Nach ihrer Freilassung gingen sie zu den Ihren und berichteten alles, was die Hohen Priester und Ältesten zu ihnen gesagt hatten. Als diese es hörten, erhoben sie einmütig ihre Stimme zu Gott und sprachen: Herr, unser Herrscher, du hast den Himmel gemacht und die Erde und das Meer und alles, was darin ist; du hast durch den heiligen Geist, durch den Mund unseres Vaters David, deines Knechtes, gesagt: Was tun die Völker so gross und sinnen die Nationen Nichtiges? Die Könige der Erde sind herbeigekommen, und die Fürsten haben sich zusammengetan, gegen den Herrn und seinen Gesalbten. Ja, wirklich, zusammengetan haben sich in dieser Stadt Herodes und Pontius Pilatus, die Völker und die Stämme Israels, gegen deinen heiligen Knecht, Jesus, den du gesalbt hast. Und sie haben getan, was deine Hand und dein Ratschluss im Voraus festgesetzt haben, dass es geschehe. Und nun, Herr: Achte auf ihre Drohungen und gewähre deinen Knechten, in aller Freiheit dein Wort zu verkündigen, während du deine Hand ausstreckst und Heilung bewirkst und Zeichen und Wunder geschehen lässt durch den Namen deines heiligen Knechtes Jesus. Und als sie gebetet hatten, erbebte der Ort, an dem sie sich versammelt hatten, und sie wurden alle erfüllt von heiligem Geist und verkündigten das Wort Gottes in aller Freiheit. Apg 4,23-31
Wer wüsste es nicht: Gelassene Menschen sind eine Wohltat. Sie sind entspannt, und doch wach da, gut bei sich, und doch offen für andere. In ihrer Nähe öffnen sich Räume. Die Angst verschwindet. Empfindungen und Gedanken verknüpfen sich. Eine kreative Stimmung breitet sich aus. Neues entsteht. Bei aller Ernsthaftigkeit ist eine Prise Humor ständig im Spiel. Das Herz lächelt. Denn klar ist: Allzu ernst muss ich mich selbst nicht nehmen. Ich bin trotz aller Verantwortung, die ich im Moment trage, eine flüchtige Erscheinung. Wie alles andere habe ich mein Kommen und Gehen. In der Gegenwart solcher Menschen fühlt man wohl und lebendig, ist im Fluss und freut sich am Prickeln und Pulsieren, das in der Luft liegt. Deshalb sind Menschen, die sich gelassen haben und den Augenblick mit dieser Atmosphäre füllen, anziehend. Sie in seiner Nähe zu haben, macht Freude.
Leider ist solche Gelassenheit keine Selbstverständlichkeit. Viel selbstverständlicher ist das Drehen um sich selbst. Wer sonst kaum etwas zu sagen hat, kann sehr gesprächig werden, wenn es um ihn selbst geht, und wer sonst bloss mitläuft, kann durchaus engagiert werden, wenn er selbst zum Zug kommt. Man will partizipieren und sich selbst zur Geltung bringen, Aufmerksamkeit erhalten und bewundert werden. Denn gefühlt bin ich das Zentrum, und wird dies nicht gebührend gewürdigt, bin ich beleidigt und gekränkt. Dann habe ich alles Recht, mich als Opfer zu inszenieren und Genugtuung einzufordern. In weite Ferne rückt so die Gelassenheit. An ihre Stelle tritt stattdessen bitterer Ernst, das Gefühl, in die Ecke gedrängt zu sein und ums eigene Überleben kämpfen zu müssen. Unsere wohlstandsverwöhnte und narzisstisch geprägt Zeit tut sich mit der Gelassenheit schwer. Der Ego-Kult ist ihr näher, und das Feiern des Ich-Ich-Ich ist ihr heilig.
Es ist deshalb durchaus hilfreich, sich hin und wieder an die Gegenwart Gottes zu erinnern. Die Gegenwart Gottes ist das Geheimnis des Moments. Sie ist mitten in mir ständig da, und sie öffnet die Tür, um durch mich hindurch zu gehen und mich selbst zu lassen. Bin ich ganz da und gehe ich durch diese Tür, öffnet sich mir der Weg, der mich aus meiner Selbstbezogenheit hinausführt und mich gerade so stabilisiert, der mich in den Abgrund meiner Demut bringt und mir gerade so Grund gibt, der mich aus der Verstricktheit meines Ichs befreit und mich gerade so frei macht und zu mir bringt. Gelassenheit entsteht nicht, solange ich mit mir selbst im Kampf bin, Gelassenheit entsteht, wenn ich diesen Kampf lassen und die Gegenwart Gottes lebe, die ich bereits bin.
Genau dies hat Lukas begriffen. In seinem Evangelium hat er am Beispiel von Jesus illustriert, was dies bedeutet, und in seiner Apostelgeschichte will er zeigen, dass dessen Beispiel Früchte trägt und Menschen dazu motiviert, diesen Weg ebenfalls zu gehen. Unser Predigttext zeigt es. Eine längere, in sich geschlossene Erzählung geht ihm voraus. Petrus und Johannes heilten im Tempel einen Gelähmten. Es kam zu einem Volksauflauf, der dazu führte, dass die beiden zusammen mit dem Geheilten von der der Tempelpolizei verhaftet wurden. Darauf wurden sie von der jüdischen Elite befragt, aus welcher Kraft oder in welchem Namen sie gehandelt hatten. Petrus und Johannes liessen keine Zweifel daran, dass die Heilung durch die Gegenwart Gottes geschah. Aber sie machten ebenso unmissverständlich klar, dass ihnen Gott durch Jesus Christus den Nazarener gegenwärtig wurde. In dessen Namen hatten sie gewirkt, in dessen Name hatte Gott die Heilung vollbracht. Für die jüdische Elite war dies inakzeptabel. Sie verboten Petrus und Johannes unter Strafandrohung weiterhin von Jesus zu sprechen. Diese entgegneten, dass sie sich nicht an dieses Verbot halten würden. Es sei nicht recht, mehr auf sie zu hören als auf Gott. Deshalb würden sie nicht aufhören, von dem zu sprechen, was sie gehört und gesehen hätten.
Hier setzt unser Predigttext ein. Er erzählt, dass sie nach ihrer Freilassung zu den Ihren zurückkehren, also zu all den Menschen, die mit ihnen auf dem Weg der Gegenwart Gottes sind und diese wie sie durch Jesus Christus dem Nazarener erfahren. Sie berichten diesen Menschen, was ihnen die jüdische Elite gesagt hat. Deren Reaktion ist weder Protestgeschrei noch Resignation, sondern ein Gebet. Zwischen der aktuellen Situation und ihrer Reaktion darauf soll Gott gegenwärtig werden, Raum für Gelassenheit und Reflexion entstehen und ihren nächsten Schritt vorbereiten. Das Gebet, das folgt, ist das längste Gemeindegebet des Neuen Testaments. Es bringt paradigmatisch den Glauben der Urgemeinde zum Ausdruck.
Einmütig erheben sie ihre Stimme zu Gott. Für sie steht ausser Frage, dass man Gott mehr gehorchen muss als der Obrigkeit. Diese Überzeugung verbindet und eint sie als Glaubensgemeinschaft. Ihr Gebet bringt das zum Ausdruck. Es spricht Gott zunächst als Herrscher an. Für sie ist die Gegenwart Gottes diejenige Macht, um die sich alles dreht. Sie sprechen diese Macht mit Du an. Das Du des Moments ist ihre Referenz. Doch der Gott, den sie so ansprechen, ist derjenige, der Himmel, Erde und Meer samt allem, was darin ist, gemacht hat. Er ist aber auch derjenige, der durch den heiligen Geist durch ihren Vater David, Gottes Knecht, gesprochen hat. Sowohl als Schöpfer von allem, als auch in der Geschichte seiner Schöpfung ist dieser Gott gegenwärtig. Dies qualifiziert die Gegenwart Gottes als jene Macht, auf die sie sich bedingungslos beziehen.
Das Gebet zitiert nun den Beginn von Psalm 2, einem Psalm, der David zugeschrieben wird. In diesem Zitat ist davon die Rede, dass sich die Völker gross machen und die Nationen Nichtiges sinnen, dass sich Könige und Fürsten zusammentun, um gegen die Macht der Gegenwart Gottes und dessen Gesalbten anzutreten. Aus Sicht der Betenden ist genau dies jetzt wirklich geschehen. Im griechischen Text steht ἐπ̓ ἀληθείας, in Wahrheit. Was der Psalm angekündigt hat, ist nun tatsächlich eingetroffen: Herodes und Pontius Pilatus, die jüdische und die römische Obrigkeit, die Völker und die Stämme Israels, haben sich in der Stadt Jerusalem zusammengetan gegen Jesus, den heiligen Knecht, den Gott gesalbt hat. So ist geschehen, was Gottes Hand und Ratschluss im Voraus festgesetzt haben. Die Macht der Gegenwart Gottes wird durch diese Ereignisse nicht infrage gestellt. Sie hat die Angriffe dieser weltlichen Mächte längstens integriert.
Auf dieser Grundlage formulieren die Betenden ihre Bitte. Sie sprechen Gott nun mit «Herr» an und bitten ihn, auf die erhobenen Drohungen zu achten und den Knechten, die ihm gehorchen, zu gewähren, dass sie in allem Freimut sein Wort verkünden. Im griechischen Text steht μετὰ παρρησίας. Der Ausdruck hat sokratisches Kolorit und bezeichnet das souveräne, furchtlose Reden. Genau so sind Petrus und Johannes soeben bei der Befragung durch die jüdische Elite für ihre Sache eingestanden (vgl Apg 4,13), genau so wollen auch die Betenden dafür einstehen. Deshalb bitten sie genau darum. Nicht die Rettung aus ihrer Not steht im Zentrum, sondern die παρρησία – diese Souveränität in demütiger Gelassenheit, dieses unbefangene Einstehen im Gehorsam gegenüber der Gegenwart Gottes. Denn, schreibt Lukas, parallel dazu ist die Hand Gottes am Werk. Sie bewirkt Heilung und lässt Zeichen und Wunder geschehen durch den Namen seines heiligen Knechts Jesus. Steht die παρρησία der Betenden stabil, ist Gott durch den Namen von Jesus Christus dem Nazarener in ihnen gegenwärtig und schafft Heilung und Erlösung. Das Gebet, das die Betenden soeben gebetet haben, berührt sie alle. Lapidar hält Lukas fest, dass nach dem Gebet der Ort erbebt, an welchem sie versammelt sind, dass alle vom heiligen Geist erfüllt werden und dass sie sein Wort μετὰ παρρησίας, in der Freiheit der Gegenwart Gottes, verkünden.
Diese mutige Reaktion der Urgemeinde auf die Verhaftung und anschiessende Befragung von Petrus und Johannes durch die jüdische Elite kann auch uns heute berühren und zu denken geben. Die Urgemeinde liess sich von diesen Ereignissen nicht einschüchtern. Sie machte sich stattdessen jenes Jesuswort zu eigenen, dass sich nicht sorgen muss, wer vor Gerichte oder Machthaber oder Behörden gestellt werde, denn der heilige Geist werde ihn in jener Stunde lehren, was zu sagen ist (Lk 12,11f). Der Bezug zur Gegenwart Gottes erfüllte sie mit der Kraft des heiligen Geistes und gab ihnen die Parrhesia, für jenen Meister einzustehen, in dessen Namen sie die Gegenwart Gottes erlebten. Auf diese Weise fanden sie ihren inneren Meister, auf diese Weise fanden sie in sich die Tür zur Güte und Weisheit Gottes. An der Parrhesia zeigte sich ihre Meisterschaft.
Diese Parrhesia brauchen wir heute mehr denn je. In unserer postchristlichen Zeit sind wir auf ganz neue Weise gefordert, uns über unseren Glauben Rechenschaft zu geben. Die Zeit, uns einem überlieferten Glauben anzuschliessen und mit dem Glauben einer Mehrheit mitzulaufen, ist vorüber. Heute steht eine Vielzahl von Glaubensüberzeugungen miteinander im Wettbewerb. Evangelikale Varianten konkurrenzieren mit esoterischen, landeskirchliche mit sektoiden, und christliche Modelle rivalisieren mit Modellen nichtchristlicher Religionen und mit politischen, weltanschaulichen und ideologischen Konzepten. Da braucht es Arbeit, um mit sich klar zu werden, seinen inneren Meister zu finden und zu jenem christlichen Glauben zu gelangen, für den einzustehen man von innen heraus tatsächlich bereit ist.
Der Weg, den uns Lukas anbietet, ist der Weg in die Gegenwart Gottes. Dieser Weg basiert nicht auf dem starren Festhalten dogmatischer oder moralischer Formeln. Er orientiert sich vielmehr an einer konkreten Praxis: dem persönlichen Einstehen für Gott als dem Geheimnis des Moments. Wie die Urgemeinde sucht er Gebet und Meditation, um im Hier und Jetzt klar zu werden. Jesus hat in dieser Gegenwart gelebt, und seine Präsenz bringt Menschen dazu in dieser Gegenwart zu leben. Seine Präsenz hat über die Jahrhunderte und in der ganzen Welt gewirkt. Sie wirkt bis heute, und sie hört nicht auf zu wirken. In seinem Namen finden wir die Gegenwart Gottes, die Gelassenheit von uns selbst und die Parrhesia, ruhig und klar für unseren Glauben einzustehen. In seinem Namen haben wir die Tür. Ob wir sie nutzen und den Weg in die Gegenwart Gottes gehen, ist unsere Entscheidung.
Ein solcher Glaube hat seine eigene Attraktivität. Er verzichtet auf Druck und Zwang, und er setzt darauf, dass die Freiheit, die er eröffnet, für sich spricht. Entdecken wir einen Zipfel der Gegenwart Gottes, beginnt unsere Erlösung. Zu verstehen, was an diesem Zipfel hängt, es in das eigene Leben zu integrieren und nach und nach umzusetzen, ist ein langer Weg. Haben wir in uns den Ansatz zu unserer Erlösung entdeckt, beginnt erst die Arbeit. Diese Arbeit aber ist eine Wohltat – für uns selbst und für andere. Sie heilt alte Wunden, sie erlöst von vergangenen Geschichten, sie schafft Raum für die Güte und Weisheit der Gegenwart Gottes. Ein christlicher Glaube, der so auf dem Weg ist, bewährt sich auch in postchristlicher Zeit. Er steht für sich ein und bleibt doch gelassen, er übernimmt Verantwortung und verliert doch das Lächeln über sich selbst nicht. Was könnte einen Glauben heute attraktiver machen! Beten wir also, dass wir den Weg in die Gegenwart Gottes gehen und seinen Segen leben lernen. Amen.
Predigt vom 29. Januar 2023 in Wabern
Bernhard Neuenschwander