Self-responsibility

Self-responsibility

Danach verliess er Athen und ging nach Korinth. Dort traf er einen Juden mit Namen Aquila, der aus dem Pontus stammte und erst kürzlich aus Italien gekommen war, und dessen Frau Priscilla; Claudius hatte nämlich angeordnet, dass alle Juden Rom zu verlassen hätten. Er ging zu ihnen, und da er das gleiche Handwerk ausübte, blieb er bei ihnen und arbeitete dort; sie waren nämlich Zeltmacher von Beruf. Sabbat für Sabbat sprach er in der Synagoge mit den Leuten und versuchte, Juden und Griechen zu überzeugen. Apg 18,1-4

Der Weg in die Gegenwart Gottes ist ein Weg in die Selbstverantwortung. Wer im Hier und Jetzt ankommen will, kann dies nicht delegieren. Ich kann mich von anderen Menschen unterstützen lassen, um anstehende Aufgaben zu bewältigen, und ich kann auf digitale Tools zurückgreifen, um meine Ziele zu erreichen. Es sprichts nichts dagegen, dies zu tun, und mit Bedacht zu nutzen, was mir zur Verfügung steht. Doch wenn ich den Weg in die Gegenwart Gottes gehen will, darf ich mich nicht davon mitreissen lassen und aus dem Blick verlieren, wo ich gerade bin. Ich selbst muss wahrnehmen, was in diesem Augenblick ist und was zu tun ansteht, ich selbst muss die Verantwortung für meinen nächsten Schritt übernehmen. Nur so bin ich im Moment, nur so bin ich mich selbst, nur so bin ich in Gottes Gegenwart. Niemand und nichts kann mir dies abnehmen. Der Weg in die Gegenwart Gottes ist ein Weg, der genau dort und dann gegangen wird, wo ich selbstverantwortlich für meine eigene Selbstverantwortung einstehe.

Doch wie geschieht das? Wie bin ich so mich selbst, dass ich unbefangen wahrnehme und tue, was in diesem Augenblick ansteht? Die Antwort scheint einfach und offensichtlich. Ich bin genau dort und dann mich selbst, wo ich offen und ehrlich da bin, natürlich, ungekünstelt und ohne mir selbst im Weg zu stehen. Kleine Kinder machen nicht selten vor, wie dies geht, und der Umgang mit ihnen kann daran erinnern, worum es geht. Doch mit dem Älterwerden und der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins wird vieles kompliziert. Moralische Leitlinien, ideologische Konzepte, gesetzte Ziele wollen Orientierung geben und Perspektiven aufzeigen, führen aber oft genug zur Entfremdung von sich selbst. Statt von mir selbst zu mir selbst zu befreien, bewirken sie, dass ich mich bloss um mich selbst drehe und mich in die Reflexionen meiner Reflexionen verstricke. Der Prozess der Selbstwerdung ist offenbar zuweilen anspruchsvoll.

Der christliche Glaube stellt das nicht in Abrede. Aber er hält in Erinnerung, was in dieser postchristlichen Zeit gerne vergessen geht: dass dieser Weg zu sich selbst ein Weg in den Moment ist, ein Weg in die Gegenwart Gottes, ein Weg in die eigene Selbstverantwortung. Er spricht davon, dass der Auferstandene jeden Moment gegenwärtig ist (vgl. Apg 17,31), und er deutet damit an, dass das Selbst des Menschen ganz unmittelbar zwischen Geburt und Tod da ist und in jedem Augenblick zum Erwachen kommen will. Die Rede von der Auferstehung will nicht an ein vergangenes Wunder erinnern, das man für wahr halten kann oder auch nicht. Sie will vielmehr für jenes nichtduale Selbst sensibilisieren, das jedes Lebewesen, ja alles, was es gibt, von sich selbst zu sich selbst befreit. Dieses nichtduale Selbst ist kein Dies oder Das. Man kann nicht sagen: Hier ist es! Oder: Dort ist es! Es geschieht vielmehr in jedem Augenblick ganz unmittelbar, von selbst, aus Gnade, völlig natürlich, mitten in mir (vgl. Lk 17,21). Was das Ich will, ist damit nicht mehr wichtig. Wichtig ist nur noch, was in der Gegenwart Gottes als Selbst aufersteht, mich in seinen Dienst stellt und mich so mich selbst werden lässt.

Was damit an Selbstverantwortung aktiviert wird, illustriert unser Predigttext auf exemplarische Weise. Versuchen wir ihn zu verstehen!

Er nimmt uns hinein in die zweite grosse Reise, die Paulus auf seiner Mission für die unbedingte Gegenwart Gottes unternimmt. Soeben hat er in Athen auf dem Areopag vor einem gebildeten Publikum seine Botschaft vertreten. Die Resonanz, die er damit ausgelöst hat, ist überschaubar geblieben (Apg 17,22-34). Unser Predigttext erzählt nun, wie er darauf Athen verlässt und in das etwa 60 km entfernte Korinth geht (V1). Korinth ist 27 v.Chr. von Julius Cäsar zur römischen Kolonialstadt gemacht und zur Hauptstadt der römischen Provinz Achaia mit Sitz des Prokonsuls (vgl. Apg 18,12) ernannt worden. Oberschicht und Verfassung der Stadt sind römisch geprägt. Die beiden Häfen im Osten und im Westen sorgen für lebhaften Handel zwischen Adria und Agäis. Die Bevölkerung ist bunt gemischt und religiös vielfältig. Asiatische Kulte, Mysterienreligionen sowie die traditionelle hellenistisch-römische Götterwelt haben hier ihre Anhänger. Kommt Paulus mit seiner Mission nach Korinth, kann er Offenheit erwarten, aber er muss auch damit rechnen, dass seine Botschaft in der religiösen Fülle an Kontur verliert und verschwimmt.

Erzählt wird als erstes nicht wie sonst üblich, dass er in der Synagoge predigt, sondern eine Begegnung, nämlich dass er einen Juden mit Namen Aquila und dessen Frau Priscilla trifft (V2a). Zwischen ihnen und Paulus entwickelt sich eine enge Beziehung. In seinen Briefen an die Korinther und an die Römer erwähnt er sie mit grosser Wertschätzung (Röm 16,3; 1Kor 16,19 vgl. 2Tim 4,19). Aquila stammt aus dem Pontus, also aus dem Norden Kleinasiens am Schwarzen Meer. Erzählt wird, dass sie erst seit kurzem aus Italien in Korinth eingetroffen sind. Sie werden also kaum zur Synagoge gehören. Ihr Anwesenheit in Korinth ist vielmehr politisch motiviert. Lukas schreibt nämlich, dass der römische Kaiser Claudius angeordnet habe, dass alle Juden Rom zu verlassen hätten.

Was Lukas nur antönt, ist vom römischen Geschichtsschreiben Sueton in seiner Vita des Kaisers näher beschrieben. In Rom gibt es ums Jahr 50 eine grosse jüdische Gemeinde, in welcher sich christliches Gedankengut ausbreitet und Jesus als Messias verkündet wird. Offenbar kommt es zwischen den traditionellen Juden und den Judenchristen zu Auseinandersetzungen, die Claudius nicht als innerjüdischen Konflikt abtut (vgl. demgegenüber Apg 18,15), sondern zu lösen versucht, indem er die Juden per Edikt aus Rom ausweist. Auch wenn kaum alle Juden Rom verlassen haben dürften, so werden doch diejenigen, die aufgrund einer Führungsrolle direkt in die Konflikte involviert sind, geflüchtet sein. Es ist also damit zu rechnen, dass Aquila und Priscilla bereits in Rom zur judenchristlichen Gemeinde gehören, in ihr eine exponierte Stellung einnehmen, deshalb aufgrund es Claudiusedikts Rom verlassen müssen und in die religiös tolerante Stadt Korinth flüchten. Als sie Paulus kennen lernen, haben die beiden einen turbulenten und wohl auch leidvollen Weg hinter sich, der ihre Selbstverantwortung für ihren Glauben auf die Probe gestellt hat.

Erzählt wird nun, dass Paulus zu ihnen geht und dass er, weil er das gleiche Handwerk ausübt, bei ihnen bleibt und arbeitet (V3). Die Verbundenheit im Glauben ist vorausgesetzt, doch herausgehoben wird die Selbstverantwortung für das tägliche Leben. Aquila und Priscilla verdienen sich ihr Leben mit ihrer kleinen Werkstatt, und Paulus tut dasselbe, indem er dort mitarbeitet. Möglich ist dies, weil er ebenfalls Zeltmacher von Beruf ist. Als Rabbinenschüler hat er wie üblich ein Handwerk erlernt, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Als Zeltmacher ist er die Arbeit mit Leder geübt, da jene Zelte aus Leder gefertigt sind. Man wird sich die Werkstatt also als kleine Sattlerei vorzustellen haben. Für Paulus ist selbstverständlich, dass er sich seinen Lebensunterhalt selbst verdient (1Kor 4,12). Er mag dies im Rahmen seiner Kreuzestheologie verstanden haben (1Kor 1,18ff). Lukas äussert sich darüber nicht und erzählt bloss seine Mitarbeit in der Werkstatt. Doch seine Mission steht deshalb nicht in Frage (V4). Sabbat für Sabbat spricht er in der Synagoge mit den Leuten und versucht Juden und Griechen zu überzeugen. Zwischen seinem Gelderwerb und seiner Mission gibt es keine Spannung. Der Auferstandene ist in seinem Selbst erwacht. Er steht mitten im Alltag und dessen Verpflichtungen und übernimmt seine Selbstverantwortung für seine Erwerbsarbeit und seine Mission (1Kor 4,9-13).

Die Fortsetzung berichtet, dass Paulus dank der Rückkehr seiner Gefährten Silas und Timotheus seine Erwerbstätigkeit reduzieren und sich ganz der Verkündigung des Wortes widmen kann. Dies führt zur Abspaltung der christlichen Gemeinde von der Synagoge. Seine Verbundenheit mit der Werkstatt von Aquila und Priscilla dürfte deshalb nicht kleiner geworden sein. Es ist vielmehr damit zu rechnen, dass er in den eineinhalb Jahren bis zur gemeinsamen Abreise von Paulus, Aquila und Priscilla aus Korinth Teil der Werkstatt geblieben ist (Apg 18,5-7.18).

Dieser Predigttext ermutigt uns zum Nachdenken über jene Selbstverantwortung, die im Glauben an die Gegenwart Gottes stets enthalten ist. Wie also ist diese Selbstverantwortung zu verstehen?

Zunächst ist diese Selbstverantwortung eine grosse Ermutigung, sich selbst auch unter schwierigen Umständen treu zu bleiben. Diese Treue zu sich selbst ist nicht das sture Festhalten an Prinzipien, Werten oder Normen. Sie verdankt sich vielmehr demjenigen, was durch die Rede von der Gegenwart des Auferstandenen angetönt und im Erwachen des nichtdualen Selbst Wirklichkeit wird. Wer so in Gottes Gegenwart sich selbst wird, ist flexibel, anpassungsfähig und fit in Schwierigkeiten. Aquila und Priscilla machen vor, was dies heisst. Bereits in Rom begreifen sie, was es heisst, so in der Gegenwart Gottes sich selbst zu sein und für diesen Glauben einzustehen. Der Konflikt mit dem traditionellen, an Gesetzen und Konventionen orientieren Judentum ist damit zwar programmiert. Doch als das kaiserliche Edikt ergeht, verfallen sie – so schmerzhaft dies gewesen sein muss – nicht dem Selbstmitleid, sondern sind in der Lage, sich den veränderten Umständen anzupassen, selbstverantwortlich zu agieren und ihren Weg zu gehen. So können sie sich in Korinth eine neue Existenz aufbauen und sich selbst treu bleiben. Erwacht das nichtduale Selbst in der Gegenwart Gottes, sind die Herausforderungen von Leben und Sterben nicht beseitigt. Doch ich bin nicht mehr in die Opfer-Täter-Spirale verstrickt, sondern mich selbst, ohne mich an meinen Konstruktionen festhalten zu müssen. Dies gibt Freiheit und Anpassungsfähigkeit, weil ich unabhängig von den Umständen jeden Moment jenes Selbst bleibe, das ich in der Gegenwart Gottes bin.

Solche Selbstverantwortung ist konkret und pragmatisch. Sie übernimmt die Verantwortung gegenüber sich selbst für das eigene körperliche und materielle Dasein in dieser Welt. Erwacht das Selbst in der Gegenwart Gottes zur Selbstverantwortung, durchdringt es den eigenen Körper, nimmt wahr, was ist, und tut, was hier und jetzt notwendig ist. Für Paulus ist die Sache klar. Sobald er in Korinth ankommt und das Angebot zur Mitarbeit in der Werkstatt von Aquila und Priscilla erhält, macht er sich an die Arbeit. Die konkrete, körperlich Arbeit steht in keinem Widerspruch zu seiner Mission. Er stellt sie in keiner Weise in Frage und übt sie ebenso selbstverständlich wie klaglos aus. Ist er in der Gegenwart Gottes sich selbst, befindet er sich nicht in einer idealen Blase oder heilen Welt, sondern nimmt seine Bedürftigkeit und Fragilität wahr, stellt sich den Herausforderungen und erlebt, was dies an Freud und Leid mit sich bringt. Aber er bleibt darin frei und stellt sich der Verantwortung für sein Leben. Erwacht jenes nichtduale Selbst, das die Gegenwart Gottes weckt, weiss ich bei jedem Atemzug um meine Selbstverantwortung für das, was ich hier und jetzt bin, und ich tue, was für mich körperlich als Mensch aus Fleisch und Blut notwendig ist.

Doch diese Selbstverantwortung erschöpft sich nicht in der Sorge um das tägliche Wohl. Sie tut dies vielmehr sinnerfüllt und verbunden mit dem Kontext, in welchem sie geschieht. Wer in der Gegenwart Gottes zur Selbstverantwortung erwacht, ist voll und ganz im Moment und weiss, was seine Geschichte und seine Aufgabe im jeweiligen Augenblick ist. Sein Tun geschieht mit Leib und Seele, ohne Wenn und Aber und unter Einbezug der ganzen Situation. Paulus illustriert dies in Korinth einmal mehr. Die Sorge um seinen Lebensunterhalt nimmt ihn werktags in Beschlag. Doch er vergisst nicht, dass es um mehr geht und dass seine Mission ist, für dieses Mehr einzustehen. Sabbat für Sabbat tut er das und versucht alle, Juden wie Griechen, davon zu überzeugen. Meine Selbstverantwortung in der Gegenwart Gottes fordert mich dazu auf, für mich selbst Sorge zu tragen. Sie macht mir jedoch bewusst, dass ich aus jenem nichtdualen Selbst agiere, das auch das Selbst von allem andern ist, dass alles deshalb miteinander verbunden ist, dass ich zwar in diesem grossen Spiel meinen Part spiele, aber auch alles andere darin seinen Part spielt. Ich stehe sinnerfüllt zu dem, was ich zu tun habe, aber ich weiss auch, dass nicht ich im Zentrum stehe, sondern die Gegenwart Gottes, in welcher alles lebt und webt und ist (vgl. Apg 17,28).

Die Selbstverantwortung, die in der Gegenwart Gottes geweckt wird, ist eine Ermutigung, zu uns selbst zu stehen und jenes Selbst zu leben, das wir in Gottes Gegenwart sind. Sie macht uns anpassungsfähig und befreit uns von der Angst, uns selbst zu verlieren. Die Verantwortung um unser körperliches Wohl lässt sie uns, aber vergisst nicht, dass es um mehr geht. Sie stellt die Gegenwart Gottes in die Mitte und lässt uns die Welt, in der wir sind, aus dieser Mitte sehen und gestalten. So kümmert sie sich um den heutigen Tag und lässt den morgigen Tag für sich sorgen (vgl. Mat 6,33f). Beten wir also, dass wir mit dieser Selbstverantwortung uns selbst leben und uns jeden Moment an Gottes Gegenwart freuen. Amen.

Predigt vom 31. August 2025 in Wabern
Bernhard Neuenschwander

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