Petrus und Johannes nun gingen hinauf in den Tempel zur Zeit des Gebets; es war um die neunte Stunde. Und es wurde ein Mann herbeigetragen, der von Geburt an gelähmt war; den setzte man täglich vor das Tempeltor, welches ‘das Schöne’ genannt wird, damit er die Tempelbesucher um ein Almosen bitten konnte. Als der nun Petrus und Johannes sah, wie sie in den Tempel gehen wollten, bat er sie um ein Almosen. Petrus aber sah ihm in die Augen, und mit Johannes zusammen sagte er: Schau uns an! Er sah sie an in der Erwartung, etwas von ihnen zu erhalten. Petrus aber sagte: Silber und Gold besitze ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi des Nazareners, steh auf und zeig, dass du gehen kannst! Und er ergriff ihn bei der rechten Hand und richtete ihn auf; und auf der Stelle wurden seine Füsse und Knöchel fest, und er sprang auf, stellte sich auf die Füsse und konnte gehen; und er ging mit ihnen in den Tempel hinein, lief hin und her, sprang in die Höhe und lobte Gott. Und das ganze Volk sah ihn umhergehen und Gott loben. Sie erkannten aber in ihm den, der sonst beim Schönen Tor des Tempels sass und um Almosen bat; und sie waren erschrocken und entsetzt über das, was ihm widerfahren war. Apg 3,1-10
Der Advent ist fortgeschritten, Weihnachten steht vor der Tür. Die Geschichte, um die es geht, ist bestens bekannt. Sie erzählt von der Geburt im Stall, von den Engeln, die Grosses verkünden, und den Hirten, die ihre Freude über den Neugeborenen kundtun. Was diese Geschichte erzählt, steht gleichnishaft für das Kommen Gottes. In ihr verdichtet sich exemplarisch, wie es kommt, dass Gott gegenwärtig wird, wie sich diese Gegenwart manifestiert und was die Folgen dieser Gegenwart Gottes sind. Da ist von Heilungen und Wundern die Rede, von marginalisierten, kranken und armen Menschen, die erlöst werden, von einem Ruck, der durch die Gesellschaft geht und Vielen neue Lebendigkeit gibt.
Armut, Krankheit, soziale und psychische Not waren in der Gesellschaft, in welcher die Weihnachtsgeschichte ihren Anfang nahm, überall sichtbar. Lukas mit seiner Version von den Hirten zeigt noch deutlicher als Matthäus mit der Geschichte von den Magiern ein grosses Herz für diese Not einfacher und armer Menschen. Demgegenüber sind diese Themen in unserer modernen Gesellschaft weitgehend unsichtbar geworden. Hier in der Schweiz scheint kein Aufwand zu gross, gut zu funktionieren oder doch den Anschein zu machen, es zu tun. Wer dazu nicht in der Lage ist, wird rasch von Scham und Schuld eingeholt, versucht wenigstens das gute Bild aufrechtzuerhalten und kann zu Vielem bereit sein, sein Unvermögen zu tarnen. Umso grösser aber wird neben der äusseren auch die innere Not. Kann es da erstaunen, dass Einsamkeit und psychische Probleme gerade hier in der Schweiz so verbreitet und die Suizidrate so hoch sind? Doch all dies bleibt weitgehend verdeckt und kommt erst an die Oberfläche, wenn die Not zu gross wird und es nicht mehr möglich ist, sie zu unterdrücken.
Die Weihnachtsgeschichte holt diese Themen jedes Jahr erneut ab. Sie gibt ihnen eine Projektionsfläche, sie zu artikulieren, und sie schafft ihnen einen Rahmen, um die eigene Verletzlichkeit und Unvollkommenheit zu ventilieren. Der Advent gibt mit der Weihnachtsgeschichte jedes Jahr die Chance, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen und sich selbstkritisch zu fragen, wie ich als derjenige Mensch geboren werden kann, der ich in der Gegenwart Gottes bin.
Unser Predigttext gibt uns dazu eine wunderbare Vorlage. Der Autor des Lukasevangeliums und der Apostelgeschichte – er wird traditionellerweise Lukas genannt – erzählt sie uns. Im Hintergrund steht für ihn die Geschichte von Jesus. Ausführlich hat er sie in seinem Evangelium berichtet. Doch entscheidend ist für ihn, dass diese Geschichte nicht zu Ende ist, wenn Jesus nicht mehr als Mensch gegenwärtig und in den Himmel aufgefahren ist, sondern dass diese Geschichte weiter geht. Denn der Heilige Geist ist ausgegossen, Gott ist nach wie vor da, und diese heilende, befreiende Gegenwart Gottes in jedem Moment kann von allen Menschen als endzeitliche Wirklichkeit realisiert werden. Davon ist Lukas erfüllt, davon will er erzählen. Deshalb setzt er mit seiner Apostelgeschichte den Grundstein zu einer Geschichte der Kirche, zu derjenigen Geschichte, die vom Kommen Gottes in jedem Moment erzählt – samt all den Irrungen und Wirrungen, die Menschen durchleben, indem sie sich diesem Kommen in den Weg stellen, aber auch dem Segen, den sie erleben, wenn es in und unter ihnen gegenwärtig wird.
Was Lukas in unserem Predigttext erzählt, zeigt dies exemplarisch. Soeben hatte er angetönt, dass durch die Apostel viele Zeichen und Wunder geschehen (Apg 2,43). Nun gibt er ein Beispiel. Es handelt sich um die erste Wundergeschichte in der Apostelgeschichte. In seinem Evangelium erzählte Lukas, dass Jesus nicht nur selber Wunder vollbracht hatte, sondern dass er den Zwölf Aposteln Gewalt und Vollmacht über alle Dämonen und die Kraft, Krankheiten zu heilen, gab, und dass er sie aussandte, das Reich Gottes zu verkünden und Krankheiten zu heilen (Lk 9,1f; vgl. 10,19). Nun erzählt er, wie dies auch in der Zeit nach Jesus geschieht.
Petrus und Johannes, die beiden wichtigen Apostel des Urchristentums, treten hier als Team auf. Zusammen gehen sie hinauf zum Tempel. Es ist Mitte Nachmittag – die Zeit des Gebets. Die brütende Hitze ist vorüber, auch andere gehen hinauf zum Tempel. Ein Mann, der von Geburt an gelähmt ist, wird von Bekannten zum Eingang des Tempels gebracht. Aufgrund seiner Lähmung ist er offenbar arbeitsunfähig, entsprechend arm und zum Überleben auf Almosen angewiesen. Jeden Tag wird er deshalb an diesen Ort getragen, um die Tempelbesucher um Hilfe zu bitten. Dies ist die Ausgangslage der Geschichte.
Die Handlung beginnt, indem der Gelähmte aktiv wird. Als er sieht, wie Petrus und Johannes in den Tempel gehen wollen, bittet er sie um ein Almosen. Petrus reagiert auf diese Bitte, indem er ihm in die Augen schaut und ihn zusammen mit Johannes dazu auffordert, auch sie anzuschauen. Der Gelähmte soll nicht in seiner Geschichte verstrickt bleiben, sondern durch die Begegnung mit Petrus und Johannes in den Moment kommen. Der Bettler steigt darauf ein und erwartet, etwas von ihnen zu erhalten. Doch Petrus macht ihm klar, dass er nicht geben kann, worum er ihn bittet. Silber und Gold besitze er nicht. Aber er habe etwas, das er geben könne. Und er fordert ihn im Namen Jesu Christi des Nazareners auf, aufzustehen und zu zeigen, dass er gehen könne. Seiner Aufforderung verleiht er Nachdruck, indem er die rechte Hand des Bettlers ergreift und ihn hochzieht. Ganz lapidar hält nun die Erzählung fest, dass die Füsse und Knöchel des Bettlers auf der Stelle fest werden, dass sich der Bettler auf die Füsse stellt und gehen kann. Voll Freude geht er mit Petrus und Johannes in den Tempel hinein, läuft hin und her, springt in die Höhe und lobt Gott. Befreit von seiner Geschichte hat bei ihm ein Leben in der Gegenwart Gottes begonnen. Das ganze Volk im Tempelbereich sieht ihn umhergehen und Gott loben. Es erkennt, dass es der Gelähmte ist, der zuvor beim Tempeltor gesessen und um Almosen gebettelt hat. Doch dies zu sehen, erschreckt und entsetzt die Leute.
Die Heilung des Gelähmten, die hier erzählt wird, hat, wie Lukas deutlich macht, ein grösseres Nachspiel (Apg 3,11-4,22). Weil sich der Geheilte an Petrus und Johannes klammert und das ganze Volk zusammenläuft, sieht sich Petrus genötigt, sich zu erklären. Doch setzt dies die Priester und die Tempelwache in Bewegung. Petrus und Johannes werden verhaftet und dem Hohen Rat vorgeführt. Dort müssen sie sich erneut erklären. Schliesslich werden sie zwar freigelassen, doch wird ihnen unter Androhung von Strafe verboten, von Jesus zu sprechen. Sie werden nicht bestraft, da das Volk Gott für die Heilung lobt, die dieser Gelähmte erfahren hat. Denn er ist doch – wie Lukas abschliessend festhält – über 40 Jahr krank gewesen.
Diese Heilungsgeschichte illustriert auf wunderbare Weise, was geschehen kann, wenn es Weihnachten wird. Die Grundgeschichte von Weihnachten ist die Geschichte von der Geburt im Stall von Bethlehem wie sie das Matthäus- und das Lukasevangelium berichten; doch diese Geschichte kann in unzähligen Variationen erzählt werden. Weihnachten hat viele Gesichter.
Das theologische Zentrum einer Weihnachtsgeschichte ist das Kommen Gottes. Das Kommen Gottes ist indes ein geheimnisvolles Ereignis. Gott mag zwar jeden Moment gegenwärtig sein, doch festhalten können wir die Gegenwart Gottes nicht. Wie aber sollen wir von etwas sprechen, dass sich nicht festhalten lässt? Eine Geschichte von Weihnachten versucht dieses Unmögliche zu leisten. Sie will von einem Ereignis erzählen, in welchem sich die Gegenwart Gottes spiegelt. Das Licht dieser Gegenwart mag zwar jeden Moment da sein. Doch sichtbar wird es erst in der Reflexion einer solchen Erzählung. In dieser Vermittlung mag es aufleuchten – konkret und zeitgebunden, ohne diese Vermittlung bleibt es geheimnisvolle Ewigkeit – dunkel und unfassbar. Dieses eigenartige Ineinander von Dunkelheit und Licht, Unfassbarkeit und Geschichte ist der Kern jeder Weihnachtsgeschichte. Deshalb geben die Engel beim Stall von Bethlehem Gott die Ehre, deshalb lobt das Volk nach der Heilung des Gelähmten Gott. Ohne dieses Sichtbarmachen der unsichtbaren Gegenwart Gottes ist eine Geschichte keine Weihnachtsgeschichte.
Im Alten Testament ist es die Geschichte vom Exodus, die vom Kommen Gottes und seiner befreienden Gegenwart aus der Sklaverei erzählt. Die Propheten deuten diese Gegenwart Gottes auf ihre konkrete Lebenssituation, und der Psalter, das grosse Gebetsbuch der Bibel, rekurriert darauf, um Menschen in all den Unwägbarkeiten des Lebens eine Hilfe zu bieten. Die Geschichte von Jesu Christi des Nazareners steht in diesem Kontext. Die Engel künden ihn bei seiner Geburt als Retter, Gesalbten und Herrn an (Lk 2,11). Seine Geschichte reflektiert die Gegenwart Gottes und illustriert exemplarisch, wie sich diese konkret und zeitgebunden zeigt. Sein ganzes Leben, erst recht aber sein Sterben stehen dafür; denn er wird von Gott auferweckt, ist während vierzig Tagen als Auferstandener bei seinen Jüngern und wird schliesslich in den Himmel entrückt. Gott ist in diesem Jesus so sehr gegenwärtig, dass er selbst nach seiner konkreten, zeitgebundenen Zeit immer noch Menschen in die Gegenwart Gottes holt. Deshalb bringen Petrus und Johannes den Gelähmten durch ihren Blickkontakt in diese Gegenwart, deshalb gebietet ihm Petrus in diesem Namen aufzustehen. Die Gegenwart Gottes, wie sie sich in Jesus Christus des Nazareners spiegelte, ist zwar eine Erzählung aus vergangener Zeit geworden. Doch sie wirkt bis in den aktuellen Moment Wunder. Die Kraft ihrer Präsenz im Dort und Dann dupliziert sich bei dem, der sich auf sie einlässt, im Hier und Jetzt.
Dies ist eine Ermächtigung, die Wunder wirkt und neue Weihnachtsgeschichten schafft. Die rettende, befreiende, heilende Gegenwart Gottes, wie sie sich in den Geschichten des Alten Testaments zeigt, verdichtet sich in der Jesusgeschichte und wirkt durch diese hindurch immer wieder neu in der Zukunft. Die Geschichte vom Gelähmten steht gleichnishaft dafür. Über vierzig Jahre war er krank – eine endlose Wüstenwanderung. Doch der Moment seiner Heilung kam. Vermittelt durch Petrus und Johannes fand er den Glauben, um auf seinen eigenen Füssen zu gehen und die Verantwortung für sein Leben zu übernehmen. Wie bei ihm darf auch bei uns das Ringen um die Gegenwart Gottes kein Ende finden. Weihnachten ist unsere Chance, uns auf die Gegenwart Gottes in Jesus Christus des Nazoräers einzulassen, durch sie dazu ermächtigt zu werden, unsere Erlösung zu leben und so auch andere zu ermächtigen, erlöst zu sein. Was auch immer das Schicksal ist, das uns lähmt – wir sind dazu befähigt, die Opferrolle zu verabschieden, auf unsere eigenen Füsse zu kommen und in der Gegenwart Gottes selbstverantwortlich unser eigenes Leben zu leben. Wie der Gelähmte können wir dies am eigenen Leib erfahren, und wie Jesus und die Apostel können wir den Glauben auf Heilung vermitteln und Zuversicht auf Freiheit schaffen. Das Wunder von Weihnachten ist jeden Moment bereit, sich in unzähligen Variationen zu vervielfachen. Beten wir also, dass wir auf unsere Weise Weihnachten erleben und dass es durch uns auch bei vielen anderen auf ihre Weise Weihnachten wird. Amen.
Predigt vom 18. Dezember 2022 in Wabern
Bernhard Neuenschwander