Als sie dies hörten, wurden sie rasend vor Zorn und knirschten mit den Zähnen. Er aber, erfüllt von heiligem Geist, blickte zum Himmel auf und sah die Herrlichkeit Gottes und Jesus zur Rechten Gottes stehen. Und er sprach: Ja, ich sehe die Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen. Sie aber überschrien ihn, hielten sich die Ohren zu und stürzten sich vereint auf ihn. Sie stiessen ihn aus der Stadt hinaus und steinigten ihn. Und die Zeugen legten ihre Kleider ab, zu Füssen eines jungen Mannes namens Saulus. Sie steinigten den Stephanus, er aber rief den Herrn an und sprach: Herr, Jesus, nimm meinen Geist auf! Er fiel auf die Knie und rief mit lauter Stimme: Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an! Und als er dies gesagt hatte, verschied er. Apg 7,54-60
Gottes Gegenwart spricht für sich. Ihr Wert kann mit nichts verglichen und aufgewogen werden. Bedingungslos ist sie gegenwärtig, bedingungslos verschenkt sie sich selbst. Sie tut dies aus sich selbst, grundlos, ohne durch etwas anderes motiviert zu sein. Sie ist Liebe, die sich gibt, Liebe, die kreiert, Liebe, die Zeit ausbreitet und die Dinge werden und vergehen lässt – in Freiheit. Begreife ich diese liebende Freiheit der Gegenwart Gottes, werde ich von ihrer Güte erfüllt, und erfahre ich diese Güte, lehrt mich deren Weisheit den Umgang mit allem zeitlich Unvollkommenen. Mich davon durchdringen zu lassen, schafft Dankbarkeit für jenes Bedingungslose, das seinen Wert in sich und diese Welt aus sich selbst geschaffen hat und das in allem Bedingten mit seiner Unbedingtheit gegenwärtig ist. Diese Dankbarkeit stärkt meinen Körper, nährt meine Seele und beflügelt meinen Geist. Wie könnte ich für die Gegenwart Gottes, die solche Dankbarkeit hervorruft, nicht in aller Freiheit einstehen, und wie könnte ich nicht auf das Geschenk der Liebe verweisen, das uns Menschen jeden Moment gegeben ist!
Ein solcher mystischer Glaube ist allerdings riskant. Er lässt sich nicht in Strukturen zwingen, kontrollieren oder steuern. Seine Referenz ist die Freiheit der Gegenwart Gottes. In der Kirchengeschichte hat es deshalb nicht an Versuchen gefehlt, diesen Glauben handzahm zu machen, weichzuspülen und ins Regime menschlicher Wahrheit zu integrieren. Margarete Porete wurde – um nur ein Beispiel zu nennen – aufgrund ihres mystischen Glaubens 1310 in Paris auf dem Scheiterhaufen verbrannt.[1] Von Meister Eckehart, dem sie im Geiste nahestand, wurden Sätze verurteilt, sodass ihm für Jahrhunderte das Stigma des Ketzers anhing.[2] Die Kirchen haben sich keineswegs immer für die mystische Freiheit des Glaubens stark gemacht. Vielmehr scheint es für Menschen innerhalb und ausserhalb der Kirche verlockend zu sein, das menschliche Bedürfnis nach Glauben zu instrumentalisieren, für die Befriedigung eigener Machtbedürfnisse zu missbrauchen und die Zumutung der Gegenwart Gottes mit Menschlich allzu Menschlichem zu übersteuern.
Allerdings lässt sich ein mystischer Glaube, der sich der Gegenwart Gottes verdankt, auch in unserer postchristlichen Zeit nicht beseitigen. Jeder Moment ruft ihn Erinnerung, jede Kontingenzerfahrung lässt ihn aufblitzen. Alles menschliche Verstehen ist begrenzt. Wie könnte es die jeden Augenblick grösser werdende Komplexität von Ursache und Wirkung jemals überblicken! Die bedingungslose Freiheit der Gegenwart Gottes samt allem Zufälligen und Unerklärbaren bleibt das Geheimnis dieser Welt. Ohne Sprache, ohne Worte, mit unhörbarer Stimme ruft sie jeden Moment dazu auf, die Schönheit Gottes in allem, was ist, zu erkennen (vgl. Ps 19,1-4), die Freiheitsrechte von Menschen und die territoriale Integrität von Staaten zu schützen, demokratische, föderalistische Strukturen zu verteidigen und der Willkür von autoritären Systemen zu widerstehen. Sie ist die Würde des Menschen, sie konfrontiert ihn mit dem Abgrund seiner Demut, und sie ist seine Heilung und Erlösung. Menschen, die für sie einstehen, können zum Verstummen gebracht und beseitig werden, der Schall von Gottes Gegenwart geht indes in alle Länder, ihr Reden dringt bis zum Ende der Welt, und ihre Kraft ist ebenso gegenwärtig wie die Hitze der Sonne im Sommer (vgl. Ps 19,5-7). Das christliche Erbe mag in Vergessenheit geraten, was es bezeugt, bleibt jedoch jeden Moment am Werk.
Lukas hat dies verstanden, und in seiner Apostelgeschichte erzählt er am Beispiel von Stephanus davon. Stephanus stellt er als Mann voll Geist und Weisheit vor, der erfüllt von Gnade und Kraft grosse Wunder und Taten im Volk wirkt (Apg 6,3.8). Allerdings bringt ihn sein Verständnis der jüdischen Tradition mit den Traditionalisten in den hellenistischen Synagogen in Konflikt (Apg 6,8-15). Vor dem Hohen Rat bekommt er die Gelegenheit, sich zu verteidigen und seine Sicht der gemeinsamen Geschichte vorzutragen (Apg 7,1-53). Aus seiner Sicht wiederholt sich immer wieder das gleiche Muster: Gott ist zwar mit seiner Güte und Weisheit bedingungslos jeden Moment gegenwärtig. Doch Israel verstrickt sich in seinen Aktivismus und übersteuert mit seinen eigenen Bedingtheiten die bedingungslose Gegenwart Gottes. Statt die eigene Ohnmacht gegenüber Gott standzuhalten, Gottes Gnade dankbar anzunehmen und mit Weisheit angesichts der Unerlöstheit der Welt zu leben, konfrontiert Stephanus die jüdische Elite mit ihrer Halsstarrigkeit und ihrer fehlenden Bereitschaft sich vom Geist der bedingungslosen Gegenwart Gottes leiten zu lassen. Er wirft ihr vor, im Muster ihrer Unerlöstheit verhaftet zu bleiben und die Schuld von Verrat und Mord denen gegenüber, die Gottes Geist leben, auf sich zu laden.
An dieser Stelle setzt unser Predigttext ein. Er berichtet zunächst von der Reaktion derer, die seine Rede hören (V54): Rasend vor Zorn knirschen sie mit ihren Zähnen. Mit ihrer heftigen Reaktion bestätigen sie zunächst unfreiwillig, dass sie sich getroffen fühlen. Möglicherweise hat Lukas Ps 37,12 im Ohr, wo von den Frevlern die Rede ist, die gegen den Gerechten Arges im Sinn haben und mit ihren Zähnen gegen ihn knirschen. Auf diesem Hintergrund ist Stephanus der leidende Gerechte, dessen Weisheit nun herausgefordert wird, auf das Tun der Frevler einzugehen. Stephanus indes lässt sich nicht provozieren und orientiert sich an der bedingungslosen Gegenwart Gottes (V55). Erfüllt von heiligem Geist blickt er zum Himmel, sieht die Herrlichkeit Gottes und Jesus zur Rechten Gottes stehen. Bereits zu Beginn seiner Rede war sein Antlitz wie das eines Engels (Apg 6,15). Jetzt, vor seinem Tod, offenbart sich ihm die Herrlichkeit Gottes, die seinerzeit Abraham die grosse Verheissung gegeben hat (Apg 7,2-8). Nun aber sieht er, dass auch Jesus zur Rechten Gottes für ihn einsteht. Das traditionelle Bild dessen, der zur Rechten Gottes sitzt und unter den Völkern Gericht hält (Ps 110,1.6) klingt an, doch wird betont, dass Jesus nicht sitzt, sondern steht. Stephanus sieht Jesus mehr als Anwalt, der ihn vertritt, denn als Richter.
Mit dieser Erfahrung der bedingungslosen Gegenwart Gottes wendet sich Stephanus dem Tun seiner Gegner zu (V56). Furchtlos und authentisch sagt er ihnen, was mit ihm gerade geschieht: dass er den Himmel offen sieht und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen. Das Motiv vom Menschensohn ist traditionell und seinen Gegnern geläufig. Dass er indes zur Rechten Gottes steht, werden sie dahingehend verstehen müssen, dass dieser für Stephanus Partei ergreift. Gesetzt wird hier also ein Signal: der Menschensohn der jüdischen Tradition engagiert sich für eine Interpretation dieser Tradition in Geist und Weisheit, wie sie von Stephanus praktiziert wird. Weit geöffnet ist die Tür zur Verkündigung des Glaubens an alle Menschen, auch wenn sie die jüdischen Formen nicht erfüllen. Im Zentrum stehen nicht die Bedingungen der Tradition, sondern die bedingungslose Gegenwart Gottes.
Die Gegner von Stephanus verstehen das Signal umgehend (V57-58). Sie überschreien ihn, halten sich die Ohren zu und stürzen sich vereint auf ihn. Schliesslich stossen sie ihn aus der Stadt, also aus Jerusalem, hinaus und steinigen ihn. Von einem formalen, richterlichen Urteil ist nicht die Rede. Vielmehr wird die Steinigung als Akt tumultartiger Lynchjustiz beschrieben. Einige Zeugen legen sogar ihre Kleider ab, um schlagkräftiger zu agieren. Dass sie diese zu Füssen eines jungen Mannes namens Saulus deponieren, wird ganz beiläufig erwähnt. Ohne Aufhebens führt Lukas jenen Saulus ein, von dem er noch viel zu berichten hat (Apg 8,3; 9,1ff, 13-28). Offenbar liegt ihm daran, dessen Geschichte mit dem Tod von Stephanus anheben zu lassen. Diesen Tod aber parallelisiert er bewusst mit dem Tod von Jesus (V59-60). Wie Jesus wendet sich auch Stephanus an Gott und bittet, dass sein Geist in Gott eingehe (vgl. Lk 23,46). Allerdings bittet er Jesus, dass er ihm beistehe. Schliesslich stirbt er, indem er auf seine Knie fällt und mit lauter Stimmte ruft, dass Gott seinen Mördern die Sünde dieses Mords nicht anrechnen soll – wie Jesus, der nach Lukas am Kreuz zum Vater ruft und ihn bittet, ihnen zu vergeben, weil sie nicht wissen, was sie tun (Lk 23,34). Die Dankbarkeit für die Güte und Weisheit der Gegenwart Gottes gibt Stephanus wie Jesus die Kraft zu Vergebung.
In der Fortsetzung berichtet Lukas, dass dies der Auftakt zur ersten Verfolgung der Urgemeinde ist (Apg 8,1-3). Saulus, der das Geschehen miterlebt, ist mit ihm nicht nur einverstanden, sondern unterstützt es aus Kräften. Er fügt der Gemeinde grossen Schaden zu, dringt in die Häuser ein, schleppt Männer und Frauen fort und lässt sie ins Gefängnis werfen. Viele flüchten deshalb aus der Stadt ins ganze Land nach Judäa und Samaria. Immerhin werden die Apostel vorerst verschont, und eine formelle Bestattung von Stephanus mit grosser Totenklage durch fromme Männer wird nicht unterbunden. Ein solches Begräbnis wäre unter damaligen Bedingungen nicht möglich gewesen, wenn die Steinigung rechtens gewesen wäre.
Die Geschichte von Stephanus und dessen gewaltsamem Ende berührt bis zum heutigen Tag. Auf eindrückliche Weise bringt sie uns einen Menschen nahe, der in der bedingungslosen Gegenwart Gottes verankert ist und in der Kraft dieser Präsenz lebt und stirbt. Sie macht deutlich, dass ein solches Leben nicht exklusiv auf Jesus begrenzt ist, dass auch die Geschichte Israels ein Ringen um diese Gegenwart Gottes ist, und dass genau dies auch das Thema des Glaubens nach Jesus ist.
Stephanus zeigt, dass es möglich ist, in der bedingungslosen Gegenwart Gottes jene Freiheit zu finden, die im Angesicht real erfahrener Unerlöstheit stabil in der Erlösung bleibt. Trotz all den Steinen, die auf ihn geworfen werden, lässt er sich von ihnen nicht provozieren und durcheinanderbringen. Er verstrickt sich nicht mit seinen Gegnern und wirft keine Steine zurück. Stattdessen akzeptiert er seine Ohnmacht und geht durch den Abgrund seiner Demut, sodass er frei im Moment Gottes und offen für die Situation ist, in der er steht – so schrecklich und grausam sie ist. Er tut dies nicht aus eigener Kraft oder eigenem Willen. Von sich selbst ist er geläutert. In ihm ist nichts als die bedingungslose Gegenwart Gottes am Werk. Diese aber stärkt ihn mit ihrer Güte, und ihre Weisheit zeigt ihm, was er im Angesicht der Unerlöstheit, mit der er konfrontiert ist, zu tun hat. So bleibt er in der Stärke der Freiheit Gottes – dankbar, gewaltlos und mit der Bereitschaft, seinen Gegnern zu vergeben.
Für unsere postchristliche Zeit gibt uns diese Geschichte zu bedenken, was auch heute das Zentrum des mystischen Glaubens ist: jene reife Liebe, die im Angesicht der menschlichen Unerlöstheit geläutert ist, alles Menschlich allzu Menschliche hinter sich lässt, sich nicht aufbläht und sich nichts für sich selbst zugute rechnen lässt, sondern sich einzig und allein der Gegenwart der bedingungslosen Liebe Gottes verdankt. Diese Liebe ist in der Unfreiheit frei, diese Liebe vergibt in der Unerlöstheit dieser Welt Schuld, diese Liebe bringt die ewige Liebe Gottes in jeden Moment und kommt niemals zu Fall (vgl. 1Kor 13,8). Eine solche reife, bedingungslos gewordene Liebe zeigt das Potential des mystischen Glaubens, aber ist keine politische Norm. Sie kann nicht verordnet oder willentlich hervorgerufen werden, sondern bleibt ein Geschenk, das in Menschen mehr oder weniger heranreift. Im Angesicht menschlicher Unerlöstheit ist sie ein Leuchtturm, negiert indes weder Recht noch Notwendigkeit von Strafte, Vergeltung oder Abschreckung. Diese Liebe und ihre Weisheit ist die Heuristik des Wegs in die Gegenwart Gottes mitten in der Unerlöstheit dieser Welt. Sie weist die Richtung, doch die praktischen Schritte dieses Wegs müssen in jeder Situation neu gesucht und gegangen werden. Wie könnte eine solche Liebe und ihre Weisheit aufhören, die Mitte unserer Erlösung zu sein! Wie könnte sie auch in unserer postchristlichen Zeit nicht Anfang und Ziel sein!
Die Geschichte von Stephanus ist eindrücklich, aber kein Ideal, das wir nachahmen oder kopieren sollen. Wir haben unseren je eigenen Weg, um frei von uns selbst zu werden und jene reife Liebe hervorkommen zu lassen, die in allem Schweren Heiterkeit und in allem Leid Freude schenkt. Das Gehen dieses Weges kann uns niemand abnehmen. Beten wir also, dass wir uns auf unseren Weg in die Gegenwart Gottes machen und dass wir im Angesicht der Steine, die uns auf diesem Weg begegnen, dankbar in unserer Erlösung bleiben. Amen.
[1] Margarete Porete (2010): Der Spiegel der einfachen Seelen. Mystik der Freiheit. Kevelaer: topos taschenbücher.
[2] Meister Eckehart (1979): Predigten und Traktate. Hrsg. und übersetzt von Josef Quint. Zürich: Diogenes.
Predigt vom 02. Juli 2023 in Wabern
Bernhard Neuenschwander