apostel, der für die gesamte Gemeindeleitung zuständig ist (Apg 4,33-35), spricht aramäisch. Bei der Armenversorgung, die vom Judentum in die urchristliche Gemeinde übernommen wird, bricht nun ein Konflikt auf. Die Hellenisten haben den Eindruck, dass ihre Witwen schlechter behandelt werden, als diejenigen der Hebräer. Ob dieser Eindruck zutreffend ist oder nicht, wird nicht beurteilt. Ebenso verzichtet die Erzählung darauf, den Aposteln ein Versagen in ihrer Leitungsaufgabe vorzuwerfen oder sie als Schuldige darzustellen. Erzählt wird stattdessen, wie sie den Konflikt angehen.

Die Zwölf nehmen den Konflikt ernst, stellen sich ihrer Verantwortung und rufen eine Versammlung der Jünger ein. Für sie ist klar, dass der Konflikt angegangen und gemeinsam mit den Beteiligten gelöst werden muss. Sie wenden sich an die Versammlung und stecken den Rahmen ab, in welchem der Konflikt gelöst werden soll. Auf die unterschiedlichen Gruppierungen und deren Identifikationsmerkmale gehen sie nicht ein. Sie betreiben keine Identitätspolitik, sondern suchen die Lösung pragmatisch in einer Aufgabenteilung: Können sie aufgrund der Gemeindegrösse nicht mehr alle Funktionen bewältigen, müssen die Aufgaben auf verschiedene Schultern verteilt werden. Die Wichtigkeit der diakonischen Aufgabe stellen die Apostel nicht in Frage, doch sehen sie ihre eigene Hauptaufgabe in der Verkündung des Wortes. Sie fordern deshalb die Versammelten – sie sprechen sie als Brüder an – dazu auf, sieben Männer aus ihrer Mitte aufzustellen, die einen guten Ruf haben und voll von Geist und Weisheit sind. Diese Sieben sollen dann mit der Versorgung der Armen beauftragt werden, während sie selbst am Gebet und am Dienst des Wortes festhalten. Die Ansprüche für die Qualifikation sind hoch, und auf die Einführung eines neuen Titels, etwa des Diakons, wird verzichtet. Der Versuch, die Lösung des Konflikts in der Etablierung von sieben Weisen zu suchen, wird also kaum bloss als Antwort auf das wachsende Aufgabenvolumen zu verstehen sein, sondern ebenso als Experiment einer Nachfolgeregelung. Die Apostel versuchen nicht, krampfhaft alles selber zu bewältigen. Sie sind vielmehr dazu bereit, Aufgaben zu delegieren, ohne ihre eigene Verantwortung aufzugeben. Sie definieren die Kriterien für die Qualifikation möglicher Kandidaten und beanspruchen, sie zu installieren. Die Suche und das Vorschlagen der Kandidaten überlassen sie jedoch der Gemeinde. Diese soll aktiv in die Konfliktlösung einbezogen werden.

Dieser Vorschlag zur Konfliktbewältigung kommt bei den Versammelten gut an. Sie wählen Stephanus, von dem ausdrücklich gesagt wird, dass er ein Mann von Glauben und heiligem Geist ist, und von dem schon sehr bald erzählt wird, dass er dies im Konflikt mit der jüdischen Elite unter Beweis stellen muss (Apg 6,8ff). An zweiter Stelle wird Philippus genannt, von dem die Apostelgeschichte im Anschluss an die Stephanusgeschichte erzählt (Apg 8,5-13.26-40). Schliesslich werden Prochorus, Nikanor, Timon, Parmenas und Nikolaus, ein Proselyt aus Antiochia, erwähnt, von denen sonst nichts bekannt ist. Diesen Sieben tragen griechische Namen und dürften unter den Hellenisten ausgewählt worden sein. Weil Nikolaus ausdrücklich als Proselyt vorgestellt wird, dürften die übrigen gebürtige Juden sein. Sie werden den Aposteln vorgeführt, diese beten für sie und beauftragen sie. Die Beauftragung erfolgt jüdischer Tradition gemäss durch Handauflegung. Durch dieses Ritual hat Mose seinen Nachfolger Josua beauftragt (Num 27,15-23), und darauf wird auch im Rabbinat Bezug genommen. Im Rahmen dieser Tradition werden die sieben weisen Männer eingesetzt.

So kann der Konflikt in der Gemeinde gelöst werden. Festgehalten wird abschliessend, dass sich das Wort Gottes weiter ausbreitet und die Zahl der Jünger in Jerusalem stetig wächst. Sogar ein grosser Teil der Priester im Tempel bekennt sich unterdessen zum Glauben an Jesus Christus dem Nazarener.

Der heutige Blick auf diese Geschichte macht an diesem Beispiel deutlich, wie sich Menschen, die in der Gegenwart Gottes leben, in Konflikten verhalten. Auch wenn Konflikte und der Umgang mit ihnen viele Facetten haben, so werden doch exemplarisch mehrere Aspekte deutlich.

Zunächst fällt auf, dass die Gegenwart Gottes die Opfer-Täter-Dynamik unterbricht. Die Apostel wiederholen die Erfahrungen, die sie soeben im Konflikt mit der jüdischen Elite gemacht haben, im Moment, in welchem sie selber an der Macht sind, nicht. Gegenüber der jüdischen Elite gab ihnen die Gegenwart Gottes den Mut, Klartext zu sprechen, sich nicht einschüchtern zu lassen und für ihre Überzeugung einzustehen. Diese jedoch beanspruchte das Recht des Stärkeren, verabreichte ihnen Schläge und legte ihnen einen Maulkorb an. Die Apostel reagierten darauf mit Freude, dass sie gewürdigt wurden, im Leiden Gottes Kraft zu erleben. Mit dieser Copingstrategie waren sie in der Lage, ihre Opferrolle hinter sich zu lassen und nicht ihrerseits Täter zu werden. Auch in der Machtposition agierten sie nicht ihre eigenen Machtbedürfnisse aus und schafften keine neuen Opfer. Das aber bedeutet doch dies: Halten wir uns an die Gegenwart, scheuen wir uns nicht, demjenigen, der für sich das Recht des Stärkeren in Anspruch nimmt, Stärke zu zeigen und Widerstand zu leisten. Doch gegenüber Schwächeren beanspruchen wir dieses Recht nicht, sondern setzen auf Ermächtigung und Heilung. So werden wir beispielsweise gegenüber Russland und seinem Angriffskrieg Klartext reden, der Ukraine indes nicht unseren Ideen aufdrücken, sondern sie in ihrer Selbstverteidigung unterstützen.

Zweitens steckt die Gegenwart Gottes in Konflikten den Rahmen für eine vernünftige und gerechte Konfliktlösung ab. Das Beispiel der Apostel führt es vor: Sie suchen eine Austragung des Konflikts, die zu einer für alle Beteiligten befriedigenden Lösung führt. Dazu gehört, dass sie den Konflikt ernst nehmen und nicht unter den Tisch wischen, dass sie die involvierten Menschen einbeziehen und an der Findung der Lösung beteiligen, dass sie also bereit sind, ihre eigene Macht zu teilen, Aufgaben zu delegieren und anderen eine Machtposition zuzugestehen. Die Gegenwart Gottes ist nie das exklusive Gut einzelner Menschen. Wer sich auf sie bezieht, wird stattdessen ständig mit den Abgründen der eigenen Demut konfrontiert. Alle Menschen können Gott zur Geltung bringen, alle Menschen sind aufgefordert, einen Beitrag zur Lösung bestehender Konflikte zu leisten. Vor diesem Hintergrund stellt die Gegenwart Gottes in die Verantwortung, den Rahmen für nichtautoritäre, demokratische Prozeduren der Konfliktaustragung zu setzen. Sie sorgt so für nachhaltige Lösungen, die den Beteiligten nicht von aussen aufoktroyiert sind, sondern aus ihrer Mitte kommen und von ihnen getragen werden.

Schliesslich schafft die Gegenwart Gottes Stabilität zwischen Vernunft und Unvernunft. Obwohl die Apostel Heilung schaffen und Erlösung bringen, werden sie von der jüdischen Elite bekämpft. Ihr Neid drängt sie dazu. Vernünftig und gerecht im Blick auf das Wohl des Volkes ist es nicht. Dennoch lassen sich die Apostel von der erlebten Unvernunft nicht korrumpieren. Ihre Stabilität ist die Freiheit der Gegenwart Gottes mit deren Güte und Weisheit angesichts der Begrenztheit des Lebens. In dieser Präsenz rechnen sie in Konflikten mit beidem: mit Vernunft und Unvernunft. Das nicht zu vergessen, tut auch in unserer postchristlichen Zeit Not. Die Abgründe der menschlichen Verstricktheit sind bis heute nicht aufgelöst. Macht wird nach wie vor missbraucht. Stärkere beanspruchen weiterhin das Recht, Schwächere zu dominieren. Da hilft uns wenig, wenn wir den Glauben an Vernunft und Gerechtigkeit beschwören und idealisieren. Sind wir aber in der Gegenwart Gottes verankert, rechnen wir mit Vernunft und Unvernunft. Wir erwarten gerechtes und egoistischem Verhalten, und wir stellen uns auf Nachvollziehbares und Absurdes ein. Die Kraft der Präsenz zwischen den Gegensätzen gibt uns Stabilität, ob wir in Konflikten stehen oder im Fluss sind, ob wir Hochs erleben oder durch Tiefs gehen, weil wir mit unserem ganzen Dasein verstanden hat, dass nichts so beständig ist wie der Moment.

Wir können in unserer postchristlichen Zeit nicht mehr in den Glauben früherer Zeiten zurückkehren, und auch der Glaube an die Vernunft ist erschüttert. Die Verdichtung des christlichen Glaubens auf die Gegenwart Gottes bleibt indes jene Ressource, die uns auch heute in allen Irrungen und Wirrungen Stabilität gibt. Beten wir deshalb, dass wir von der Gegenwart Gottes geläutert werden und dass wir in ihr erwachen. Amen.

Predigt vom 23. April 2023 in Wabern
Bernhard Neuenschwander

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