Scapegoat

Scapegoat

Einige Tage danach sprach Paulus zu Barnabas: Lass uns wieder zurückkehren und sehen, wie es den Brüdern und Schwestern in all den Städten geht, in denen wir das Wort des Herrn verkündigt haben. Barnabas wollte auch Johannes mitnehmen, der Markus genannt wird. Paulus aber hielt es nicht für richtig, jemanden mitzunehmen, der sie in Pamphylien im Stich gelassen und sich nicht an ihrem Werk beteiligt hatte. Da kam es zu einem erbitterten Streit, der dazu führte, dass sie sich trennten. Barnabas nahm Markus mit sich und fuhr zu Schiff nach Zypern. Paulus aber wählte Silas und machte sich, von den Brüdern und Schwestern der Gnade des Herrn anvertraut, auf den Weg, zog durch Syrien und Kilikien und stärkte die Gemeinden. Apg 15,36-41

Karfreitag! Weder Herodes noch Pilatus finden einen Grund, der die Anklage gegen Jesus stützen würde. Doch die Hohenpriester und Schriftgelehrten wiegeln das Volk auf und machen gegen Jesus Stimmung. Ihr populistisches Vorgehen verfängt, sie gewinnen genügend Mitläufer, die sich von ihrer Propaganda anstecken lassen. Eher soll der kriminelle Barabbas, der wegen Aufruhrs und Mordes im Gefängnis sitzt, freigegeben werden, als jener Jesus, dem kein Bruch des geltenden Rechts nachgewiesen werden kann. Doch Pilatus, dem die Situation völlig klar ist, knickt vor denen, die laut genug schreien ein, und entscheidet sich, ihren Forderungen nachzukommen. Er gibt Barabbas frei und lässt Jesus kreuzigen. Anstatt das geltende Recht durchzusetzen, lässt er das Recht des Stärkeren sprechen. Der Konflikt wird so zwar beseitigt, doch ein Unschuldiger muss als Sündenbock geopfert werden (Lk 23,13-25).

Was sich in dieser Geschichte manifestiert, steht beispielshaft für unzählige Geschichten. Der französische Anthropologe und Religionsphilosoph René Girard hat sie in unterschiedlichen Gesellschaften beobachtet und darauf seine mimetische Theorie aufgebaut: Menschen in engem Kontakt ahmen sich nach, entwickeln Neid und Rivalität und lassen Konflikte eskalieren. Erst die Opferung eines Sündenbocks unterbricht die Gewaltspirale und führt zu vorübergehender Entspannung. Aus heutiger Sicht mag ein solches Konfliktverhalten archaisch und unfair scheinen, doch René Girard verweist zurecht darauf, dass die «rationalistische Unschuld»[1] der Moderne mehr Traum als Wirklichkeit ist. Menschen mit narzisstischen Störungen – und diese sind heute keine Seltenheit – führen es exemplarisch vor: Statt Konflikte fair und lösungsorientiert auszutragen, triggert ihre Gekränktheit Neid und Eifersucht, nährt Rachegefühle, eskaliert Chaos, Unrecht und Gewalt und erzwingt über kurz oder lang einen Sündenbock, um den Überdruck zu ventilieren und Entspannung in das überhitzte System zu bringen. Wer könnte behaupten, diese alte Mechanik sei heute überwunden?

Doch wo ist Gott darin gegenwärtig? Die Abwesenheit oder gar schiere Irrelevanz Gottes scheint in solchen Momenten offensichtlich und in postchristlicher Zeit eine Selbstverständlichkeit, die fraglos hingenommen wird. Der christliche Glaube hat diese Frage indes in sein Zentrum gestellt. Das Kreuz ist sein Zeichen, Karfreitag sein Moment der Wahrheit. Er nimmt die menschliche Bereitschaft, sich in Neid und Eifersucht zu verstricken, unvermittelt und angstfrei in Blick und fordert dazu auf, sich dem Knoten der Verstrickung zu stellen, Illusionen und Wunschvorstellungen zu verabschieden und auf diesem Weg in Gottes Gegenwart zu gelangen – unmittelbar, unfassbar und doch völlig evident. Der christliche Glaube stellt nicht die Beseitigung der menschlichen Verstrickung in Aussicht, wohl aber die Erfahrung, dass mitten darin das Geheimnis des Moments Realität wird.

Unser Predigttext berichtet von einem solchen Moment. Im Zentrum steht ein Konflikt, der in einem Zerwürfnis endet. Die Protagonisten sind Paulus und Barnabas. Sie kennen sich bestens und haben zusammen über lange Zeit als Team ausgezeichnet funktioniert. Gemeinsam haben sie in Antiochia gewirkt, gemeinsam haben sie eine Missionsreise in Kleinasien erfolgreich abgeschlossen, und gemeinsam haben sie soeben am Apostelkonzil von den dortigen Autoritäten explizit den Segen dafür bekommen, auch Nichtjuden die bedingungslose Gegenwart Gottes zu verkündigen (Apg 11,22-15,35; Gal 2,1-10). Dennoch kommt es nun zum Bruch zwischen den beiden. Unser Predigttext erzählt, was der Auslöser ist.

Zunächst scheint die Situation entspannt. Zusammen mit vielen andern lehren und verkündigen sie in Antiochia das Wort des Herrn (V35). Die Gemeinde ist personell gut aufgestellt, und Paulus und Barnabas wirken im grossen Verband dieser Metropole mit. Doch bereits nach einigen Tagen ergreift Paulus die Initiative, diese Situation zu verlassen und erneut auf Reisen zu gehen (V36). Er wendet sich an Barnabas und fordert ihn dazu auf, gemeinsam eine Visitation jener Gemeinden zu machen, in denen sie früher gewirkt haben. Barnabas ist damit einverstanden, stellt jedoch eine Forderung (V37). Er will Johannes Markus mitnehmen. Paulus ist dagegen (V38). Er hält es nicht für richtig, jemanden mitzunehmen, der sich damals in Perge in Pamphylien von ihnen abgesetzt (Apg 13,13) und sich nicht an ihrem Werk, den Nichtjuden die bedingungslose Gegenwart Gottes zu verkünden (Apg 13,2; 14,26), beteiligt hat.

Lukas erweckt mit dieser Darstellung den Eindruck, dass es die unzureichende Zuverlässigkeit des Johannes Markus ist, die zum Streit führt. Ohne Zögern macht er diesen zum Sündenbock. Doch der Verdacht drängt sich auf, dass damit ein ungeklärter Konflikt verwischt wird. Johannes Markus stammt nämlich aus der Jerusalemer Gemeinde (Apg 12,12.25) und dürfte ein Verständnis des christlichen Glaubens vertreten, das stärker im Judentum verankert ist. Es ist gut denkbar, dass er Paulus und Barnabas auf der ersten Missionsreise verliess, weil er mehr Konzessionen gegenüber dem jüdischen Gesetz forderte. Das eigentliche Problem dürfte also nicht Johannes Markus als Person sein, sondern die unterschiedlichen Antworten auf die Frage, welche Auflagen der jüdischen Tradition Nichtjuden, die zum christlichen Glauben kommen, gemacht werden müssen. Zwar will das Schreiben der Jerusalemer Gemeinde an die Gemeinde Antiochias diesen Konflikt lösen (Apg 15,23-32). Aber die Lösung gilt nur gemeindeintern und bleibt damit zu oberflächlich. Die grundsätzliche Frage, in welchem Verhältnis christliche Gemeinde und Synagoge zueinander stehen, lässt sie unbeantwortet. Es bleibt damit der dringende Verdacht, dass Lukas auch hier harmonisiert, den eigentlichen Konflikt überdeckt, Johannes Markus stellvertretend die Schuld tragen lässt und verschleiert, dass der Konflikt das Verhältnis von Paulus zu Barnabas und zur Gemeinde Antiochias überschattet.

Den Fortgang des Konflikts zwischen Paulus und Barnabas berichtet Lukas mit knappen Worten und klarer Parteinahme für Paulus (VV 39-41). Es kommt zwischen den beiden zum erbitterten Streit, der dazu führt, dass sie sich trennen. Barnabas nimmt Markus mit und segelt mit ihm nach Zypern, seiner Heimat. Von ihnen ist im weiteren Verlauf der Apostelgeschichte nicht mehr die Rede. Lukas wendet sich ganz dem Werk des Paulus zu. Dieser aber wählt sich Silas zum neuen Begleiter. Silas stammt zwar auch aus der Jerusalemer Gemeinde und wird von dieser nach Antiochia gesandt (Apg 15,27.32), doch scheint er Paulus theologisch nahe zu stehen. Zusammen mit ihm macht sich Paulus nun auf den Weg. Die Gemeinde Antiochias vertraut die beiden zwar auch der Gnade Gottes an, aber sie werden anders als bei der ersten Missionsreise nicht mehr formell von ihr ausgesandt (Apg 13,1-3). Nach dieser zweiten Missionsreise kehrt Paulus wieder nach Antiochia zurückkehren (Apg 18,22), sein Verhältnis zur Gemeinde ist indes deutlich abgekühlt. Seine jetzige Reise macht er eigenständig und mit zunehmend geklärter theologischer Aussage. Sie führt ihn zunächst durch Syrien und in seine Heimat Kilikien, schon bald aber nach Griechenland. Paulus scheint Barnabas trotz allem in guter Erinnerung zu behalten (1Kor 9,5), doch die vollständige Trennung der beiden ist nach ihrem Zerwürfnis offenbar unvermeidlich.

Besinnen wir uns am heutigen Karfreitag auf diesen Bibeltext, kommen wir nicht darum herum, uns selbstkritisch zu fragen, ob und inwiefern wir heute willens und fähig sind, Konflikte so zu lösen, dass keine Sündenböcke nötig sind.

Die Sündenbockmechanik ist offensichtlich tief im menschlichen Zusammenleben eingraviert. Auch wenn sie nicht auf das jüdisch-christliche Erbe begrenzt ist, so hat dieses doch die Gravur unserer westlichen Gesellschaften massgeblich geprägt. In der Vorstellung Jesajas trägt der Gottesknecht unsere Krankheiten, nimmt unsere Schmerzen auf sich und trägt die Sünden vieler (Jes 53,4-12). Im Neuen Testament wird Jesus als Gottesknecht gedeutet, der unsere Sünden trägt (Mt 8,17; Röm 4,25; Gal 1,4; 1Petr 2,24). Paulus will diese Mechanik zwar dahingehend verstanden wissen, dass sie in Christus ein für alle Mal geschehen ist, deshalb kein Bedarf zur Wiederholung besteht und ad acta gelegt werden soll (Röm 6,10; Gal 2,19). Doch bereits die lukanische Darstellung des Konflikts zwischen ihm und Barnabas zeigt, dass dies mehr Wunschdenken als Realität ist. Die gute Absicht von Paulus samt ihrem theologischen Überbau hat nicht die erhoffte Wirkung erzielt. Sein Schema bleibt im patriarchalen Denkmuster verstrickt, das davon ausgeht, dass eine übermächtige Autorität mit einem Opfer befriedigt werden muss. Wird es heute in ungezählter Auflage wiederholt, mag der Konflikt als Schachspiel verharmlost und die leidtragende Figur als «Bauernopfer» bezeichnet werden. Wer aber geopfert wird, erleidet den blanken Horror. Aus der Perspektive des Starken ist das Schema zwar kostengünstig und praktisch, aber fair für den Schwachen ist es nicht.

Soll ein Konflikt fair und ohne Rückgriff auf die Sündenbockmechanik gelöst werden, sind alle Beteiligten gefordert, sich auf eine Ursachenanalyse einzulassen. Allerdings ist genau dies zuweilen anspruchsvoll oder ganz unmöglich. Offenbar fiel es sowohl Paulus als auch Barnabas schwer, den doppelten Ausgang der jüdischen Tradition einerseits in den Weg der Synagoge, andererseits in den Weg der christlichen Gemeinde zu verstehen. Barnabas forderte deshalb von der christlichen Gemeinde mehr Konzessionen gegenüber dem Judentum, Paulus rang bis zuletzt um die Integration des Judentums in sein Verständnis des Evangeliums (Röm 1-11). Weil sie nicht in der Lage waren, diesen grundsätzlichen Konflikt zu lösen, blieb ihnen nur die Trennung, und Lukas opferte dafür Johannes Markus. Das ist unbefriedigend, ein Vorwurf ist indes unangebracht. Das Verhältnis zwischen jüdischer und christlicher Tradition ist ambivalent, hat in der Geschichte unsäglich viel Leid verursacht und sorgt bis heute immer wieder zu Konflikten. Selbst in dieser postchristlichen Zeit geschieht es, dass eine christlich, muslimisch oder ideologisch aufgeladene und entsprechend beanspruchte Position von Überlegenheit die schwächere jüdische Seite zum Sündenbock stempelt. Der Rückgriff auf antisemitische Mechanismen ist für die Entlastung überhitzter Konflikte nach wie vor rasch zur Hand. Karfreitag konfrontiert uns deshalb mit der ebenso brutalen wie banalen Einsicht, dass Konflikte oft genug nicht unbefangen analysiert und gelöst werden und dass stattdessen vom Stärkeren geopfert wird, wer oder was für ihn die geringsten Kosten verursacht.

Was in solchen Momenten bleibt, ist jenes Standhalten, das sich nicht in den Konflikt verstrickt, stattdessen in der Gegenwart Gottes verankert bleibt und sich an deren Liebe und Weisheit orientiert. Der Konflikt wird auf diese Weise nicht gelöst, doch wird eine weitere Eskalation verhindert und der Weg zu einer pragmatischen Lösung geebnet. So verheisst der lukanische Jesus am Kreuz dem mitgekreuzigten Verbrecher, dass er noch heute mit ihm im Paradies sein werde (Lk 23,43). Seine Stabilität im Heute Gottes gibt ihm selbst im Sterben die Liebe und Weisheit zum Standhalten. Paulus und Barnabas verhindern mit diesem Ansatz zwar den Bruch ihrer Zusammenarbeit nicht, aber sie verstricken sich auch nicht in einem langen und zerstörerischen Streit, an dessen Ende beide nur Verlierer sind. Sie finden stattdessen rasch und pragmatisch zu einer Lösung, die ihnen erlaubt, aufrecht und eigenständig das begonnene Werk je auf ihre Weise fortzusetzen. Karfreitag erinnert daran, dass die Liebe und Weisheit der Gegenwart Gottes nicht dafür sorgen, dass es keine Konflikte, keine Zerwürfnisse, keine Trennungen gibt, wohl aber, dass diese für alle, die sich an sie halten, mit Anstand und Fairness abgewickelt werden können. Der Schmerz von Karfreitag verschwindet auf diese Weise nicht. Aber er enthüllt mitten im Dunkeln ein Licht, das tröstet, niemandem einseitig die Schuld zuweist und ohne Sündenbock auskommt.

Karfreitag konfrontiert jedes Jahr mit den Knoten menschlicher Verstrickung und all dem Leiden, das damit einhergeht. Was damit angesprochen wird, hat auch in dieser postchristlichen Zeit nichts an Aktualität verloren. Die Besinnung auf die Gegenwart Gottes, ihre Liebe, ihre Weisheit, verhindert nicht, dass es zu Konflikten und schmerzhaften Momenten kommt. Aber sie hält den Ball flach und sucht Lösungen, die fair sind und keine Sündenböcke schafft. Beten wir also, dass uns dieser Karfreitag zur Stärkung wird und dass uns Gott in allen Konflikten gegenwärtig bleibt. Amen.

[1] Thomä, Dieter (2015): Im Menschheitskeller. Zum Tod des Kulturanthropologen René Girard, in: NZZ vom 5. November 2015, 42.

Predigt vom 18. April 2025 in Wabern
Bernhard Neuenschwander

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