Man führte sie herbei und stellte sie vor den Hohen Rat. Und der Hohe Priester befragte sie und sprach: Haben wir euch nicht ausdrücklich befohlen, nicht mehr zu lehren in diesem Namen? Und was macht ihr? Ihr erfüllt Jerusalem mit eurer Lehre und wollt das Blut dieses Menschen über uns bringen. Petrus aber und die Apostel antworteten: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen. Der Gott unserer Väter hat Jesus, den ihr ans Holz gehängt und umgebracht habt, auferweckt. Gott hat ihn zu seiner Rechten erhöht und zum Fürsten und Retter gemacht, um Israel Umkehr zu schenken und Vergebung der Sünden. Und wir sind Zeugen dieser Ereignisse, wir und der heilige Geist, den Gott denen gegeben hat, die ihm gehorchen. Apg 5,27-32:
Heute ist Ostern. Heute feiern wir die Auferstehung Christi, heute feiern wir die Gegenwart Gottes. Die Geschichte der Auferstehung ruft es uns in Erinnerung: weder Not noch Leid, weder Teufel noch Tod können uns trennen von Gottes Gegenwart. Ständig geschieht unser Leben im Moment, ständig ist Gott gegenwärtig – ob wir es merken oder nicht. Deshalb gibt es jeden Moment Leben, deshalb gibt es jeden Moment Heilung, Erlösung und Vergebung. Die Geschichte der Auferstehung zeigt uns gleichnishaft, dass dies sogar für den Tod gilt. Was sich an Jesus exemplarisch ereignet hat, ist allen verheissen, was in Christus sichtbar geworden ist, sollen alle erfahren: Selbst der Tod trennt uns nicht von der Gegenwart Gottes. Lassen wir uns, verlieren wir uns in den Moment von Gottes Ewigkeit. Im Leben realisieren wir dies ansatzweise, im Tod entfaltet es sich zur Fülle.
Die Radikalität dieser Aussage lässt sich nicht ein für alle Mal erfassen, sondern will jeden Moment neu entdeckt sein. Unsere postchristliche Zeit ist an Leistung und Wohlstand orientiert und freut sich an Erfolg und all den Annehmlichkeiten, die dieser mit sich bringt. Sie ist gewöhnt, sich an das Verfügbare zu halten, Schwäche und Not, Leid und Tod zu verdrängen und den Bezug zu Gott als dem Geheimnis der Gegenwart zu vergessen. Welche Bedeutung könnte die christliche Geschichte von der Auferstehung da noch haben! Und selbst wer direkt mit Leid und Tod konfrontiert ist, kann sich mit ihr schwer tun. Was nützt der Hinweis auf eine Auferstehung, wenn wie in der Ukraine der imperialistische Nachbar auf einmal mein Land mit Panzern und Raketen angreift? Wenn plötzlich wie kürzlich in der Türkei und in Syrien die Erde bebt, Häuser zusammenbrechen und unzählige Menschen unter sich begraben? Was hilft der Glaube an eine Auferstehung, wenn ich vor Schmerzen nicht mehr auf meinen Beinen stehen kann, wenn der Tod naht und der Abschied von einem geliebten Menschen ansteht? Solche Erfahrungen sind grauenhaft, und ihr Horror nimmt gefangen. Wie könnte da Gottes Gegenwart zugänglich sein und zur Erlösung werden!
Der Geschichte der Auferstehung geht die Geschichte von Karfreitag und Getsemani voraus. Auch Jesus tut sich schwer, den Kelch zu trinken und seinen Leidensweg anzunehmen. Dreimal bittet er darum, dass es anders geht, dreimal muss er einsehen, dass dies sein Weg ist (Mk 14,32-42). Schliesslich kommt sein Willen mit dem Willen Gottes in Übereinstimmung, und er verzichtet darauf, gewaltsam gegen sein Schicksal anzukämpfen oder ihm entfliehen zu wollen. Stattdessen lässt er sich aufrichtig darauf ein und stirbt seinen Tod am Kreuz. Nicht alle Jünger kommen damit nicht klar (Mk 14,66-72), doch es gibt etliche, die in einiger Entfernung bei ihm bleiben (Lk 23,49). Der Weg der Gegenwart Gottes ist offensichtlich kein weltfremder Weg. Er macht stattdessen Mut, sich immer wieder neu auf die Güte Gottes einzulassen, die im Kreuzweg steckt, und ihrer Weisheit zu folgen, die zeigt, was sich im Angesicht der eigenen Begrenztheit bewährt. Dieser Weg stellt sich den Abgründen dieser Welt, aber er hört nicht auf, auf den Segen der Gegenwart Gottes zu vertrauen, der darin aufkeimt. Die Geschichte der Auferstehung ist ein Versuch, genau das nahe zu bringen.
Unser Predigttext illustriert, was dies in einer schwierigen Situation des Lebens bedeutet. Er erzählt von der Konfrontation der Apostel durch die jüdische Elite. Ihm geht voraus, dass die Apostel im Volk grosse Erfolge erzielten. Durch ihr Wirken wurden viele Menschen von ihrem Leiden geheilt, und diese Erfahrung liess die junge Gemeinde wachsen (Apg 5,12-16). Die jüdische Elite erfüllte dies mit Neid und liess sie ins Gefängnis werfen. Auf wundersame Weise aber wurden sie durch einen Engel daraus befreit. Mit dem Erlebnis der Befreiung aus dem Kerker traten sie wiederum im Tempel auf und verkündeten die erlösende Gegenwart Gottes. Als die jüdische Elite davon erfuhr, liess sie sie sogleich herbeiführen, um sie zu stoppen.
Hier setzt unser Predigttext ein. Er berichtet, dass die Apostel erneut vor den Hohen Rat gestellt werden (vgl. Apg 4,7). Der Hohe Priester führt die Anklage. Zunächst verweist er darauf, dass die Apostel ausdrücklich mit einem Verbot, in diesem Namen zu lehren, belegt sind (Apg 4,18.21). Die Nennung des Namens von Jesus Christus dem Nazarener vermeidet er. Ebenso wenig geht er auf die wundersame Befreiung der Apostel aus dem Gefängnis ein. Was ihn stattdessen bewegt, ist die Tatsache, dass sich die Apostel über das Lehrverbot hinwegsetzen und Jerusalem mit ihrer Lehre erfüllen. Er unterstellt ihnen, dass sie das Blut dieses Menschen über die jüdische Elite bringen wollen. Folgt man biblischem Sprachgebrauch, nimmt er an, dass diejenigen, die sich am Tod Jesu schuldig gemacht haben, als Mörder bestraft werden sollen. Der Hohe Priester denkt in den Kategorien des ius talionis, nach welchem Gleiches mit Gleichem bestraft werden muss. Petrus hat indes bereits deutlich gemacht, dass er davon ausgeht, dass die jüdische Elite aus Unwissenheit gehandelt hat, dass sie nun Gelegenheit hat, sich zu distanzieren und sich auf die Vergebung ihrer Sünden auszurichten (Apg 3, 17.19). Ihm geht es auch in Bezug auf die jüdische Elite um Vergebung, Heilung und Erlösung.
Seine Replik auf den Hohen Priester zeigt es. Petrus und die Apostel wiederholen, was er und Johannes bereits bei der früheren Einvernahme gesagt haben (Apg 4,19b.20), nun aber zur Maxime verdichtet: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen. Was sie damit meinen, führen sie im Folgenden aus. Zu verstehen ist sie zunächst integrativ: Es geht um den Gott unserer Väter. Das Verbindende von jüdischer Elite und Aposteln steht an erster Stelle. Allerdings folgt das Trennende sogleich: Ihr, die jüdischen Eliten, habt Jesus ans Holz gehängt und umgebracht. An ihrer Schuld machen Petrus und die Apostel keine Abstriche. Doch nicht diese Schuld steht im Zentrum, sondern dass der sie verbindende Gott Jesus vom Tod auferweckt hat. Der Blick ist auf Gott gerichtet, dem man mehr gehorchen muss als den Menschen. Gott hat nämlich Jesus zu seiner Rechten erhöht und zum Fürsten und Retter gemacht. In seinem Namen ist Gottes vergebende und erlösende Gegenwart da, um Israel Umkehr und Vergebung der Sünden zu schenken – auch der jüdischen Elite, die ihn umgebracht hat. Nicht um Rache, Strafe und die Fortsetzung menschlicher Sünde geht es, sondern um das Gegenteil davon: um die Befreiung aus Schuld und Verstrickung, um Heilung und Erlösung. Der Weg dazu ist die Umkehr, die Reue, die Ausrichtung auf die Vergebung aufgrund der Einsicht, dass in Jesus Christus dem Nazarener tatsächlich Gott gegenwärtig ist. Das bezeugen die Apostel und der heilige Geist, durch den Gott allen gegenwärtig ist, die ihm gehorchen. Sie beanspruchen also, genau ihrer Maxime zu folgen und Gott mehr zu gehorchen als den Menschen.
Die Fortsetzung erzählt dann, dass diese freimütige Rede der Apostel die jüdische Elite in rasenden Zorn versetzt und dass sie sie töten wollen. Der Pharisäer Gamaliel aber erhebt sich und übernimmt die Führung. Er lässt die Apostel hinausschicken und ruft seine Ratskollegen zur Besinnung. In einer fiktiven Rede lässt ihn Lukas sagen, dass bereits Theudas und später Judas der Galiläer mit dem Anspruch aufgetreten sind, etwas Besonderes zu sein (Apg 8,9), dass sich ihre Bewegungen aber in alle Winde zerstreut haben. Daraus zieht Gamaliel einen weisen Schluss: Stammt die Jesusbewegung von Menschen, wird es ihr ebenso gehen, stammt sie von Gott, lässt sie sich ohnehin nicht aufhalten. Die jüdische Elite würde dann aber als solche dastehen, die gegen Gott kämpft. Seine Worte finden Gehör. Mit ihnen lässt ihn Lukas unwissentlich sagen, was für ihn Tatsache ist: dass die Jesusbewegung wächst, dass sie sich nicht zerstreut, dass in ihr Gott gegenwärtig ist. Als die Apostel wieder hereingeholt werden, werden sie erneut an das Verbot, von Jesus zu reden, erinnert. Das Verbot wird ihnen sogar mit Schlägen eingebläut. Dann aber werden sie frei gelassen. Lukas schliesst die Erzählung mit dem Hinweis, dass die Apostel freudig weggehen, weil sie gewürdigt werden, im Namen von Jesus Schmach zu erleiden und im Leiden, das ihnen widerfährt, die erlösende Gegenwart Gottes zu erleben. Täglich und ohne Unterlass führen sie deshalb ihre Lehr- und Verkündigungstätigkeit fort, öffentlich im Tempel und privat zuhause, dass Jesus der Gesalbte ist, durch welchen Gott gegenwärtig wird.
Die Besinnung auf diese Geschichte heute an Ostern, ruft uns eine Einsicht in Erinnerung, die nichts an Aktualität verloren hat: Was auch immer die Umstände sind, in denen wir leben, orientieren sollen wir uns zuerst und vor allem an der Freiheit der Gegenwart Gottes. Ihr soll unser Gehorsam mehr gelten als allem anderen. Unser Wille soll mit dem Wille Gottes eins werden.
Diese Maxime hat in der Kirchengeschichte tiefe Spuren hinterlassen. Bereits in der frühen Kirche wird sie im Kampf gegen heidnische Obrigkeiten immer wieder zitiert. Benutzt wird sie aber auch im Kampf gegen Sittenlosigkeit, andere Lehrmeinungen, zur Verteidigung theologischer Forschung oder im Kampf gegen weltliche Rechtsansprüche. Mit dem Aufkommenden Mönchstum dient sie dem Aufruf, der Welt zu entsagen, aber ebenso gegen masslose Askese. Im Mittelalter verweisen Päpste auf sie um, um Papstgehorsam als Gottesgehorsam gegen die Ansprüche des Kaisers einzufordern. Allerdings wird das Argument auch gerade umgekehrt eingesetzt und der Papst auf die Seite der Menschen gestellt. Luther, ähnlich Calvin, bekämpfen mit dieser Maxime die Macht von Kirche und Staat, doch weist bereits Luther darauf hin, dass sie als Deckmantel von Eigensinn missbraucht werden kann, etwa wenn sie wie bei den Schwärmern für revolutionäre oder fundamentalistische Zwecke herhalten muss. In den Wirren der konfessionellen Auseinandersetzungen rekurrieren Untertanen konvertierter Herrschaften auf sie, um ihren eigenen Glauben zu verteidigen. Als sich die Situation im 19. Jahrhundert etwas beruhigt, verliert sie in jenen Staaten, die sich christlich verstehen, an Bedeutung. Allerdings nicht für lange. Im 20. Jahrhundert wird sie gegen marxistische und nationalsozialistische Herrschaftsansprüche erneut in Anschlag gebracht. Die gegenwärtige Rückkehr imperialistischer und autoritärer Diktaturen verschafft ihr ebenfalls unerwartete Aktualität. Die Frage drängt sich deshalb auf, ob sie für unsere beschleunigte, postchristliche Zeit wieder zur Maxime der Stunde geworden ist.
Allerdings ist sie in der Vergangenheit für gegensätzliche Zwecke verwendet worden, und nicht selten hat sie zur Legitimation eigener politischer Ansprüche herhalten müssen. Soll sie heute glaubwürdig sein, darf sie nicht politisch verengt und für egoistische Zwecke missbraucht werden. Gott ist zwar jeden Moment gegenwärtig, vereinnahmen aber lässt er sich von nichts und niemandem. Die Gegenwart Gottes ist kein Gut, das sich haben, wissen oder beanspruchen lässt. Ihre Pointe ist stattdessen gerade ideologiekritisch. Wollen wir die Freiheit der Gegenwart Gottes in Anspruch nehmen, müssen wir unseren Subjektivismus selbstkritisch hinterfragen und allen politischen Ideologien mit Vorsicht begegnen. Sie ist zwar jeden Moment am Kommen – ihre Wirkung entfaltet sie indes erst in dem Moment, in welchem wir uns lassen und gehorsam unsere Läuterung willkommen heissen.
Eine solche Botschaft war, ist und bleibt unzeitgemäss. Sie widerspricht dem menschlichen Bedürfnis nach Kontrolle und konfrontiert uns stattdessen mit den Abgründen unserer Demut. Genau dies aber macht sie ständig aktuell. Denn sie gibt uns jeden Moment die Chance, im Gehorsam gegenüber der Freiheit Gottes ins Hier und Jetzt zu finden, mitten in Schuld Vergebung, in Krankheit Heilung, in Verstrickung Erlösung zu erfahren und so zu realisieren, dass uns Gottes Güte und Weisheit jeden Moment entgegenkommen. Auf diese Weise kann es auch bei uns Ostern werden – immer wieder neu. Beten wir also, dass wir den Mut aufbringen, Gott mehr zu gehorchen als allem Menschlichen, und dass es so bei uns Ostern wird. Amen.
Predigt vom 9. April 2023 in Wabern
Bernhard Neuenschwander