Entanglement

Entanglement

In Lystra nun gab es einen Mann, der sass da, ohne Kraft in den Füssen; er war von Geburt an gelähmt und hatte nie gehen können. Der hörte Paulus reden; dieser fasste ihn ins Auge, und als er sah, dass er darauf vertraute, gerettet zu werden, sprach er mit lauter Stimme: Stell dich auf deine Füsse, richte dich auf! Und der sprang auf, und er konnte gehen. Apg 14,8-10

Gott ist jeden Moment gegenwärtig – mit absoluter Zuverlässigkeit, ohne Wenn und Aber. Der Advent macht es spürbar. Mag auf dieser Welt vieles drunter und drüber gehen, mögen viele Menschen Unsicherheiten und Sorgen belasten, so ist es dennoch auch dieses Jahr Advent geworden und wird es auch dieses Jahr bald Weihnachten sein. Unbeirrt und unaufgeregt von allem menschlichen Tun dreht der Planet Erde um die Sonne. Bald ist der kürzeste Tag, bald werden die Tage wieder länger. Bald wird das Kind in der Krippe erneut das Licht nahebringen, bald wird die frohe Botschaft seiner rettenden Ankunft wieder verkündet. Was sich im Lauf dieses Planeten durch Raum und Zeit anzeigt und was der christliche Weihnachtskalender feiert, ist doch dies: Gott ist als Geheimnis des Universums ständig gegenwärtig – im grossen Spiel der Evolution und in den Geschichten der Menschen. Er ist das Geheimnis der Gegenwart, das jedem Augenblick seine Freiheit gibt, das ihn mit seiner Liebe und Weisheit heiligt und das der Lichtblick jedes Hier und Jetzt ist. Seine Gegenwart lässt sich durch nichts erschüttern. Sie geschieht mit ebender Zuverlässigkeit, mit der alles, was ist, ein Moment in der Zeit ist.

Für den Glauben mag dies offensichtlich sein. Doch was genau kann ich von einem solchen Glauben erwarten? Das menschliche Leben findet im Moment statt – klar, das ganze Spiel der Evolution geschieht im Hier und Jetzt – ohne Zweifel. Doch weshalb sollte ich jenem Geheimnis Aufmerksamkeit schenken, das dem Augenblick innewohnt? Bietet nicht der Alltag genügend Stimulation, sodass ich jenen religiösen Zusatz, der die Wirklichkeit in eine Aura des Geheimnisvollen hüllt, getrost beiseitelassen kann?

Zweifellos! Ein Glaube, der nichts als religiösen Zauber und esoterischen Nebel produziert, ist nicht attraktiv. Glaube in postchristlicher Zeit muss klar und deutlich sein, sich vom Licht der Aufklärung durchleuchten lassen und sich dem Wettbewerb der Plausibilität stellen. Er sucht seine Zuflucht nicht in der Irrationalität, aber er steht ein für die Überrationalität des Moments. Seine Stärke ist die Evidenz der Gegenwart. Diese Evidenz ist vom Licht der Rationalität durchleuchtet, aber vom Licht der Unmittelbarkeit geschaffen. Ist diese Evidenz in mir am Werk, ist jedes Irgendwie von mir abgefallen. Ich tue genau, was ich gerade tue, und bin frei und präzise im Spiel hier und jetzt. Ein solcher Moment ist klar und dennoch unfassbar, luzide und dennoch geheimnisvoll. Es ist ein Moment der Gegenwart Gottes, ein Moment voller Präsenz und Präzision, ein Moment bedingungsloser Freiheit.

Ein Glaube, der auf diese Weise vom Geheimnis der Gegenwart geleitet ist, offenbart die Botschaft des Augenblicks und bringt dessen Licht zum Leuchten. Was sich darin verbirgt, zeigt unser Predigttext an einem Beispiel.

Die Episode, die hier erzählt wird, spielt in der Kleinstadt Lystra, die unter Kaiser Augustus zur römischen Kolonie geworden ist. Nach dem ausführlichen Bericht über die Ereignisse im pisidischen Antiochia (Apg 13,13-52) bietet sie eine weitere, detailliert festgehaltene Episode der ersten grossen Mission, die Paulus zusammen mit Barnabas in Kleinasien durchführt (Apg 14,8-20). Anders als in Antiochia tritt Paulus in Lystra jedoch nicht in der Synagoge auf, sondern vermutlich an einem öffentlichen Platz. Er richtet sich nicht an ein gemischtes Publikum von Juden und Nichtjuden, sondern an eine ausschliesslich nichtjüdische, hellenistisch geprägte Hörerschaft. Herausgehoben wird also noch deutlicher als in Antiochia, dass sich Paulus mit seiner Mission nicht nur an Juden, sondern an alle richtet. Seine Botschaft spricht etwas an, das in allen Menschen, ja in der ganzen Schöpfung gegenwärtig ist.

Erzählt wird die Heilung eines Gelähmten (VV8-10). Wie durch das Wirken von Petrus zusammen mit Johannes nach seiner grossen Pfingstpredigt ein Gelähmter geheilt wird (Apg 3,1-10), wird nun eine ähnliche Tat von Paulus in Begleitung von Barnabas erzählt. Sichtbar gemacht wird auf diese Weise, dass Paulus Petrus in nichts nachsteht, sondern sich auf Augenhöhe mit ihm befindet und entsprechend in seiner Mission zu den Völkern legitimiert ist. Wie bei der Geschichte, die von Petrus erzählt wird, geht es auch hier um einen namenlosen Mann (V8). Er sitzt da und hat keine Kraft in den Füssen; von Geburt an ist er gelähmt und hat nie gehen können. Betont wird also die Hoffnungslosigkeit seiner Erkrankung.

Nun kommt Paulus ins Spiel (V9). Er predigt auch in Lystra. Was er hier sagt, wird nicht rapportiert. Berichtet wird indes, dass ihn der Gelähmte hört. Offenbar entsteht zwischen den beiden ein Kontakt. Die Gegenwart Gottes verbindet sie unmittelbar. Paulus fasst ihn ins Auge und sieht, dass er darauf vertraut, gerettet zu werden. Sie stehen sich selbst mit nichts im Weg, sind von der Evidenz des Moments erfasst und wissen, was nun geschehen will. Was das ist, wird sogleich berichtet (V10). Mit lauter Stimme spricht ihn Paulus an und sagt ihm, was er tun soll: Stell dich auf deine Füsse, richte dich auf! Paulus agiert mit zweifelsfreier Klarheit und Präzision, einzig und allein geleitet von der Evidenz dessen, was in der Gegenwart Gottes hier und jetzt geschehen muss. Und der Gelähmte agiert in derselben Unmittelbarkeit. Er springt auf und kann gehen. Warum er dazu plötzlich in der Lage ist, wird nicht erklärt. Die Gegenwart Gottes schafft eine Verschränkung, durch die in dem Moment, in dem Paulus seine Seite offenlegt, auch die Seite des Gelähmten offengelegt ist. Was das Ziel der Wundertat ist, hat Lukas bereits festgehalten: Sie soll das Wort der Gnade bekräftigen (vgl. Apg 14,3).

Die Fortsetzung erzählt dann, wie die Leute in Lystra darauf reagieren (VV11-20). Sie sind tief beeindruckt und meinen, in Barnabas und Paulus ihre Götter Zeus und Hermes vor sich zu haben. Als Barnabas und Paulus dies realisieren, versuchen sie das Missverständnis zu klären. Sie verweisen darauf, dass es keine Götter gibt, sondern nur den Gott, der den Himmel gemacht hat und die Erde und das Meer und alles, was darin ist. Dieser Gott, der als Geheimnis des Universums jeden Moment gegenwärtig ist, dieser Gott bezeugt sich in Wohltaten. Ihr Klärungsversuch ist jedoch nicht erfolgreich. Einerseits können sie das Volk nur mit Mühe davon abhalten, ihnen wie Göttern zu opfern, andererseits regt sich Widerstand, der sie in Todesgefahr bringt. Die Heilung des Gelähmten offenbart zwar das Potential der Gegenwart Gottes, bleibt jedoch eine Überforderung, die zu mehr Missverständnis als Einsicht führt. Auch wenn Paulus den Aposteln in nichts nachsteht (2Kor 12,11), identifiziert er sich lieber mit seiner Schwachheit, damit die Kraft der Gegenwart Gottes in ihm wirken kann (2Kor 12,9).

Das Nachdenken über diese Geschichte jetzt, in der Adventszeit, motiviert dazu, über jenes Potential nachzudenken, das in der Gegenwart Gottes zum Vorschein kommen will. In unserer Geschichte manifestiert es sich in der Verschränkung zwischen Paulus und dem Gelähmten. Was ist damit gemeint?

Verschränkung ist ein Phänomen, das eine Gemeinschaft, die die Gegenwart Gottes miteinander teilt, qualifiziert. Der Begriff «Verschränkung» ist der Quantenphysik entlehnt. Er bezeichnet dort jenen Zustand, dass zwei Quanten, beispielsweise zwei Photonen, deren Eigenschaft undefiniert ist, so miteinander verschränkt sind, dass in dem Moment, in welchem die Eigenschaft des einen Photons bekannt wird, mit völliger Sicherheit ebenso diejenige des andern festgelegt ist. Dabei können die beiden Photonen beliebig weit voneinander entfernt sein, es wird keine Information übermittelt und die Eigenschaft des zuerst gemessenen Photons ist völlig zufällig und jeder menschlichen Manipulation entzogen. Der Vorgang ist einmalig, mit der Messung ist die Verschränkung zerstört. Das Besondere ist also, dass sich die Information, die sich beim einen Photon zeigt, ortsunabhängig und einmalig völlig gleichzeitig auch beim andern manifestiert. Die Synchronizität, die hier zum Vorschein kommt, widerspricht der Relativitätstheorie, weshalb Einstein das Phänomen als spukhaft bezeichnet hat. Im Experiment ist es jedoch vielfach bestätigt und für quantenbasierte Technologien, etwa Quantencomputer, von fundamentaler Bedeutung.[1] Direkt übertragen lässt sich dieses Phänomen der Quantenmechanik auf die Alltagswelt selbstverständlich nicht. Aber es schärft den Blick für jene Verschränkung, die im Rahmen einer die Gegenwart Gottes miteinander teilenden Gemeinschaft beobachtet werden kann.

Unser Predigttext kann als Geschichte gelesen werden, die exemplarisch vorführt, was Verschränkung in der Gegenwart Gottes ist. Die von Paulus und Gelähmtem geteilte Gegenwart Gottes verbindet die beiden in ihrem bedingungslosen Vertrauen und verschränkt sie in der Unmittelbarkeit des Augenblicks. Indem Paulus spricht und der Gelähmte seine Worte hört, wird dies angedeutet, der Augenkontakt zwischen den beiden illustriert es. Sie sind so miteinander verschränkt, dass die Information, die ersterer ohne jeden Eigenwillen offenlegt, augenblicklich letzteren bestimmt. Paulus agiert mit Präsenz und Präzision, frei von jedem Zögern und Zweifeln, und der Gelähmte agiert ebenso. Dabei korreliert das Tun der beiden mit absoluter Präzision. Erzählerisch manifestiert sich das Geschehen wie eine kausale Abfolge: Paulus fordert den Gelähmten zum Aufstehen auf, dieser springt auf und kann gehen. Ein magisches Verständnis der Situation kann in diesem Kontext aber ausgeschlossen werden. Es ist nicht Paulus, der mit seinem Willen den Gelähmten heilt. Die Umstehenden werden dies zwar in dieser Weise missverstehen, doch wird er mit allem Nachdruck klarstellen, dass er bloss ein Mensch ist, der das Evangelium verkündet, dass stattdessen der Gott, der das Universum geschaffen hat, mit seinen Wohltaten gegenwärtig ist (Apg 14,15-17). In der Gegenwart Gottes, dem Geheimnis des Universums, sind Paulus und Gelähmter so verschränkt, dass sie die Wohltat, die Gott in diesem Moment offenbaren will, miteinander teilen. Ihre Verschränkung ist das Medium, das ihre Verbundenheit zu einer heilenden Gemeinschaft macht, die Ursache aber ist die Gnade der geteilte Gegenwart Gottes.

Was sich in der Verschränkung ereignet, überschreitet die Alltagserfahrung, findet aber mitten im Alltag statt. Eine liebevolle, wache und präzise Verbundenheit von Herz zu Herz zeigt es. Teile ich im Herzen mit einem anderen Menschen die Gegenwart Gottes, teilen wir deren Information völlig gleichzeitig. Ist mein Herz in voller Präsenz und Präzision und ohne Eigenwillen auf Empfang, kann sich dies mit allem, was es gibt, und in beliebiger Form ereignen. Die Synchronizität mag spukhaft wirken und wunderhaft erscheinen, doch die Heilung des Gelähmten samt all den Wundergeschichte der Bibel illustrieren das heilende Potential, das darin steckt. Synchronizität kann sich indes auch ganz anders manifestieren. Ist mein Herz in der Gegenwart Gottes mit einem andern verschränkt, halten wir Schwäche und Scheitern, Krankheit und Tod miteinander stand. Wir teilen die Gegenwart Gottes, auch wenn keine Heilung stattfindet, sondern weil wir durch die Gnade miteinander verbunden sind. Paulus setzt vor allem auf diesen Aspekt der Verschränkung. Er will mit allen und allem die Freiheit Gottes in der Schwachheit teilen, damit darin das Evangelium, also die Information Gottes, gegenwärtig wird (vgl. 1Kor 9,19.22). Solche Verschränkung schafft wunderhafte Nähe und Mitgefühl, Verbundenheit und Trost, wo Heilung ausbleibt, der Schmerz nicht aufhört und das Leid gross ist. Doch ob als Wunder der Heilung oder als Wunder des Standhaltens in der Not – wo Herzen in Gottes Gegenwart fraglos und zweifelsfrei miteinander verschränkt sind, geschieht eine Wohltat, die berührt und beeindruckt.

Jahr für Jahr kommt der Advent, Jahr für Jahr wird es Weihnachten. Das Potential, das in der alten Weihnachtsgeschichte steckt, ist noch längst nicht ausgeschöpft. Die Verschränkung, die in einer Gemeinschaft der geteilten Gegenwart Gottes geschieht, gehört zum Spiel dieses Universum. Lassen wir uns deshalb auf dieses wunderhafte Ereignis ein und freuen wir uns, dass noch viel mehr möglich ist, als was wir uns vorstellen können. Beten wir also, dass es Weihnachten wird und wir ihre frohe Botschaft mehr und mehr zur Geltung bringen. Amen.

[1] Zum Verständnis dieses quantenmechanischen Phänomens sei nachdrücklich verwiesen auf: Zeilinger, Anton (2007, 13. Aufl.): Einsteins Spuk. Teleportation und weitere Mysterien der Quantenphysik. München: Goldmann.

Predigt vom 15. Dezember 2024 in Wabern
Bernhard Neuenschwander

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