Integration

Integration

Die Apostel und die Brüder und Schwestern in Judäa hörten davon, dass auch die anderen Völker das Wort Gottes empfangen hatten. Als Petrus nun nach Jerusalem hinaufkam, machten die aus der Beschneidung ihm Vorwürfe und sagten: Bei Unbeschnittenen bist du eingekehrt und hast mit ihnen gegessen! Petrus aber begann, ihnen alles der Reihe nach darzulegen. Apg 11,1-4

Glauben heisst integrieren. Wer sich an jenen Gott hält, der Himmel und Erde geschaffen hat und jeden Moment gegenwärtig ist, ist ständig gefordert, über seine kleine Welt hinauszublicken, sich für Neues und Fremdes zu öffnen und bis anhin Unbekanntes in seinen Glauben zu integrieren. Dieser Integrationsprozess kommt nie zu einem Ende. Unser Universum expandiert immer weiter, das Werk Gottes wird immer grösser – jeden Moment. Mein Glaube ruft mich dazu auf, mich auf diesen Prozess einzulassen. Er wirft mich aus meiner Komfortzone, lässt mich Neues entdecken, konfrontiert mich mit den Abgründen des Lebens, und er weckt in mir die Motivation, das Erlebte zu integrieren und eine neue Komfortzone zu finden. Der Glaube an Gott gibt Geborgenheit. Doch zum Glauben gehört beides: der Verlust der Geborgenheit und die Suche nach neuer Geborgenheit.

Das ist zuweilen anspruchsvoll. Wer verlässt schon gerne seine Komfortzone! Gewiss, ein Abenteuer kann reizvoll sein, und der Kick vom Wagnis kann Lust wecken. Um das grosse Ziel zu erreichen, können Durststrecken in Kauf genommen und leidvolle Momente ertragen werden. Doch um solche Investitionen zu tätigen, muss ausreichend Energie zur Verfügung stehen. Nur mit dem nötigen Krafteinsatz lassen sich Ungewohntes wagen, Differenzen aushalten und neue Ordnungen etablieren. Das universale Naturgesetz der zunehmenden Entropie ist ständig wirksam. Es ist schlicht und einfach bequemer, sich dem Gewohnten zu überlassen und Herausforderungen zu vermeiden. Unsere wohlstandsverwöhnte Gesellschaft führt es vor: Die Frustrationstoleranz nimmt ab, und die eigene Gekränktheit und Verunsicherung schwillt rasch an, wenn die gewünschte Selbstbestätigung nicht eintritt. Und damit sich alle wohlfühlen, werden Meinungsverschiedenheiten und Konflikte gar nicht erst angesprochen oder ausgetragen. Der Rückzug in die eigene Bubble ist müheloser und problemfreier, und er minimiert die Gefahr, die eigene Komfortzone aufgeben zu müssen.

Dieses Thema manifestiert sich heute, doch es ist menschlich und hat sich in früheren Zeiten ebenso gezeigt. Unser Predigttext führt es exemplarisch vor. Er leitet den Abschluss einer längeren Geschichte ein. In dieser Geschichte erzählt Lukas von einem grundlegenden Entwicklungsschritt der urchristlichen Gemeinde: dem Schritt zur Einsicht, dass der Gott, der sich in Jesus Christus offenbart, nicht nur der Gott der Juden, sondern der Menschheit ist, ja dass er als Schöpfer von Himmel und Erde das Geheimnis dieses Universums ist. Diese Geschichte illustriert also den Impuls hin zu einem kosmologischen Glauben, einem Glauben, der den Schöpfergott in jedem Moment erkennt und sich von dessen Information im Hier und Jetzt leiten lässt. Allerdings macht diese Geschichte auch deutlich, dass ein solcher Glaube das Verlassen der eigenen Komfortzone einfordert und dass ihm entsprechend Widerstand entgegenschlägt.

Unser Predigttext steigt in dem Moment ein, wo der eigentliche Erkenntnisprozess zwar exemplarisch geschehen und erzählt, aber noch nicht integriert ist. Er hält zunächst fest, dass die Urgemeinde von diesen Ereignissen vernimmt (V1). Der Apostel Simon Petrus ist der Protagonist des erzählten Erkenntnisprozesses. Die übrigen Apostel sowie alle anderen Brüder und Schwestern in Judäa erfahren, dass auch die Heiden, also Menschen, die nicht zum Volk der Juden gehören, das Wort Gottes empfangen haben. Aus Sicht von Lukas beginnt damit die Erfüllung dessen, was er bereits zu Beginn der Apostelgeschichte angekündigt hat, nämlich dass die Botschaft der ersten Zeugen dank der Kraft des heiligen Geistes bis an die Enden der Erde gehen wird (Apg 1,8). Allerdings schlägt Petrus zunächst Widerstand von der Urgemeinde entgegen (V2). Als er nach Jerusalem kommt, machen ihm die Beschnittenen, also Christen aus dem Judentum, Vorwürfe. Ihre Kritik bezieht sich nicht darauf, dass er den Heiden das Wort Gottes verkündet. Anstoss nehmen sie, dass er bei Unbeschnittenen einkehrt, mit ihnen wohnt und isst (V3). Aus ihrer Sicht verstösst dies gegen das jüdische Gesetz. Petrus rechtfertigt sein Verhalten, indem er ihnen die Ereignisse der Reihe nach auseinandersetzt (V4). Er will ihnen also Schritt um Schritt darlegen, was geschehen ist, und ihnen so seinen eigenen Erkenntnisprozess nachvollziehbar machen.

Die Fortsetzung erzählt, dass er genau dies tut. Er rekapituliert die einzelnen Episoden, wie sie sich zugetragen haben, und streicht heraus, dass er diesen Prozess nicht gesucht hat, sondern dass er von Gott geführt worden ist. Aus diesem Grund gelangt er zum Fazit, dass es nicht an ihm liegt, Gott in den Weg zu treten, wenn doch Gott diesen Weg gehen will (V5-17). Nach diesen Erklärungen von Petrus lässt Lukas die Geschichte zu einem erfreulichen Abschluss kommen (V18). Er stellt nämlich fest, dass sich die Menschen der Urgemeinde beruhigen und dass sie Gott dafür preisen, dass Gott auch den Heiden die Umkehr zum Leben gewährt. Ob sie auch akzeptiert haben, dass Petrus die Unterscheidung von reinen und unreinen Speisen und damit auch von reinen und unreinen Menschen für obsolet erklärt, lässt Lukas unbeantwortet. Ihm ist offensichtlich gut gewusst, dass hier Konfliktpotential steckt. Bereits in seinem Evangelium übergeht er in seiner Markusvorlage, was sie von der Aufhebung der Unterscheidung von Rein und Unrein und der Zuwendung von Jesus zu den Heiden erzählt (vgl. Mk 7,1-8,13). In seinem Bericht über das Apostelkonzil scheint die Sache für ihn erledigt (Apg 15), weil sich Jakobus hinter Petrus stellt (Apg 15,13.17). Aus seiner Perspektive ist durch die Geschichte, die er hier von Petrus erzählt, das Problem imgrunde gelöst. Entsprechend erzählt er in der Folge, dass auch den Griechen das Evangelium verkündet wird (Apg 11,19-21).

Paulus hält demgegenüber in seinem Galaterbrief mit Kritik nicht zurück. Dort nimmt er nämlich Bezug auf diese Ereignisse und stellt fest, dass Kefas, also Petrus, zwar zunächst durchaus die Tischgemeinschaft mit Heiden pflegt und so die neue Freiheit des christlichen Glaubens kultiviert. Er kritisiert ihn aber der Heuchelei, weil er dem Konflikt ausweicht und sich zurückzieht, sobald Anhänger von Jakobus auftreten, die einem traditionellen Glauben anhangen (Gal 2,11-13). Für Paulus ist die Sache indes klar: Er ist mitgekreuzigt mit Christus, und deshalb lebt er nicht mehr sich selbst unter dem Gesetz, sondern Christus lebt in ihm. Insofern er Mensch in Leib und Blut ist, lebt er im Glauben an die Gnade Gottes und nicht in Angst, dem Gesetz genügen zu müssen (Gal 2,19-21). Er macht damit deutlich, dass es sogar Petrus nicht leichtgefallen ist, die Komfortzone der geglaubten Sicherheit, die er früher mit seiner Bubble geteilt hat, preiszugeben und für jene Freiheit für alle Menschen einzustehen, die in der Gegenwart Gottes, der Himmel und Erde geschaffen hat, gegeben ist. Aus seiner Sicht wird offensichtlich der Konflikt, von dem Lukas erzählt, nicht so leicht ausgetragen und gelöst, wie es dieser darstellt.

Denken wir heute über diese Geschichte nach, wird uns rasch bewusst, dass hier etwas stattfindet, das nie einfach war und nie einfach sein wird: der Prozess, seine Überzeugungen zu ändern, sich selbst zu lassen und die Wirklichkeit in der Gegenwart Gottes zu erkennen und zu leben. So erlösend dieser Lernprozess sein mag, er ist anspruchsvoll und ihm kann massiver Widerstand entgegenschlagen.

Dieser Prozess stellt nämlich vor die Herausforderung, sind ständig von überholten Gottesbildern zu lösen und die Gegenwart Gottes neu zu verstehen. 1929 legte Edwin Powell Hubble seine Beobachtungen vom expandierenden Universum vor. Auf einmal war klar, dass das Universum kein raumzeitlich konstanter Kosmos ist, sondern dass es in der Zukunft immer grösser wird bzw. in der Vergangenheit immer kleiner gewesen sein muss. Das war revolutionär und ist es eigentlich immer noch. Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat, muss ebenso im Allerkleinsten wie im Allergrösste sein, in Stabilität und in einem Prozess, dessen Anfang und Ende unvorstellbar sind. Allen anthropomorphen Gottesvorstellungen wird damit eine dezidierte Absage erteilt. Gott ist ganz anders als alles, was sich Menschen vorstellen können, etwas, das frei ist von Gegensätzen: das Geheimnis der Nicht-Dualität, das mit menschlichen Begriffen nicht zu fassen ist, aber dieses Universum hält und jeden Moment mit seiner Information in ihm gegenwärtig wird. Sich im Hier und Jetzt mit einem derart abstrakten und zugleich konkreten Gott vertraut zu machen, ist ein Prozess, in welchem Verzweiflung und Geborgenheit, Tod und Leben keine Gegensätze mehr sind, sondern Aspekte desselben.

Allerdings konfrontiert ein solcher Prozess uns Menschen mit uns selbst. Die biblische Figur des Apostels Petrus illustriert die Schwierigkeit, die darin steckt. Petrus ist durchaus bereit, sich auf den Prozess Gottes einzulassen, seine gewohnten Raster, mit denen er denkt, fühlt und handelt, aufzugeben und sich mit der grösseren Offenheit Gottes vertraut zu machen. Doch auch er bleibt mit sich selbst im Kampf, und auch er fällt – glaubt man der Kritik von Paulus – zuweilen hinter sich selbst zurück (vgl. auch Lk 22,54-62). Das menschliche Ringen um die grössere Gegenwart Gottes hat offenbar kein Ende: Ich muss immer wieder neu den Mut haben, meine Begrenztheit anzuerkennen und in den Abgrund der Demut zu steigen. Dieser Abgrund macht mich zum Wirbel. In diesem Wirbel wird das Leid der Welt samt aller Trauer und allem Schmerz, das damit verbunden ist, in die Tiefe gesogen. Ich sterbe gleichsam mich selbst. Was aber bleibt, ist die Gegenwart Gottes mitten im Wirbel, die Gegenwart von Leere und Freiheit, in welcher ich auferstehe und neu geboren werde (vgl. Lk 9,23-27). Vollziehe ich diesen Prozess, kenne ich den Schmerz, spüre Trauer, Wut, Verzweiflung über all das, was nicht geht, aber ich finde auch jene Information, die in der Gegenwart Gottes steckt, jene Liebe, die mein Herz tröstet, jene Weisheit, die mir den Weg zeigt, also jene Energie, die mir neues Leben gibt und mich mit diesem Universum verbindet.

Dennoch hört der Widerstand, der diesem Prozess entgegenschlägt, nicht auf. Alte Weltbilder sind träg, selbst wenn klar wird, dass sie nicht mehr richtig funktionieren. Galileo Galilei war sich gewiss, dass nicht die Sonne um die Erde, sondern die Erde um die Sonne dreht. Doch die damalige Kirche war zu diesem Erkenntnisschritt nicht bereit und verbat ihm unter Todesandrohung, seine Erkenntnis zu verbreiten. Was Lukas am Beispiel der Urgemeinde erzählt, zieht sich durch die Geschichte und hat bis heute nichts an Aktualität verloren. Leid und Tod gehören zur Evolution. Vor etwa 3,8 Milliarden Jahren soll erstes Leben auf diesem Planeten entstanden sein, und seither soll es fünf Apokalypsen gegeben haben, in welchen jeweils ein grosser Teil der Lebewesen vernichtet worden sind. Das Aussterben der Saurier war eine von ihnen. Aber nur dank Leid und Tod hat sich Leben entwickelt, wie wir es kennen, sind Ordnungen höherer Komplexität entstanden und haben wir Menschen gelernt, uns der Information Gottes in diesem Universum anzunähern. Ein Ende dieses Prozesses ist nicht absehbar. Doch wir Menschen tun uns schwer, uns in ihn zu integrieren. Oft dominiert das Bedürfnis, das eigene Leben zu kontrollieren und zu bestimmen. Habe ich eine klare Ideologie, weiss ich, was richtig und falsch ist und was sein soll. Folge ich einem Populisten, bin ich Teil einer Herde und überzeugt, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Der Möglichkeiten sind viele, sich in der eigenen kleinen Welt abzusichern. Demgegenüber motiviert der Glaube an Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat, zu einem Prozess immer grösserer Offenheit und Integration in jene Information, mit der Gott in diesem Universum jeden Moment gegenwärtig ist.

Der Prozess, in welchem Gott in diesem Universum waltet, konfrontiert mit riesigen Verwerfungen, mit Leid und Tod, die alle Vorstellungen sprengen. Dennoch bleibt Gott mitten darin mit seiner Liebe und Weisheit gegenwärtig – jeden Moment. Auf diese Weise geschehen Heilung und Erlösung, Entwicklung und Fortschritt – ebenso in meinem Leben wie in diesem Universum. Wie könnten wir dafür nicht dankbar sein? Wie könnten wir nicht immer wieder jenen Gott suchen, der uns auf diesem Weg begleitet und uns Trost und Geborgenheit gibt? Beten wir deshalb, dass wir frei von uns selbst werden und dass wir uns dem Weg, den Gott mit uns geht, anvertrauen. Amen.

Predigt vom 17. März 2024 in Wabern
Bernhard Neuenschwander

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