Als Petrus das sah, wandte er sich an das Volk und sprach: Israeliten, was wundert ihr euch darüber? Was schaut ihr uns an, als hätten wir durch eigene Kraft oder Frömmigkeit bewirkt, dass er gehen kann? Der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs, der Gott unserer Väter hat seinen Knecht Jesus verherrlicht, den ihr ausgeliefert und von dem ihr euch vor Pilatus losgesagt habt, als dieser beschlossen hatte, ihn freizulassen. Apg 3,12-13
Es ist Heiligabend – was für ein Abend! Jedes Jahr kehrt er zurück, und doch ist er jedes Jahr neu. Er feiert, was jeden Moment geschieht, und doch ist er ein aussergewöhnlicher Abend. Heiligabend ist eine Erinnerung. Er erinnert an ein vergangenes Ereignis. Doch er ruft in Erinnerung, dass das Erinnerte heute gegenwärtig ist, dass das Vergangene einen Raum öffnet und neue Zukunft erschliesst, dass sich die Zeiten durchdringen und der Moment die Fülle der Zeit ist. Was dies bedeutet, lässt sich in Worten bloss andeuten. Sie zu verstehen, in sich absinken zu lassen, von ihnen verwandelt zu werden, ist ein Weg, der sich Jahr für Jahr entwickeln will, der seine Schlaufen zieht und der nach und nach offenbart, was in ihm steckt.
Die Geschichte von Heiligabend erinnert an ein Zeichen (Lk 2,1-20). Die Engel haben es den Hirten verkündet. Ein neugeborenes Kind werden sie finden, das in Windeln gewickelt ist und in einer Futterkrippe liegt. Entdecken sie dieses Zeichen, werden sie wissen, dass heute der Retter geboren ist, der Gesalbte, der Herr. Freuen können sie sich deshalb, und freuen kann sich alles Volk. Was sich im Laufe des Lebens dieses Neugeborenen offenbaren wird, wird die Jahrhunderte durchdringen und den ganzen Erdball erfassen. Es wird klingen und leuchten, es wird viele Menschen berühren und unzählige Herzen verwandeln. Denn in seinem Leben wird Gott Gegenwart. Nicht dass dies ein Novum wäre! Gott war in Mose gegenwärtig und in den Propheten. Die Menschen der Psalmen haben um die Gegenwart Gottes gerungen, haben sie gefeiert und das eigene Leben nach ihr ausgerichtet. Doch das neugeborene Kind in der Krippe ist das Zeichen dafür, dass sein Leben und Sterben, sein Auferstehen und Auffahren in den Himmel zum Gleichnis für die Gegenwart Gottes wird. Es wird nicht exklusiv für diese Gegenwart stehen, und es wird nicht mehr sein als ein Gleichnis dafür, dass Gott jeden Moment gegenwärtig ist. Doch genau dies wird in diesem Gleichnis spürbar werden und die Menschen erreichen.
Unser Predigttext erzählt, was damit gemeint ist. Er bezieht sich auf die Geschichte von der Heilung des Gelähmten, die ihm unmittelbar vorausgeht (Apg 3,1-10). Hier wurde berichtet, dass Petrus und Johannes auf dem Weg zum Tempel in Jerusalem von einem Gelähmten angegangen wurde, der dort um Almosen bettelte. Geld gaben ihm die beiden Apostel nicht. Doch Petrus schaute ihm in die Augen und forderte ihn dazu auf, auch sie anzuschauen. Ihm war wichtig, den Bettler in den Moment zu holen. Darauf gebot er ihm im Namen von Jesus Christus des Nazareners aufzustehen und zu zeigen, dass er gehen könne. Er ergriff seine rechte Hand und richtete ihn auf. Erzählt wird im Folgenden, dass die Füsse und Knöchel des Gelähmten auf der Stelle fest wurden und dass er wieder gehen konnte. Er sei mit ihnen in den Tempel hineingegangen, habe Luftsprünge gemacht und Gott gelobt. Das Volk aber, das ihn als gelähmten Bettler kannte, sei erschrocken und entsetzt gewesen darüber, was ihm geschehen sei.
Hier setzt unser Predigttext ein; denn der Geheilte klammert sich an Petrus und Johannes fest, erregt damit Aufsehen, sodass alles Volk zusammenläuft (V11). Petrus sieht sich deshalb veranlasst, sich zu erklären (V12). Zunächst spricht er sie als Israeliten an. Wie bereits nach dem Pfingstwunder wendet er sich erneut an das jüdische Volk. Diesem gilt seine Botschaft zuerst (vgl. V26). Doch er konfrontiert es damit, dass es über die Heilung des Gelähmten verwundert ist. Und noch mehr, dass es die beiden Apostel anstarrt, als hätten sie die Heilung aus eigener Kraft und Frömmigkeit bewirkt. Es müsste ihm doch klar sein, dass dies für Menschen unmöglich ist. Dass dies geschehen ist, hat einen andern Grund. Was sich hier nämlich zeigt, ist die Güte und Weisheit der Gegenwart Gottes.
Um dies deutlich zu machen, erinnert Petrus die jüdische Zuhörerschaft daran, wie sich Gott Mose im brennenden Dornbusch (Ex 3,6.15) vorgestellt hat (V13). Um den Gott Abrahams, den Gott Isaaks und den Gott Jakobs geht es, um den Gott unserer Väter. Ausdrücklich streicht er die Gemeinsamkeit ihrer Väter heraus. Durch diesen Gott ist die Heilung geschehen, nicht durch eine besondere Fähigkeit von ihm oder Johannes. Entscheidend ist für ihn nun aber der Bezug zum Knecht Jesus. Denn diesen hat derjenige Gott, auf den sie sich gemeinsam beziehen, verherrlicht. Der Gott der Väter, auf den sich die Zuhörer ebenso berufen wie Petrus und Johannes, hat sich zu diesem Jesus gestellt, und er hat ihn mit seiner Gegenwart durch den Tod hindurch als seinen Knecht legitimiert. Demgegenüber wirft Petrus der jüdischen Zuhörerschaft vor, dass sie dies nicht begriffen hat, dass sie Jesus vielmehr ausgeliefert und dem Tod preisgegeben hat, selbst als Pilatus bereit gewesen ist, Jesus freizulassen. Strittig ist für Petrus also nicht der Bezug zu Gott, strittig ist für ihn, dass nicht klar ist, dass dieser Gott in diesem Jesus gegenwärtig gewesen ist.
Dieses Grundproblem führt er im Folgenden aus (V14-26). Weil die jüdische Zuhörerschaft nicht begriffen hat, dass Gott in Jesus gegenwärtig gewesen ist, kann es auch die Heilung des Gelähmten nicht verstehen. Denn für Petrus hat der Gelähmte die volle Gesundheit geschenkt erhalten, weil die Gegenwart Gottes in Jesus dem Gelähmten den Glauben an diese Gegenwart gegeben hat. Für ihn strahlt die vergangene Präsenz Gottes in Jesus so sehr in die Gegenwart, dass sie hier und jetzt im Gelähmten den Glauben in eben diese Gegenwart Gottes weckt und ihm so erfahrbar macht, was in ihr steckt: ihre Güte und ihre Weisheit, dass sich dieser Glaube bewährt (V14-16).
Petrus liegt nun freilich nicht daran, das Problem der vergangenen Ablehnung von Jesus weiter aufzublähen, sondern dessen Lösung zu zeigen. Er spricht die Zuhörerschaft nun als Brüder an und unterstellt ihnen, dass sie und auch die jüdische Elite nicht aus bösem Willen, sondern aus Unwissenheit gehandelt haben. Gott hat das Geschehen längstens durch seine Propheten angekündigt und integriert. Viel wichtiger ist jetzt, umzukehren, sich auf die Vergebung der Sünden auszurichten, sodass im Angesicht der Gegenwart Gottes die Zeit der Erquickung kommt und die Wiederherstellung und Heilung aller Dinge, wie sie in Jesus gleichnishaft begonnen hat und schliesslich vollendet werden wird, geschieht. Diese umfassende Erlösung von allem ist es, die Petrus am Herzen liegt (V17-21).
Zum Schluss unterstreicht er seine Aussagen mit einer Reihe von Bibelzitaten. Bereits Mose hat auf einen Propheten, wie er einer gewesen ist, verwiesen. Alle Propheten von Samuel und seinen Nachfolgern an haben die Tage, in denen dies geschehen werde, angekündigt. Schliesslich ist die angesprochene jüdische Zuhörerschaft doch Abkömmling dieser Propheten und des Bundes, den Gott mit ihren Vätern geschlossen hat. Auf ihr ruht der Segen, den Abraham und all seine Nachkommen erhalten haben. Für sie zuerst hat Gott seinen Knecht Jesus erweckt, für sie zuerst hat dieser den Segen der Gegenwart Gottes gezeigt. Umso mehr soll sie deshalb jetzt ihre Chance packen, sich von ihren bösen Taten abwenden und sich der Gegenwart Gottes zuwenden, wie sie in der Geschichte von Jesus offenbar geworden ist (V22-26). Petrus ringt also mit allem Nachdruck um Plausibilität und versucht, seine jüdische Zuhörerschaft von dem Glauben, der ihn erfasst hat, zu überzeugen.
Das Engagement von Petrus und Johannes gegenüber der jüdischen Zuhörerschaft gilt auch uns – gerade jetzt, an Heiligabend! Auch bei uns kann Aussergewöhnliches geschehen, auch bei uns kann die Ermächtigung wirksam werden, die den Gelähmten auf seine Füsse gestellt und erlöst hat, auch bei uns kann heil werden, was aus den Fugen geraten ist.
Was es das zu braucht, ist unsern Mut, die Chance, die uns hier und heute gegeben ist, zu packen. Weihnachten berührt Herzen und erinnert an das Kommen Gottes. Es ist ein Moment, der für die Gegenwart Gottes empfänglich macht und ihre Güte und Weisheit nahebringt. Petrus hat es seiner Zuhörerschaft klar und deutlich gesagt: Wunder geschehen nicht durch Menschen, Wunder geschehen, indem der Moment durch Gottes Gegenwart zum Wunder wird. Es braucht nicht mehr als unsere Bereitschaft, uns davon erfassen zu lassen. Unser Leib und unsere Seele, unser ganzes Denken und Fühlen, unser Atmen und Sein – wir sind ständig nichts als diese pure Gegenwart. Von Kopf bis Fuss durchdringt sie uns, sie macht uns durchsichtig, und sie macht uns leer und weit. Ihre Präsenz ordnet unsere Gedanken, und ihre Klarheit bringt uns ins Gleichgewicht. So im Moment zu sein, schafft Erlösung, so vom Moment erfüllt zu sein, befreit.
Wenn es etwas gibt, das uns daran hindert, so in der Gegenwart Gottes zu sein, dann sind wir es selbst. Wir können mit uns selbst so verstrickt sein, dass wir bloss mit uns selbst zu tun haben, und der Ballast unserer Geschichte kann uns so in die Quere kommen, dass er uns den Zugang zum Moment verstellt. Manchmal mag es diese Kleinigkeit sein, die uns triggert, manchmal jene, die uns durcheinanderbringt. Auch hier ist Petrus klar und deutlich: Die Ablehnung von Jesus, dem Knecht Gottes, war nicht in Ordnung. Er verkörperte Gottes Gegenwart, und er zeigte die Tür, um in ebendiese Gegenwart zu gelangen. Diese Chance wegzuwischen, war eine Missachtung der Güte und Weisheit Gottes, die in ihr steckte. Doch entscheidend ist nun nicht, sich in die Schuld über die verpasste Chance zu verstricken, sondern umzukehren und die aktuelle Chance zur Einsicht zu nutzen. Es ist nicht zu spät: Wer in Jesus, dem Knecht Gottes, die Gegenwart Gottes entdeckt, wird sie auch in sich entdecken. Die Gegenwart Gottes in ihm will auch in uns erwachen.
Darin steckt ein Potential, das nur unterschätzt werden kann. Die Gegenwart Gottes durchdringt alles, was es gibt. Sie gibt jedem Ding seine Zeit. Ihre Güte gibt Werden und Vergehen, und ihre Weisheit lehrt, dieses Werden und Vergehen zu verstehen. Deshalb geschehen in der Gegenwart Gottes durch den Knecht Jesus Wunder, die Gottes Güte zeigen, deshalb bewährt es sich, darauf zu achten, ihre Weisheit zu erkennen und im eigenen Leben umzusetzen. Die Botschaft, die uns Lukas durch Petrus vermitteln will, zielt nicht auf Exklusivität und Dominanz; doch sie erkennt die grosse Chance, die Gegenwart Gottes durch den Knecht Jesus zu vermitteln, und sie will diese Chance gegenüber Ablehnung schützen und zur Geltung bringen. Denn durch sie geschehen Wunder, durch sie entdecken Menschen die Gegenwart Gottes, durch sie wird alles neu und heil.
Jetzt ist Heiligabend – jetzt ist unsere Chance, ebendies selber zu realisieren. Gott war in Jesus und vielen andern gegenwärtig, Gott will in uns gegenwärtig sein, und er wird immer wieder neu in dieser Welt gegenwärtig. Beten wir also, dass wir uns in diese grosse Kette von Menschen stellen, in denen Gott gegenwärtig war, ist und sein wird, und dass es auf dieser Welt Weihnachten wird. Amen.
Predigt vom 24. Dezember 2022 in Wabern
Bernhard Neuenschwander