Als nun die Zeit erfüllt und der Tag des Pfingstfestes gekommen war, waren sie alle beisammen an einem Ort. Da entstand auf einmal vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, in dem sie sassen; und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich zerteilten, und auf jeden von ihnen liess eine sich nieder. Und sie wurden alle erfüllt von heiligem Geist und begannen, in fremden Sprachen zu reden, wie der Geist es ihnen eingab. Apg 2,1-4
Der Funke zum Leben, der Impuls zum Handeln, ist unergründlich und geheimnisvoll, und doch ist er jeden Moment da. Es gibt zwar Geschichten, die erzählen, wie etwas gekommen ist und warum etwas zu dem geworden ist, was es ist. Kenne ich die Biographie eines Menschen, fällt es mir leichter, sein heutiges Tun zu verstehen, und wenn ich mir bewusst bin, woher ich komme, ist es für mich einfacher, mit mir selber klar zu kommen. Dennoch beantwortet die Geschichte nicht, weshalb ich mich in einem bestimmten Moment genau so verhalte und genau diese Entscheidung treffe. Die Geschichte gibt Hinweise, aber sie formuliert keine zwingende Gesetzmässigkeit. In jedem Moment steckt eine Freiheit – andere nennen diese Freiheit Zufall – etwas, was sich jeder Verfügbarkeit entzieht und doch jeden Moment da ist.
Es wird heute viel Aufwand betrieben, dieses Etwas zu berechnen. Riesige Computer werten Unmengen von Daten aus und versuchen den Algorithmus des Verhaltens des einzelnen Menschen finden. Es soll voraussagbar sein, was ich in Zukunft tun. Ich gebe zu, dass mir die Vorstellung Mühe macht, dass mit technischen Mitteln möglich sein sollte, meine Zukunft vorauszusagen. Denn so wäre der Fahrplan meines Lebens längstens festgelegt, ich könnte daran nichts ändern und müsste akzeptieren, dass meine Freiheit eine Illusion ist.
Gegen die Vorstellung, dass alles vorbestimmt und berechenbar ist, spricht aus meiner Sicht die Tatsache, dass die Gegenwart etwas Unfassbares enthält. Was der Moment ist, kann niemand erklären, und was die Zeit ist, entzieht sich dem menschlichen Verständnis. Was ich beobachte, ist im Moment, in dem ich es beobachte, bereits vergangen. Ich komme mit meiner Beobachtung ständig zu spät, und ständig beginnt ein neuer, unbekannter Moment. Die Zeit ist nicht zu verstehen. Aber sie ist das Tor zum Glauben und zur bedingungslosen Freiheit.
Für mich ist Gott nämlich das Geheimnis der Zeit. Mit dieser Interpretation habe ich nichts erklärt. Aber sie eröffnet mir den Zugang zu religiösen Texten. Zu allen Zeiten und in allen Kulturen haben sich Menschen Gedanken über die Zeit gemacht. Sie haben darum gerungen, mit der Begrenztheit der Zeit klar zu kommen, sich mit der Zeitlichkeit des Zeitlichen vertraut zu machen und die Güte und Weisheit zu finden, die im Moment stecken. Die Zufälligkeiten des Lebens ist sie damit nicht weggewischt. Aber so kann der als Gegenwart Gottes, als bedingungslose Freiheit, gedeutet werden, als Moment, der sich der Berechenbarkeit entzieht und uns Menschen Zugang zu etwas Einmaligem und Individuellem macht, zu etwas, das uns als Menschen unsere Persönlichkeit und Würde gibt.
Die Flamme der Gegenwart steht bildhaft für diese Freiheit, und unser Predigttext ist eine Geschichte, die von ihr erzählt. Der Autor, der bereits ein Evangelium verfasst hat, berichtet sie. Alte Texte nennen ihn Lukas. Ihm werden das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte zugeschrieben. Die Szene, die Lukas erzählt, spielt in einem Haus in Jerusalem. Eine grössere Anzahl Menschen hat sich dort versammelt. Es sind Menschen, die von der Jesusbewegung gehört haben. Einige von ihnen haben Jesus bereits zu Lebzeiten gekannt, haben ihn reden gehört und miterlebt, was er getan hat. Sie haben ihn als Menschen erlebt, in welchem Gott gegenwärtig ist, und sie haben vernommen, dass er davon überzeugt ist, dass Gott in allen Menschen, unabhängig von allen äusseren Bedingungen, gegenwärtig werden kann. Doch diese Botschaft der Ermächtigung hat ihm das Leben gekostet. Er ist hingerichtet worden – gekreuzigt. Nun gibt es freilich eine ganze Anzahl von Menschen, die berichten, dass dieser Jesus auferstanden sei. Die Gegenwart Gottes sei in ihm stärker als der Tod gewesen. Er habe ihnen den Heiligen Geist verheissen, habe sie unterrichtet, und auch gegessen hätten sie miteinander. Nach vierzig Tage sei dies aber vorbei gewesen. Er sei vor ihren Augen in den Himmel aufgefahren und in einer Wolke verschwunden. Erzählt wird dann, dass sie aufgrund seiner Anweisung miteinander in Jerusalem geblieben seien. Dort hätten sie sich in Gebet und Meditation gesammelt, sich als Gruppe neu konstituiert und darauf gewartet, was da auf sie zukommen sollte.
An dieser Stelle setzt unser Predigttext ein. Auf einmal sei die Zeit erfüllt, auf einmal sei der Moment gekommen. Gründe werden keine genannt. Warum gerade jetzt, der Moment gekommen ist, kann Lukas nicht sagen. Das Ereignis, das nun geschieht, nennt er Pfingsten. Eigentlich geht es Lukas um nichts als um die Gegenwart Gottes bzw. um das, was er das Kommen des Reiches Gottes nennt. Doch er hat begriffen, dass die Gegenwart Gottes viele Aspekte hat. Deshalb erzählt er Geschichten. Zuerst die Geschichte von Jesus, seinem Leben und Sterben, seiner Auferstehung, seiner Himmelfahrt, und nun – in der Apostelgeschichte – die Geschichte von Pfingsten. Auf diese Weise kann er erzählen, wie sich die Gegenwart Gottes zeigt und wie sie gefeiert werden kann: als Weihnachten, Karfreitag, Ostern, Himmelfahrt, oder eben Pfingsten. Entscheidend ist nicht, wann was historisch genau geschehen ist. Viel wichtiger ist, die verschiedenen Aspekte der Gegenwart Gottes zu begreifen.
An Pfingsten geht es um den schöpferischen Impuls, um den Zufall, um jene kreative Freiheit, welche im Geheimnis der Gegenwart Gottes steckt. Lukas versucht, diesen unvermittelbaren Impuls anhand einer eindrücklichen Bildsprache zu vermitteln. Als erstes wendet er sich dem Hören zu: Die Stille der Gegenwart Gottes zeigt sich als Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt und das ganze Haus erfüllt. Die anwesenden Menschen, die sich dem Geheimnis der Gegenwart Gottes aussetzen, erleben die Stille dieser Gegenwart wie einen ohrenbetäubenden Lärm. Sodann erscheinen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich teilen und die einzelnen Menschen erfassen. Die Flammen der Gegenwart erfassen alle, die vor Ort sind, als Individuen und bringen sie zum Brennen. Diese Präsenzerfahrung, die Lukas bildhaft beschreibt, deutet er theologisch: Sie ist eine Erfahrung des Heiligen Geistes. Und schliesslich beschreibt er, wie sich diese Erfahrung auswirkt: Die Menschen, die sie machen, versuchen, etwas zu sagen, das sich gar nicht sagen lässt. Sie sprechen zunächst unverständlich, in fremden Sprachen, so wie sie vom Geist erfasst worden sind. Was Lukas damit andeuten will, ist also klar: Wenn Gott gegenwärtig wird, holt dies in den Moment. Es ist unüberhörbar, brennt wie Feuer und will – auch wenn die Worte fehlen – seinen Ausdruck finden. So zeigt sich die Gegenwart des Heiligen Geistes, so zeigt sich die Gegenwart Gottes.
In der Fortsetzung versucht Lukas die gemachte Beschreibung durch eine Aussenperspektive zu ergänzen (Apg 2,5-13). Er erzählt, dass Jerusalem eine internationale Stadt ist und dass dort fromme Menschen aus allen Völkern leben. Diese in der Stadt wohnenden Menschen bekommen mit, dass in jenem Haus etwas Besonderes geschehen ist. Auch sie hören ein Tosen und strömen dort zusammen. Was sie indes sehen, ist für sie verwirrend. Sie sehen zwar, dass die Menschen im Haus Galiläer sind. Doch sie erkennen, dass diese Menschen in den Muttersprachen der Zuhörenden von den grossen Taten Gottes sprechen. Wird die Sprache der Gegenwart Gottes gesprochen, ist diese Sprache offenbar nicht an diese oder jene Sprache gebunden, sondern wird unmittelbar in der eigenen Sprache des Herzens vernommen. Allerdings haben nicht alle zu diesem mystischen Ereignis Zugang. Denn Lukas erzählt auch, dass einige spotten und sagen, diese Galiläer seien betrunken. So offensichtlich die Gegenwart Gottes für die einen ist, so unzugänglich kann sie den andern bleiben.
Diese Bilder von Lukas beschreiben ein vergangenes Ereignis, und für viele moderne Menschen mag der christliche Glaube zu dieser Vergangenheit gehören. Doch was sie erzählen, ist keineswegs vergangen. Die Flamme der Gegenwart verlischt nie. Sie brennt heute ebenso wie damals, und sie will auch heute unsere Herzen entzünden. Stehen wir mitten in all dem Vielen, was wir tun, dem Moment nicht im Weg, erfasst die Gegenwart von Gott auch uns und zeigt uns ihre Freiheit.
Wie merken wir, dass Gott gegenwärtig ist? Unser Predigttext sagt, dass dies unüberhörbar ist. Es ist zwar nicht ein Lärm, den wir durch unsere Ohren wahrnehmen. Aber wenn wir ganz im Moment sind, ist es, wie wenn die Stille in uns dröhnt und zu einem gewaltigen Sturm in uns wird. Oder es ist, wie wenn in uns ein Vulkan ausbricht. Dann erfassen die Flammen der Gegenwart unsern ganzen Körper, unser Gefühl, unser Denken. Wir sind nichts als pure Präsenz. Solche magischen Momente nennt Lukas Momente, in denen der Heilige Geist gegenwärtig ist. Solche Momente erfassen die anwesenden Menschen unmittelbar. Sie sind berührt, bewegt, verzaubert – selbst wenn ihnen die Sprache, in der dies geschieht, fremd ist. Dennoch verstehen sie intuitiv, ohne Worte und Erklärungen. Was wäre der Tanz ohne solche Momente? Oder die Musik? Wir sehen den Tanz, wir hören die Musik, doch darin geschieht etwas, das weder Tanz noch Musik ist: eben das Geheimnis des Augenblicks, das Geheimnis der Gegenwart Gottes.
Solche Momente können ebenso geschehen, wenn wir konzentriert an einer Aufgabe sitzen, den Durchblick durch eine Fülle von Daten suchen oder ein Problem lösen wollen. Es gibt unzählige Situationen, in denen es einzig und allein darum geht, mitten in einer Flut von Informationen den befreienden Moment zu entdecken, ins Hier und Jetzt zu kommen, die Zufälligkeit des schöpferischen Impulses zu spüren und den Ansatz zu finden, der weiterführt. Was sich auf diese Weise zeigt, braucht vielleicht Jahre, um sich nach und nach zu formen, zu ordnen und in sich klar zu werden. Was Lukas als Pfingstereignis beschreibt, ist nur der Anfang. Aber es ist der Impuls, der mit dem Christentum eine grosse Bewegung in Gang gesetzt hat – eine Bewegung, die mehr als 2000 Jahre verändert und sich über die ganze Welt ausgebreitet hat. Heute verstehen wird, dass das Pfingstereignis nicht exklusiv an das Christentum gebunden ist, sondern jene Mystik illustriert, um die alle Religionen drehen: die Flamme der Gegenwart, die uns jeden Moment lebendig macht, unsere Welt mit Güte und Weisheit leitet und die wir alle vernehmen und leben können, wenn wir ihr nicht mit uns selbst im Weg stehen. Beten wir also, dass wir uns von der Flamme der Gegenwart entzünden und leiten lassen. Amen.
Predigt vom 06. November 2022 in Wabern
Bernhard Neuenschwander