On the market

On the market

Während Paulus in Athen auf sie wartete, packte ihn die Wut beim Anblick der zahllosen Götterbilder, die es da in der Stadt gab. In der Synagoge sprach er dann mit den Juden und den Gottesfürchtigen, und auf dem Marktplatz unterhielt er sich täglich mit den Vorübergehenden. Auch etliche aus dem Kreis der epikureischen und stoischen Philosophen liessen sich auf ein Gespräch mit ihm ein, und einige sagten: Was will dieser Schwätzer eigentlich?, andere dagegen: Er scheint ein Verkünder fremder Gottheiten zu sein. Er verkündigte nämlich Jesus und die Auferstehung. Sie nahmen ihn mit, führten ihn auf den Areopag und sagten: Können wir erfahren, was für eine neue Lehre das ist, die du da vorträgst? Befremdliches bringst du uns zu Ohren; wir möchten erfahren, worum es da geht. Alle Athener und die Fremden, die sich dort aufhalten, tun nämlich nichts lieber als letzte Neuigkeiten austauschen. Apg 17,16-21

Die Gegenwart Gottes zentriert und schafft Offenheit. Wer in der Gegenwart Gottes ist, steht nicht im Konflikt zwischen sich und anderem. Er nimmt sich selbst vielmehr ganz natürlich und selbstverständlich im Kontext, in welchem er hier und jetzt ist, wahr und bewegt sich unbefangen in ihm. Bin ich im Geheimnis des Moments, bin ich in meinem Element, frei wie ein Vogel in den Lüften oder ein Fisch im Wasser. Ich kann atmen, und ich lasse andere atmen; ich bin bei mir, und ich lasse andere bei sich sein. Ängste, Sorgen und Zweifel, Werte und Normen, moralische oder ideologische Überzeugungen stehen mir nicht im Wege, es gibt Kontakt, und ich freue mich an Resonanz und Austausch, die möglich sind. Präsenz im Hier und Jetzt schafft Verbundenheit ohne Verstrickung.

Dies zu erleben, tut gut, und wäre eigentlich naheliegend und einfach. Dennoch geschieht die Flucht vor dem Moment oft reflexartig und rascher als jede bewusste Entscheidung. Anstatt unbefangen wahrzunehmen, was ist, reflektiere ich, was geschieht und wie ich die Kontrolle behalte. Es ist nicht zu bestreiten: Jede Berührung mit dem Moment berührt auch mich, zeigt mir meine Vulnerabilität und konfrontiert mich mit meinen ungelösten Themen. Dies kann Irritation und Schrecken auslösen und mein Gefühl von Sicherheit in Frage stellen. Ein Schritt zurück, ein erster Fluchtversuch, ist deshalb schnell zur Stelle, bevor meine archaischen Strategien zur Bewältigung der Situation einsetzen. Vielleicht suche ich nun erst recht die Berührung, fordere Reibung und Auseinandersetzung, weil ich mich genau so spüren will. Vielleicht ergreife ich vollends die Flucht und vermeide jeden weiteren Kontakt. Und vielleicht stelle ich auf tot und tue alles, was mir hilft, die Wahrnehmung auszuschalten und nichts mehr zu spüren. Menschen haben unzählige Strategien entwickelt, um die Berührung mit dem Hier und Jetzt zu vermeiden. In unserer postchristlichen Zeit scheint die Flucht in eine technologisch aufgerüstete Cyberwelt attraktiv zu sein. Endlich könnte doch Nietzsche’s Traum vom Übermenschen in Erfüllung gehen und der Mensch 2.0 entstehen, der – wie Exponenten des heutigen Amerika spekulieren – alle bisherigen Grenzen überschreitet, den Tod beseitigt, den Mars besiedelt und eine neue Ordnung auf dieser Welt, ja in diesem Universum erschafft – um sich nicht vom Hier und Jetzt berühren lassen zu müssen.

Der Glaube an die Gegenwart Gottes erinnert demgegenüber daran, dass Leben trotz allen Fluchtversuchen ständig im Hier und Jetzt stattfindet. Er setzt deshalb nicht auf bessere Fluchtstrategien, sondern auf jene Freiheit, die jeden Augenblick gegenwärtig ist, persönliche Stabilität schafft und zu Kontakt und Resonanz befähigt. Unser Predigttext führt vor, was dies bedeutet.

Er erzählt vom Aufenthalt des Paulus in Athen und seinem Auftreten auf dem Markt der Stadt. Seine zweite Missionsreise hat ihn nach Europa geführt; doch einfach ist sein Engagement für die bedingungslose Gegenwart Gottes auf diesem Boden bisher nicht verlaufen. Zuletzt hat er zusammen mit Silas und Timotheus im mazedonischen Beröa zwar einigen Erfolg erzielt und eine christliche Gemeinschaft gegründet, doch ist es schliesslich auch da zum Aufstand gegen ihn gekommen, sodass er diesen Ort wie zuvor Thessalonich ebenfalls fluchtartig verlassen muss. Dank sicherem Geleit kommt er nach Athen, ist dort jedoch auf sich gestellt. Silas und Timotheus werden erst in Korinth wieder zu ihm stossen (Apg 17,10-15).

Unser Predigttext berichtet zunächst, dass Paulus ohne grosses Interesse an der Stadt auf die beiden wartet (V16). Athen dürfte schon zu dieser Zeit von seiner grossen Vergangenheit gelebt und kaum mehr als 5000 Einwohner gehabt haben. Wichtiger, was Bevölkerungszahl und wirtschaftliche Bedeutung betrifft, wird das aufstrebende Korinth gewesen sein. Paulus ist indes nicht als Tourist in Athen. Ihm ist klar, was seine Mission ist. Die zahllosen Götterbilder, die es in der Stadt gibt, nimmt er nicht interessiert zu Kenntnis, sondern ihr Anblick versetzt ihn in Wut. Sofort geht er in Kontakt mit der Bevölkerung (V17). Am Sabbat spricht er in der Synagoge mit Juden und Gottesfürchtigen, und unter der Woche unterhält er sich täglich auf dem Markt mit den Vorübergehenden. Unübersehbar sind die Parallelen, die der Bericht schafft: Wie seinerzeit Sokrates auf dem Markt Athens mit den Leuten gesprochen hat, so tut es nun Paulus. Doch der Bericht spielt auch mit dem Nimbus der Stadt der Philosophen (V18). Er erwähnt, dass sich einige aus dem Kreis der epikureischen und stoischen Philosophen auf ein Gespräch mit ihm einlassen. Doch ihre Reaktion ist wenig freundlich. Einige fragen, was dieser Schwätzer denn eigentlich wolle, andern bekommen den Eindruck, dass er ein Verkünder fremder Gottheiten sei. Er verkünde Jesus und die Auferstehung, also eine Art Götterpaar. Der Austausch scheint vorerst also eher oberflächlich und wenig ergiebig zu sein. Doch das Interesse ist geweckt.

Erzählt wird nämlich, dass die Philosophen mehr von Paulus hören wollen (V19f). Sie nehmen ihn mit und führen ihn weg vom Getümmel des Marktes auf den Areopag. Der Begriff bezeichnet einerseits den nordwestlich der Akropolis gelegenen Aresfelsen, der sich für Diskussionen eignet, andererseits aber auch die athenische Kulturbehörde. Um ein gerichtliches Verhör scheint es nicht gegangen zu sein. Hier dürfte eher gemeint sein, dass Paulus eine offizielle Anhörung angeboten wird. Jedenfalls fragen die Philosophen, ob sie erfahren können, was für eine neue Lehre Paulus vortrage. Er bringe ihnen Befremdliches zu Ohren, und sie möchten erfahren, worum es da gehe. Lukas bleibt allerdings skeptisch, ob das Interesse tatsächlich ernsthaft gewesen ist (V21). Mit einem spitzen Unterton hält er fest, dass alle Athener und die Fremden, die sich dort aufhalten, nichts lieber tun, als letzte Neuigkeiten auszutauschen. Will er damit sagen, dass man aus ihrer Reaktion keine weitreichenden Schlüsse ziehen sollte, weil in dieser Situation die Ernsthaftigkeit gefehlt hat? Er würde also andeuten wollen, dass es bloss um eine erste Begegnung gegangen ist, dass das Thema jedoch noch keineswegs ausgeschöpft ist. Im Zentrum steht für ihn ohnehin, was nun geschieht (V22a). Paulus stellt sich nämlich selbstbewusst hin, mitten auf dem Areopag, und spricht. Lukas lässt keine Zweifel, dass ihm dieser Auftritt von Paulus sowie die Botschaft, die er nun vorträgt, am Herzen liegt. Die Fortsetzung macht es deutlich. Sie stellt die kunstvoll ausgestaltete Predigt dar, die Paulus aus Sicht des Lukas vor diesem Publikum gehalten hat (VV22b-31).

Die Beschäftigung mit diesem Bibeltext fordert uns dazu auf, über die Auswirkungen der Gegenwart Gottes auf unseren Alltag nachzudenken. Sind auch wir bereit, uns dem Markt des Hier und Jetzt zu stellen und uns mit dem auseinander zu setzen, was uns dieser bietet?

Grundsätzlich ist die Sache klar: Wer in der Gegenwart Gottes ist, kann und will sich dem Hier und Jetzt nicht entziehen. Sein Interesse ist vielmehr geweckt, mehr und mehr auszupacken, was im Geheimnis der Gegenwart steckt, die Dichte und Intensität des Moments zu erkunden und im Leben zu vollziehen. Das Beispiel von Paulus in Athen zeigt, was das heisst. Die unzähligen Götterbilder in der Stadt wecken seine Wut und motivieren ihn, für die Gegenwart Gottes im Hier und Jetzt einzustehen. Aus seiner Sicht ist die Vergöttlichung von diesem und jenem eine Flucht, die neue Abhängigkeiten schafft und den Blick für das, was in diesem Moment der Fall ist, verstellt. Seine Wut gibt ihm den nötigen Mut, nicht zu flüchten und sich von der Dynamik der Stadt nicht mitreissen zu lassen, sondern klar im Moment zu bleiben und sich seiner Situation zu stellen. In dieser postchristlichen Zeit sind Götterbilder nicht mehr als solche markiert, doch seltener und unwirksamer geworden sind sie deswegen nicht. Ich kann Prestige, Erfolg, Macht verehren, ich kann mich in künstliche oder ideologische Welten flüchten, ich kann im Hamsterrad drehen und mich dem Sog meiner Selbstoptimierung hingeben – Unzähliges kann ich vergöttlichen, und der Möglichkeiten sind viele, mir vorzugaukeln, dass ich im Moment lebe, dabei aber ständig damit beschäftigt bin, genau diesen zu vermeiden. Die Gegenwart Gottes mag zwar ins Hier und Jetzt führen; doch es braucht Selbstkritik, sich einzugestehen, wie weit man zuweilen davon entfernt ist.

Umgekehrt muss man nichts unternehmen, um in die Gegenwart Gottes zu kommen. Es bedarf keiner Reisen an heilige Orte, keiner religiösen Praxis, um sie zu erarbeiten, kein Für-wahr-Halten alter Geschichten, Glaubensbekenntnisse oder religiöser Theorien. Die Gegenwart Gottes ist schon da, in jedem Hier und Jetzt. Deshalb geht Paulus in Athen schlicht und einfach dorthin, wo die Menschen sind und das Leben geschieht: am Sabbat in die Synagoge und unter der Woche auf den Markt. Er tritt in Kontakt mit denen, die zufälligerweise vor Ort sind, spricht sie an und versucht, mit ihnen die Gegenwart Gottes zu teilen. An diesem Ansatz hat sich bis heute nichts geändert. Die Gegenwart Gottes geschieht im Alltag, mitten in den Geschäften, die in Beschlag nehmen. Ob am Wochenende oder an einem Arbeitstag, ob in der Freizeit oder auf den Marktplätzen unseres Lebens – ständig und überall ist Gott gegenwärtig und eröffnet mir die Möglichkeit, seine Gegenwart mit anderen zu teilen. Ich muss nur bereit sein, darauf einzusteigen, mich vom Moment berühren zu lassen und ernst zu nehmen, was hier und jetzt werden will. Gottes Gegenwart gibt jedem Augenblick seinen besonderen Glanz und macht immer wieder neu seinen geheimnisvollen Klang der Stille hörbar.

Allerdings will dieser Weg in die Gegenwart Gottes nicht halbherzig gegangen sein. Wer sich darauf einlassen will, soll es mit ganzem Herzen, ganzer Seele und mit ganzem Verstand tun (Mt 22,37). Erst dieses Engagement beseitigt, was der Gegenwart Gottes im Weg steht, erst der volle Einsatz befreit ihre Unmittelbarkeit. Dies verlangt indes auch, Rechenschaft für diesen Weg ablegen zu können. Das Beispiel von Paulus in Athen zeigt es. Er muss sich in der Synagoge gegenüber Juden und auf dem Markt gegenüber Philosophen erklären. Als er auf den Areopag geführt wird, muss er in der Lage sein, den Weg in die Gegenwart Gottes einem gebildeten Publikum zu erläutern. So einfach und natürlich die Gegenwart Gottes ist – in ihr zu leben ist ein Prozess, der auch den Verstand fordert. Ich verstehe etwas und merke, dass ich noch vieles nicht verstanden habe. Mit jedem weiteren Verstehen verstehe ich, dass das Geheimnis noch viel grösser ist. Dennoch trifft beides zu: Auch wenn ich um die Unfassbarkeit der Gegenwart Gottes weiss, muss ich für sie Rechenschaft ablegen – mir selbst und andern gegenüber. Will ich den Weg in die Gegenwart Gottes gehen, muss ich auch dazu bereit sein, dass mein Verstand geläutert und geordnet wird. Auch mein Verstand braucht vor dem Hier und Jetzt nicht zu flüchten, sondern darf dessen Geheimnis mit Worten und Taten gegenwärtig machen.

Es klingt widersprüchlich, und dennoch ist beides wahr: Die unbedingte Freiheit des Augenblicks ist in jeder Situation gegenwärtig, ohne jeden Aufwand. Und zugleich ist viel Aufwand nötig, um sie hier und jetzt ohne Aufwand zu leben. Ich muss mich darauf mit ganzem Herzen, ganzer Seele, ganzem Verstand einlassen, um zu begreifen, dass ich jeden Moment – ohne jedes Zutun von mir – in dieser Freiheit sein kann. Beten wir also, dass wir diesen Weg gehen und von der Freude des Augenblicks erfüllt werden. Amen.

Predigt vom 6. Juli 2025 in Wabern
Bernhard Neuenschwander

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