Die Kunde davon kam auch der Gemeinde in Jerusalem zu Ohren, und sie schickten Barnabas nach Antiochia. Als dieser dort ankam und die Gnade Gottes sah, freute er sich und ermutigte alle, sich mit ganzem Herzen an den Herrn zu halten; er war nämlich ein bewährter Mann, erfüllt von heiligem Geist und Glauben. Und eine stattliche Zahl von Menschen wurde für den Herrn gewonnen. Er aber ging nach Tarsus, um Saulus aufzusuchen; und als er ihn gefunden hatte, brachte er ihn nach Antiochia. Es fügte sich, dass sie ein ganzes Jahr lang zusammen in der Gemeinde wirkten und eine stattliche Zahl von Menschen lehrten. In Antiochia wurden die Jünger zum ersten Mal Christen genannt. Apg 11,22-26
Die Gegenwart Gottes beruft Menschen, die für sie einstehen. Gott ist mit seiner Information zwar ständig da. Jeder Augenblick bezeugt es, jeder Augenblick offenbart sein Geheimnis, jeder Augenblick birgt das Wunder, dass es diese Welt gibt. Seine Information waltet in diesem Universum und sorgt dafür, dass es sich entwickelt, wie es dies tut. Diese Information bildet Wahrscheinlichkeitsfelder, die nicht zu erfassen sind, sich aber in jedem Hier und Jetzt neu kristallisieren und dieses Universum schaffen und erhalten. Dieser Prozess ist seit Milliarden von Jahren im Gang – die meiste Zeit davon ohne Beteiligung von Menschen. Doch es hat Gott gefallen, Menschen hervorgehen zu lassen, die sich bewusst in diesen grossen Prozess integrieren, Mitschöpfer seiner Schöpfungswerks werden und für seine Gegenwart einstehen und in ihr leben können.
Allerdings ist Gott mit der Schöpfung des Menschen im grossen Prozess der Evolution eine hohe Wette eingegangen. Denn ihre Fähigkeit, sich der Information, die in diesem Universum waltet, anzunähern und für sich zu nutzen, verleitet sie zur Hoffnung, sich selbst an die Stelle Gottes setzen zu können. Könnte es nicht sein, die Information, die mich ausmacht, in eine digitale Datenbank hochzuladen, sodass ich unsterblich werde? Könnte diese Datenbank nicht so potent werden, dass sie die religiöse Vorstellung von Gott ersetzt und den Menschen zu Gott macht? Weshalb sollte ich an einem Gott festhalten, wenn ich selber mit göttlichen Machtmitteln ausgestattet sein könnte? Prometheus, der Titan, der die olympischen Götter vom Thron stossen wollte, wurde noch in die Unterwelt verbannt. Doch ist nun mit dem Anbruch dieser postchristlichen Zeit seine Zeit gekommen? Samt allen Risiken, die diese Machtübernahme mit sich bringen würde?
Die Wette, die Gott eingegangen ist, ist noch am Laufen, und das Experiment vom Menschen als dem Mitschöpfer Gottes ist offen. Doch der christliche Glaube ist überzeugt, dass Gott in seiner Schöpfung gegenwärtig bleibt und dass entscheidend ist, dass Menschen dafür einstehen. Er hat die Überheblichkeit des Menschen, seine Hybris, ständig im Blick gehabt (vgl. Gen 2-3), und er hat sich damit vertraut gemacht, dass sich die Macht Gottes gerade auch in seiner Ohnmacht zeigt. Deshalb hat er das Kreuz Jesu zu seinem Zeichen erhoben. Der christliche Glaube hat nach einigen Irrungen und Wirrungen im Laufe seiner Geschichte verstanden, dass sich Gott nicht als autoritäres Regime der Wahrheit manifestiert und sich nicht als Machtapparat konkretisiert, der sich mit aller Gewalt durchzusetzen versucht. Vielmehr ist er zur Einsicht gekommen, dass Gott ein Geheimnis bleibt, aber dass sich dessen Information der Liebe und Weisheit im Hier und Jetzt offenbart. Er fordert deshalb dazu auf, sich darauf einzulassen, dafür einzustehen und darin zu leben. Die Wette Gottes ist damit noch nicht entschieden. Aber der christliche Glaube setzt darauf, dass sie so zu einem guten Ende kommt.
Unser Predigttext erzählt von zwei Menschen der frühen Kirche, die auf diese Wette gesetzt und sich voll und ganz in Gottes Dienst gestellt haben. Sie stehen an einem folgenreichen Entwicklungsschritt des Urchristentums: dem Schritt weg von einem partikulären hin zu einem universalen Verständnis von Gott. Der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs, der Gott unserer Väter, auf den sich Petrus gegenüber den Juden im Tempel Jerusalems bezieht (Apg 3,13), ist der Gott aller Menschen, ja der Gott des ganzen Universums. Vor unserem Predigttext erzählt Lukas in einer langen, exemplarischen Geschichte, wie Petrus gegenüber dem römischen Hauptmann Kornelius nach und nach genau dies begreift (Apg 10,1-11,18). Anschliessend berichtet er, wie sich diese Einsicht auf die Entwicklung der frühen christlichen Kirche auswirkt. Im Blick steht nun nicht Jerusalem, sondern vorerst die Metropole Antiochia. Antiochia ist nach Rom und Alexandria die drittgrösste Stadt der damaligen Welt und Hauptstadt Syriens. Lukas erzählt, dass sich nach der Steinigung des Stephanus in Jerusalem und der ersten Verfolgung der urchristlichen Gemeinde einige der Geflüchteten dorthin absetzen. In Antiochia verkünden sie das Wort zwar zunächst nur den Juden, doch einige sprechen auch Griechen an und verkünden ihnen die gute Botschaft, dass Jesus der Herr sei. Die Hand Gottes liegt auf diesen Ereignissen und viele schliessen sich dem neuen Glauben an. Für Lukas will damit zeigen, dass der Gott, der in Jesus Christus gegenwärtig ist, nicht nur in Juden, sondern ebenso in allen Menschen und im ganzen Universum gegenwärtig ist (Apg 11,19-21).
Hier nun setzt unser Predigttext ein. Auch wenn Gott in allem gegenwärtig ist, so sind doch Menschen nötig, die in der Lage sind, dies zu vermitteln und für diese Botschaft einstehen. Lukas legt Wert darauf, aufzuzeigen, dass dies nicht willkürlich, sondern auf geordneten Bahnen geschieht. Jerusalem ist für ihn der Geburtsort des christlichen Glaubens. Dieser Bezug zu Jerusalem soll erhalten bleiben. Er berichtet deshalb, dass die Ereignisse in Antiochia auch der Gemeinde in Jerusalem zu Ohren kommen und dass diese darauf Barnabas nach Antiochia sendet (V22). Barnabas ist ein Levit aus Zypern, der sich früh zur urchristlichen Gemeinde bekennt (Apg 4,36). Als Saulus nach seiner Erleuchtung in Jerusalem auftaucht, nimmt sich Barnabas seiner an und wirbt bei den Aposteln um Akzeptanz für ihn (Apg 9,27). Vermutlich steht er den Hellenisten nah (Apg 9,29). Barnabas wird nun also von Jerusalem nach Antiochia gesandt, um sich ein Bild der dortigen Ereignisse zu verschaffen.
Erzählt wird im Folgenden, was Barnabas in Antiochia antrifft (V23). Er sieht, dass die Gnade Gottes gegenwärtig ist. Mit dieser Formulierung bringt Lukas zum Ausdruck, dass Gott nicht nur in den Juden, sondern bedingungslos in allen Menschen gegenwärtig ist (Apg 13,43; 14,26; 20,24). Dies zu sehen, erfüllt Barnabas mit Freude. Er ermutigt deshalb alle, sich mit ganzem Herzen an die bedingungslose Gegenwart Gottes zu halten (vgl. Deut 6,5f). Er selbst ist damit bestens vertraut (V24). Lukas hält nämlich fest, dass Barnabas ein guter Mann ist (die Zürcher Bibel übersetzt hier ἀγαθός «gut» mit «bewährt») und wie Stephanus voll von heiligem Geist und Glauben (Apg 6,5). Er steht als Mensch für Gottes Gegenwart ein, und das wirkt: Eine stattliche Zahl von Menschen wird für Gott gewonnen.
Damit aber nicht genug. Denn Barnabas sucht sich Verstärkung (V25-26). Er kehrt nicht nach Jerusalem zurück, um das Gesehene zu rapportieren. Stattdessen macht er sich auf den Weg nach Tarsus, einer Stadt nördlich von Antiochia, um Saulus zu suchen (vgl. Apg 9,29f). Sobald er ihn gefunden hat, bringt er ihn nach Antiochia. Offenbar verstehen sich die beiden bestens. Jedenfalls wirken sie ein ganzes Jahr miteinander in der Gemeinde und unterweisen eine stattliche Zahl von Menschen. Dabei gewinnt die christliche Identität an Profil. Lukas stellt nämlich fest, dass die Jünger hier zum ersten Mal «Christen» genannt werden. Offenbar erwirken Barnabas und Saulus zusammen mit weiteren Propheten und Lehrern in Antiochia einen segensreichen Gemeindeaufbau (Apg 13,1f). Später aber zerstreiten sich die beiden und gehen fortan getrennte Wege (Apg 15,39). Dem Einstehen für die Gegenwart Gottes in allen Menschen und im ganzen Universum tut dies indes keinen Abbruch.
Besinnen wir uns heute auf diese Geschichte des Urchristentums, bekommen wir die Gelegenheit, über jene Wette nachzudenken, die Gott durch die Erschaffung von uns Menschen im grossen Prozess der Evolution eingegangen ist. Diese Wette erzählt von Gott, sie erzählt aber auch von den Menschen, die auf sie setzen. Versuchen wir, uns mit ihr vertraut zu machen!
Eines steht fest: Diese Wette gründet in der Gnade Gottes. Gott setzt darauf, dass seine Gnade als Einsatz genügt. Für Barnabas ist dies fraglos klar. Paulus hat dies ebenso begriffen. Er erzählt, dass er Gott dreimal gebeten habe, von seinem Stachel im Fleisch, also einem körperlichen Leiden, befreit zu werden. Gott aber habe ihm gesagt, dass er genug an seiner Gnade habe, weil er sich in der Schwachheit vollende (2Kor 12,7-10). Gott setzt also darauf, dass die Gnade seiner bedingungslosen Gegenwart samt deren Information von Liebe und Weisheit genügt, um dieses Universum zu schaffen, es im grossen Prozess der Evolution zu entwickeln und die Menschen, die in diesem Prozess entstanden sind, von sich zu überzeugen. Er setzt weder auf eine Demonstration seiner Macht, noch auf eine Schöpfung, die wie ein perfektes Uhrwerk funktioniert und so seine Grösse manifestiert. Vielmehr verlässt sich Gott darauf, dass sich in seiner Gnade ein Wahrscheinlichkeitsfeld ausbreitet, in welchem sich jeden Moment Dinge kristallisieren und wieder vergehen, Ordnungen entstehen und sich wieder in Chaos auflösen, Leben hervorgeht und wieder stirbt und in welchem Freud und Leid samt allen Empfindungen und Gefühlen ihren Platz haben. Dieser Prozess folgt seinen eigenen Gesetzmässigkeiten. Doch bleibt stets dem Zufall überlassen, wie sich das Wahrscheinlichkeitsfeld in einem bestimmten Moment kristallisiert. Ist Gottes Gnade gegenwärtig, sind Determinismus und Freiheit keine Gegensätze, sondern Aspekte eines quirligen, kreativen, ständig sich entwickelnden Spiels. Mit seiner Wette setzt Gott auf dieses grosse Spiel des Universums.
Dieses Spiel geschieht in diesem Universum auch ohne jedes Zutun des Menschen. Doch hat Gott die Menschen zu Mitspielern dieses Spiels gemacht und sie dazu berufen, ihren Part in diesem Spiel zu übernehmen. Sie tun dies, indem sie für die Gnade Gottes einstehen und sich so in Dienst der grossen Wette Gottes stellen. Barnabas zeigt, was dies heisst. Er freut sich an der Gnade Gottes und ist voll von Geist und Glauben. Er stellt sich ihr nicht in den Weg, lebt in der Gegenwart Gottes und folgt ihrer Information der Liebe und Weisheit. Wer so lebt, zeichnet sich durch persönliche Souveränität und Freiheit aus, bleibt auch unter Belastungen gelassen und geduldig und hat Vertrauen, dass Gottes Gnade selbst in Verstrickung, Leid und Not tatsächlich jeden Moment in allem gegenwärtig ist und zum Durchbruch kommen will. Vielleicht setzt dies wie bei Paulus zuweilen ein inneres Ringen voraus, und vielleicht lässt sich, wie der Streit zwischen Barnabas und Paulus zeigt, nicht jeder Konflikt auflösen und beseitigen. Doch wer auf die Wette Gottes setzt, bleibt spielend im Spiel, lässt sich vom Gesetz des Stärkeren nicht beeindrucken, bietet ihm kraft der Gnade Gottes Widerstand – vielleicht auch Abschreckung – und baut darauf, dass sich die Freiheit der Gegenwart Gottes weder durch autoritäre Mächte noch Ideologien, weder durch Gewalt noch Leid besiegen lässt, sondern als Geheimnis der Gegenwart jeden Moment am Wirken bleibt.
Allerdings bleibt die Gnade Gottes samt ihrer Freiheit fragil und prekär. Wer auf sie setzt, kann zwar von der Kraft ihrer Präsenz erfüllt sein. Diese Präsenz und Klarheit können auf andere Menschen attraktiv und überzeugend wirken. Barnabas hat so Menschen für Gott gewonnen, und gemeinsam mit Saulus ist ihm offenbar ein segensreicher Aufbau der Gemeinde gelungen. Gebet und Meditation sind ausgezeichnete Übungen, um sich mit der Gnade Gottes, ihrer Information, ihrer bedingungslosen Freiheit vertraut zu machen und sich kreativ in das grosse Spiel Gottes in diesem Universum einzubringen. Doch ist die Gnade Gottes bedingungslos und nicht durch das menschliche Mitspielen bedingt. Sie riskiert, übersteuert zu werden und zu scheitern. Menschen können sich gegen sie entscheiden, sie bekämpfen, als Illusion abtun oder einfach gleichgültig ignorieren. Sie können auf ihre eigenen Fähigkeiten setzen und sich zu Gott machen. Noch ist unentschieden, ob dies ihre Chance ist, vollkommen zu werden oder ihre Versuchung, die sie der Vernichtung preisgibt und aus dem grossen Spiel Gottes nimmt. Dieses Wagnis ist Gott mit seiner Wette eingegangen. Das Kreuz ist sein Zeichen. Auch wenn Gottes Gnade in aller Zukunft in diesem Universum waltet, so bleibt offen, wie lange die Menschen, wie es sie heute gibt, dabei sein werden. Die Saurier sind ausgestorben, die Neandertaler ebenso. Wie es wohl dem homo sapiens sapiens ergeht?
Vorderhand ist diese Frage unbeantwortbar. Wäre es da nicht auch in dieser postchristlichen Zeit klug, sich auf die grosse Wette Gottes einzulassen? Ist sie am Laufen, wie der Glaube behauptet, kann ich nur gewinnen. Ist sie eine Illusion, habe ich nichts verloren. Der französische Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal hat für seine Wette, ob man an Gott glauben soll, so argumentiert. Klar ist jedenfalls dies: Lasse ich mich auf Gottes Gnade ein, spricht sie für sich, und ich verstehe, dass sie genügt. Beten wir also, dass wir von Gottes Gnade erfüllt werden und dass wir für sie einstehen. Amen.
Predigt vom 21. April 2024 in Wabern
Bernhard Neuenschwander