Flow of time

Flow of time

Und er ging in die Synagoge und konnte dort drei Monate lang ungehindert reden und sie vom Reich Gottes überzeugen. Da aber einige sich verhärteten und verschlossen und vor den Leuten den neuen Weg schlechtmachten, trennte er sich von ihnen, nahm die Jünger mit sich und sprach fortan täglich im Lehrhaus des Tyrannus, und das während zwei Jahren, so dass alle, die in der Provinz Asia wohnten, das Wort des Herrn hörten, Juden wie Griechen. Auch aussergewöhnliche Wunder wirkte Gott durch die Hand des Paulus; es kam so weit, dass man ihm sogar Schweisstücher und Arbeitsschürzen vom Leib nahm und den Kranken auflegte, und die Krankheiten wichen von ihnen, und die bösen Geister fuhren aus. Apg 19,8-12

Gottes Gegenwart ist die Gabe des Moments. Sie gibt Zeit und Raum, sie gibt Luft zum Atmen, sie gibt Freiheit, Liebe, Weisheit. Es braucht nichts, damit sie geschieht. Doch indem sie geschieht, entsteht Leben, diese Welt, das ganze Universum. Sie geht allem menschlichen Tun ebenso voraus, wie der Evolution des Lebens und der Entstehung dieses Universums. Dennoch kann sie davon nicht getrennt werden. Sie geschieht aus sich selbst, aber offenbart sich nur in den Dingen, sie gibt den Moment, aber zeigt sich nur darin. Alles, was es gibt, ist ihre Offenbarung, und ausserhalb von ihr gibt es nichts, was es gibt. Als Gabe des Moments ist die Gegenwart Gottes ein nichtduales Ereignis: Sie geschieht frei von jeder Dualität mitten in der Dualität, unfassbar und geheimnisvoll in jedem Hier und Jetzt.

Wer sich als Mensch darauf einlässt, kann nur versuchen, dies als teilnehmender Beobachter nachzuvollziehen. In der Gabe des Moments erwacht das Selbst. Das Herz wird weit, und es beginnt zu realisieren, dass diese Gabe nicht von ihm zu trennen ist, ja dass sie genau das ist, was es im Grunde ist.

Die so verstandene Gegenwart Gottes ist nicht die ἀρχή der Vorsokratiker. Auch diese suchen nach dem Anfang des Kosmos, dem Prinzip, das ihn bestimmt, und erkennen die Antwort im Wasser (Thales von Milet), im ἄπειρον, im Unbegrenzen (Anaximander), in der Luft (Anaximenes), im Feuer (Heraklit), im Sein (Parmenides), in den vier Elementen, die sich durch Streit und Liebe mischen (Empedokles), im νοῦς, im Verstand (Anaxagoras), in den Atomen (Demokrit) und in der Zahl (Pythagoras) – beeindruckende Versuche, der Gegenwart Gottes auf die Spur zu kommen; doch diese ist eben nicht ein zeitloses Grundprinzip, sondern die Gabe des Moments. Plato geht einen Schritt weiter, lässt die Naturbetrachtung hinter sich, wird abstrakter, innerlicher und gelangt zum εἶδος, zum Bild, zur Idee des Gutschönen, das ohne Zeit besteht. Seine θεωρία, seine Schau dieses Bildes, lässt sich in eine Ideologie überführen, die jederzeit gut sein soll, verpasst damit aber gerade das Geheimnis der unmittelbaren Gegenwart.

Was diese alten griechischen Denker ausbuchstabieren, prägt das Denken unserer westlichen Welt bis zum heutigen Tag. Umso wichtiger ist deshalb, sich den hebräischen Hintergrund der Gegenwart Gottes bewusst zu machen: Ist Gott gegenwärtig, wird sein Volk aus der Sklaverei befreit. Es schreibt Geschichte, verzichtet auf abstrakte Theorien und sucht stattdessen pragmatisch und immer wieder neu nach jener Liebe und Weisheit, die sich im Hier und Jetzt bewährt. Was dies zu bedenken gibt, ist ganz einfach: Die Gegenwart Gottes beginnt nicht mit mir, sondern ich beginne mit ihr. Diese Umkehrung befreit mich von der Ichbezogenheit und lässt mich derjenige werden, der ich in diesem geschenkten Moment sein kann. Sie macht mir bewusst, dass ich in Kontexten stehe, von denen ich herkomme und in die ich hineinwirke, dass aber die Gegenwart Gottes jene Gabe bleibt, dank der ich in all meinem Tun und Lassen bin.

Wird der Moment als Gabe verstanden, ist nichts naheliegender, als unaufgeregt und beharrlich dem zu folgen, was hier und jetzt zu tun ist. Unser Predigttext führt dies exemplarisch vor.

Er erzählt vom Wirken des Paulus in Ephesus. Soeben ist er von seiner Reise nach Jerusalem und Antiochia sowie zu den von ihm gegründeten Gemeinden in Galatien zurückgekehrt. Schon als er aus dem Hochland gegen Ephesus herabkommt, wird er mit dem Thema konfrontiert. Er begegnet etwa einem Dutzend Jüngern, die in der Tradition von Johannes des Täufers stehen. Sie kennen den heiligen Geist nicht und wissen nicht einmal, dass es ihn gibt. Ihnen ist also nicht bekannt, dass die Gegenwart Gottes eine Gabe ist, durch die sie zu ihrem Selbst erwachen. Paulus erklärt ihnen deshalb, dass der Täufer nicht nur die Umkehr gepredigt hat, sondern auch den Glauben an den, der nach ihm komme: an Jesus. Dieser Glaube impliziert dessen Auferstehung und die unmittelbare Gegenwart von Gottes Geist im Selbst des Menschen. Er gibt ihnen damit zu verstehen, dass die Gegenwart Gottes jene Gabe ist, die sie aus Gnade, ohne ihr Zutun, zu sich selbst bringt. Was sie hören, überzeugt sie. Sie lassen sich auf Jesus taufen, und als ihnen Paulus die Hände auflegt, kommt der heilige Geist über sie. Ihre Ichbezogenheit wird aufgebrochen, und sie reden in Zungen und prophetischen Worten. Sie zeigen so, dass sie nicht mehr aus ihrem Ich leben, sondern aus der Gabe des Moments (Apg 19,1-7).

An diese Stelle setzt unser Predigttext ein. Er bietet einen zusammenfassenden Überblick über das Wirken von Paulus in Ephesus. In seinem ersten Brief an die Korinther schreibt Paulus von diesem Aufenthalt. Er erwähnt, dass sich ihm hier eine Tür gross und verheissungsvoll aufgetan hat, dass aber auch viele Widersacher da sind (1Kor 16,9). Zudem schreibt er, dass er mit wilden Tieren zu kämpfen hat (1Kor 15,32). Vermutlich sitzt er zeitweilig im Gefängnis (Phil 1,7.12-26; 2,17). Lukas erzählt davon nichts.

Sein Bericht erweckt vielmehr den Eindruck, dass Paulus sein Werk auf gewohnte Weise fortsetzt. Der Fokus von Lukas ist auf das beharrliche Wirken von Paulus gerichtet. Der Beginn verläuft klassisch (V8). Paulus geht in die Synagoge und predigt dort vom Reich Gottes, also vom Weg in Gottes Gegenwart. Immerhin sind Toleranz und Offenheit in der Metropole Ephesus für seine Botschaft so gross, dass er drei Monate ungehindert auftreten kann. Doch dann kommt es – wie üblich – zur Trennung (VV9-10). Da sich einige verhärten und verschliessen und vor den Leuten den neuen Weg – eine typische Metapher der Apostelgeschichte (Apg 9,2; 18,25f; 19,23; 22,4; 24,22) – schlecht machen, trennt sich Paulus von der Synagoge. Er lässt den Konflikt diesmal nicht eskalieren, sondern geht auf eigene Initiative. Seine Anhängerschaft nimmt er mit und findet im Lehrhaus des Tyrannus eine neue Wirkstätte. Tyrannus ist vermutlich ein gebildeter und wohlhabender Rhetor, der über ein eigenes Lehrhaus verfügt, Paulus zugeneigt ist und ihm den Hörsaal für seine Mission zur Verfügung stellt. Paulus kann dort täglich auftreten und ist nicht mehr auf den Sabbat begrenzt – und das für einen Zeitraum von 2 Jahren. Länger bleibt Paulus an keinem Ort auf dieser Mission. Alle in der Provinz Asia, also dem grösseren Umfeld von Ephesus, kommen so in Kontakt mit dem Wort Gottes, Juden und Griechen.

Die Zeit in Ephesus ist für Paulus enorm wichtig. Hier konsolidiert er seine Theologie, hier schreibt er seinen Brief an die Galater, den 1. Brief an die Korinther, vermutlich Teile des 2. Korintherbriefs und wohl auch den Brief an die Philipper, hier gewinnt sein Verständnis vom Weg in die Gegenwart Gottes allein aus Gnade, ohne menschliche Werke, an Profil.

Doch Lukas will Paulus nicht bloss als Lehrer darstellen, sondern ebenso als Wundertäter, von dem Heilung ausgeht (VV11-12). Der Weg in die Gegenwart Gottes, den Paulus aus seiner Sicht geht, bringt Befreiung für Seele und Leib. So geschehen aussergewöhnliche Wunder durch die Hand des Paulus. Paulus werden Schweisstücher und Arbeitsschürzen abgenommen und Kranken aufgelegt, sodass Krankheiten weichen und böse Geister ausfahren. Wo die Gegenwart Gottes als Gabe wirkt, ist ein Mensch jenes bedingungslose Selbst, das er hier und jetzt ist und das heilende, befreiende, wohltuende Kraft verbreitet. Dies kann selbst dort und dann wirksam werden, wo Menschen durch die blosse Wahrnehmung von Gegenständen die Gabe des Moments unmittelbar erfahren.

Die Fortsetzung grenzt das heilsame Wirken der Gegenwart Gottes vom möglichen Missbrauch ab (Apg 19,13-17). Wer die Gabe Gottes in Anspruch nehmen will, ohne in ihr von sich selbst befreit zu sein, wird zum Gefangenen seines eigenen Tuns. Die sieben Söhne eines jüdischen Hohepriesters erfahren dies am eigenen Leib. Sie beschwören die bösen Geister beim Jesus, den Paulus verkündet. Doch diese geben ihnen zu verstehen, dass sie nichts verstanden haben und von ihnen nicht ernst genommen werden. Sie stürzen sich auf sie und machen öffentlich, dass ihre Heilungsansprüche eine missbräuchliche Vereinnahmung der Gegenwart Gottes sind. Lukas erzählt, dass in der Folge viele selbsternannte Heiler ihre ichgesteuerten Heilpraktiken ablegen und sich dem Geheimnis der Gegenwart als der bedingungslosen Gabe Gottes hingeben (Apg 19,18-20).

Denken wir heute über diese Geschichte nach, fordert sie uns dazu auf, über den Moment als Gabe nachzudenken. Lassen wir uns glaubend auf die Gegenwart Gottes ein, verdankt sich unser Tun und Lassen, unser Leben und Sterben dieser Gabe. Was bedeutet das?

Es ist zunächst eine Ermutigung, sich auf den Fluss der Zeit einzulassen, in welchem alles, was es gibt, bereits fliesst. In der Physik ist die Zeit die einzige Grösse, die nicht umkehrbar ist. Was gerade war, ist vergangen und kommt nie mehr zurück. Ich steige nie zweimal in den gleichen Fluss (Heraklit). Auch wenn ich dies beobachte, bleibt meine Beobachtung situativ. Ich nehme die Gabe des Moments in Anspruch, indem ich etwas tue oder lasse, ja indem ich da bin. Das Wirken von Paulus in Ephesus beginnt nicht erst mit seinem Tun, sondern bereits in jenem Moment, in welchem er sich vom Hochland der Stadt nähert und sich für das Kommen des Geistes und das Erwachen des Selbst einsetzt. Erzählerisch wird damit angedeutet, dass sein Tun längstens angefangen hat, wenn er zu agieren beginnt. Die Zeit, die er braucht, ist ihm gegeben. Er handelt – samt aller Reflexion darüber – aus der Gabe des Moments, der er sich verdankt und die all seinem Tun vorausgeht. Unmittelbar wird damit die Freiheit der Gegenwart Gottes spürbar: Ich bin frei von mir selbst, indem ich vom Fluss der Zeit getragen werde, ohne dass ich dafür etwas tun muss.

Diese Freiheit des Moments will unaufgeregt, aber beharrlich nachvollzogen werden. Jeden Moment ist diese Freiheit gegeben, jeden Moment kann ich mich auf sie einlassen, jeden Moment kann ich aus ihr leben. Darin ist das ganze Evangelium enthalten. Paulus macht sich deshalb in Ephesus in gewohnter Manier an die Arbeit. Er hängt nicht einer Vergangenheit nach und träumt nicht von einer Zukunft, sondern lässt sich darauf ein, was ihm der Moment gibt. Er spricht vom Weg in die Gegenwart Gottes, zunächst in der Synagoge, dann im Lehrhaus des Tyrannus. Ihm geht es nur darum, allen die bedingungslose Gabe des Moments nahezubringen. Lebe, webe und bin ich in ihr, fliesst die Zeit ruhig und klar. Sie unterläuft die depressive, endlos zähe Ausdehnung der Zeit ebenso wie die aufgeregte, stressgetriebene Vernichtung der Zeit. Halte ich mich beharrlich an die Gabe des Moments, ist jeder Augenblick ein Geschenk. Ich tue, was ich zu tun habe und lasse mich durch die Umstände nicht durcheinanderbringen.

Das zu erleben, ist kein bloss geistiger Vorgang, sondern erfasst das gesamt körperliche Dasein. Alles, was hier und jetzt mit den Sinnen wahrgenommen wird, verdankt sich der Gabe des Moments und kann zu einer heilsamen Erfahrung der Gegenwart Gottes führen. Die Wäschestücke, die Paulus abgenommen und Kranken aufgelegt werden, zeigen dies exemplarisch. Wirksam ist nicht eine vermeintliche Magie dieser Objekte, sondern die Erfahrung der Gabe des Moments durch sie. Wer meint, darüber verfügen zu können, wird zum Gefangenen seiner selbst. Doch das Kissen, auf dem ich sitze, kann mir, indem ich es wahrnehme, die Gabe des Moments erfahrbar machen. Das Messer, das ich für die Zubereitung des Mittagessens in den Händen halte, kann zum Auslöser meiner Erleuchtung werden. Jeder physische Kontakt mit der Materie, die mich umgibt und die ich körperlich bin, offenbart mir die heilsame Wirkung, die in der Gabe des Moments steckt.

Die Rede von der Gegenwart Gottes markiert also kein zeitloses Prinzip, das wir anwenden, keine Idee, die wir für wahr halten müssen. Sie verweist vielmehr auf die Gabe des Moments, der wir uns im Fluss der Zeit ständig verdanken, ja die wir in all unserem Tun und Lassen jeden Augenblick sind. Diese Gabe offenbart sich uns nur, indem wir uns auf sie einlassen, indem wir ihr beharrlich jeden Moment folgen, indem wir sie genau in der materiellen Welt, in der wir uns gerade bewegen, finden. Beten wir also, dass wir uns von dieser Gabe erfassen lassen und ihre heilsame Wirkung teilen können. Amen.

Predigt vom 9. November 2025 in Wabern
Bernhard Neuenschwander

PDF Datei herunterladen