Saulus aber schnaubte noch immer Drohung und Mord gegen die Jünger des Herrn. Er ging zum Hohen Priester und bat ihn um Briefe an die Synagogen in Damaskus, dass er, wenn er Anhänger dieses neuen Weges dort finde – Männer und auch Frauen -, sie gefesselt nach Jerusalem bringen solle. Als er unterwegs war, geschah es, dass er in die Nähe von Damaskus kam, und plötzlich umstrahlte ihn ein Licht vom Himmel; er stürzte zu Boden und hörte eine Stimme zu ihm sagen: Saul, Saul, was verfolgst du mich? Er aber sprach: Wer bist du, Herr? Und er antwortete: Ich bin Jesus, den du verfolgst. Doch steh auf und geh in die Stadt, und es wird dir gesagt werden, was du tun sollst. Die Männer aber, die mit ihm unterwegs waren, standen sprachlos da; sie hörten zwar die Stimme, sahen aber niemanden. Da erhob sich Saulus vom Boden; doch als er die Augen öffnete, konnte er nicht mehr sehen. Sie mussten ihn bei der Hand nehmen und führten ihn nach Damaskus. Und drei Tage lang konnte er nicht sehen, und er ass nicht und trank nicht. Apg 9,1-9
Die Gegenwart Gottes ist ein unfassbares Wahrscheinlichkeitspaket. Wer meditiert kennt es: Im Zentrum steht etwas Unfassbares. In der Gegenwart Gottes spielen Raum und Zeit keine Rolle. Die Dinge verlieren ihre Festigkeit, werden durchsichtig und veränderlich. Alles kann auftauchen und wieder verschwinden – Vergangenes und Zukünftiges, Bilder, Klänge, jede Art von Sinneseindrücken, ebenso Stimmungen, Gefühle, Phantasien und Gedanken. In der Gegenwart Gottes kann auf einmal die Welt, ja das ganze Universum, gegenwärtig werden. Doch sie selbst bleibt ungreifbares Geheimnis, unergründliche Finsternis, eine Wolke des Nichtwissens. Die Gegenwart Gottes ist bedingungslose Offenheit, Freiheit, Präsenz – Metaphern, die andeuten, was sich nur dem Schweigen erschliesst.
Allerdings ist die Gegenwart Gottes ebenso ein Bündel von Wahrscheinlichkeiten, mit welcher bestimmte Themen auftauchen. Ich kann in der Gegenwart Gottes den Film des Moments stoppen und wahrnehmen, was sich mir gerade präsentiert, ich kann meine Aufmerksamkeit üben und meine Wahrnehmung wahrnehmen, und ich kann mit immer grösserer Präsenz bei dem sein, was sich mir hier und jetzt zeigt. Was dies ist, mag zufällig auftreten oder die Folge von Ursachen sein, es mag völlig unerwartet auftauchen oder mein Leben spiegeln – in jedem Fall behält es seine ihm eigene Wahrscheinlichkeit, und in jedem Fall wird es dadurch, dass ich es in der Gegenwart Gottes wahrnehme, verwandelt. Das Wahrscheinlichkeitspaket wird zur Momentaufnahme, und ich nehme wahr, wie es sich mir gerade zeigt. Das ist nie das Ganze, sondern nur meine aktuelle Wahrnehmung. So können sich stressbeladene Themen, die den Moment besetzen, unversehens auflösen. Unerlöste Geschichte, die nach einem guten Ende rufen, können plötzlich verstummen. Offene Fragen, die ihre Antwort einfordern, können auf einmal geklärt sein. Das Ungleichgewicht, das zu seinem Gleichgewicht drängt, kann überraschend in ein neues Ungleichgewicht kommen. Bin ich in der Gegenwart Gottes, nehme ich bedingungslos wahr, was sich mir im Hier und Jetzt zeigt. Ihre Liebe gibt mir die Offenheit, anzunehmen, was ist, und ihre Weisheit zeigt mir, was daraus werden will. Dadurch passiert zwar viel und ist für das praktische Leben durchaus bedeutsam, doch verstanden, was die Gegenwart Gottes ist, habe ich damit noch nicht. Was sich mir von ihr zeigt und für mich als Wirklichkeit fassbar ist, ist nicht mehr als der Reflex des Moments. Sie selbst bleibt das unfassbare Spielfeld von Wahrscheinlichkeiten.
Die Gegenwart Gottes bleibt als unfassbares Wahrscheinlichkeitspaket das Geheimnis des Moments. Wie es indes kommt, dass ich mit ihr vertraut werde, ist ganz und gar nicht selbstverständlich. Das Geheimnis, dass es überhaupt etwas gibt und nicht nichts, ist zwar ständig gegenwärtig. Es ist das Integral der Wirklichkeit, das sich in seiner Verborgenheit jeden Moment offenbart. Dennoch bleibt es eine Einsicht des Glaubens. Dass ich glaube und zu dieser Einsicht gelange und dass ich nicht im Unglauben verharre, ist geheimnisvoll. Auf einmal ist die Glaubenseinsicht in die Gegenwart Gottes mit unmittelbarer Klarheit und Evidenz da. Mein eigenes Tun trägt dazu rein gar nichts bei. Sie ereignet sich ganz aus sich selbst. Der Himmel öffnet sich, der Moment der Gnade geschieht, die bedingungslose Freiheit Gottes ist gegenwärtig. Das Geheimnis der Gegenwart Gottes ist das Geheimnis des Glaubens, das sich nur dem erschliesst, der von ihm erfasst wird. Gottes Gegenwart ist nur durch sich selbst erkennbar. Dass Gott in mir gegenwärtig wird und mich in die göttliche Selbsterkenntnis hineinnimmt, ist das Geheimnis der Gegenwart Gottes.
Was sich mit Worten kaum sagen lässt, versucht unser Predigttext beispielhaft zu erzählen. Er berichtet von jener geheimnisvollen Erleuchtung, durch die Saulus zu Paulus wird. Eingeführt wurde Saulus von Lukas beiläufig im Zusammenhang der Steinigung von Stephanus (Apg 7,58). Ausdrücklich hält er fest, dass Saulus mit dieser nicht nur einverstanden war (Apg 8,1), sondern dass er die Urgemeinde in Jerusalem auch verfolgte und ihr grosses Leid zufügte (Apg 8,3). Auch Paulus selbst erzählt später, dass er die Urgemeinde voller Eifer verfolgte und dass auf einmal ein unfassbares Ereignis stattfand, das ihn zur Umkehr brachte (Apg 22,4-16; 26,9-18).
Unser Predigttext rekapituliert zunächst, dass Saulus noch immer Drohung und Mord gegen die Menschen der Urgemeinde schnaubte (V1). Saulus geht sogar zum Hohen Priester, um ihn um Briefe an die Synagogen in Damaskus zu bitten, dass er, wenn er dort Anhänger des neuen Wegs finde – Männer und auch Frauen –, sie gefesselt nach Jerusalem bringen soll (V2). Herausgehoben wird also, dass sich Saulus nicht damit zufriedengibt, die Urgemeinde in Jerusalem zu schwächen. Vielmehr hat er begriffen, dass die Flüchtenden das Evangelium in der umliegenden Gegend (Apg 8,4), in Samaria (Apg 8,5ff), den Küstenstädten (Apg 8,40), und auch bis nach Damaskus, verbreiten. Er drängt deshalb nachdrücklich dazu, auch die Flüchtenden zu verfolgen und ihre Verkündigungstätigkeit zu stoppen.
Unterwegs nach Damaskus geschieht jedoch etwas völlig Unerwartetes. Als er in die Nähe der Stadt kommt, umstrahlt ihn plötzlich ein Licht vom Himmel (V3). Was dieses Licht ist, wird nicht weiter beschrieben. Im Zusammenhang der Erzählung wird man es als Metapher für die Gegenwart Gottes zu verstehen haben. Aufgrund dieser überwältigenden Präsenzerfahrung von Licht stürzt Saulus zu Boden (V4a). Angedeutet ist damit nicht bloss ein Erschrecken angesichts eines unerwarteten Ereignisses. Saulus realisiert vielmehr blitzartig, dass er nicht mehr als Ich lebt, sondern dass etwas anderes in ihm lebt (vgl. Gal 2,20). Was dieses andere ist, ist ihm noch nicht klar, aber ihm wird alsbald zu verstehen gegeben, dass er das auserwählte Werkzeug des Herrn ist (vgl. V15).
Noch aber begreift Saulus nichts. Stattdessen hört er eine Stimme, die zu ihm sagt: Saul, Saul, was verfolgst du mich? (V4b) Die Frage fordert keine Antwort, sondern ist ein Vorwurf. Saulus versteht dies und fragt: Wer bist du, Herr? Und er bekommt zur Antwort: Ich bin Jesus, den du verfolgst (V5). Nicht die Verfolgung der Urgemeinde steht also im Zentrum, sondern dasjenige, was sie zur Urgemeinde macht: Jesus Christus der Nazarener, zu dem sie sich bekennt (vgl. Apg 3,6; 22,8). Dieser ist ihr innerer Meister, der sie mit der Gegenwart Gottes vertraut macht, dieser ist es, den Saulus verfolgt, dieser ist es aber auch, der nun Saulus zum inneren Meister wird. Sogleich gibt er ihm nämlich den Auftrag, aufzustehen und in die Stadt Damaskus zu gehen. Dort werde ihm gesagt, was er zu tun habe (V6). Vorerst versteht Saulus nur den nächsten Schritt, den er zu gehen hat. Erst später wird ihm klar, dass er soeben eine Berufung erlebt hat, die ihn in die Reihe der Apostel stellt (1Kor 15,5-8), wenn auch – wie er festhält – zum geringsten unter ihnen, weil er die Gemeinde Gottes verfolgt hat und nur aus Gnade derjenige geworden ist, der er ist (1Kor 15,9-10).
Die Männer, mit denen er unterwegs ist, erfassen, dass Saulus etwas Unfassbares widerfahren ist (V7). Sprachlos stehen sie da. An unserer Stelle wird erzählt, dass sie zwar die Stimme hören, aber niemanden sehen. Paulus berichtet später umgekehrt, dass sie das Licht sehen, die Stimme aber nicht hören (Apg 22,9). Entscheidend ist offenbar nur, dass sie als Augenzeugen bezeugen, dass Saulus tatsächlich etwas Besonderes zugestossen ist. Derweil erhebt sich Saulus vom Boden, doch als er die Augen öffnet, kann er nicht mehr sehen. Seine Reisegefährten nehmen ihn deshalb an der Hand und führen ihn nach Damaskus (V8). Betont wird also, dass Saulus vom Blitz, der in ihm eingeschlagen ist, so geblendet ist, dass er den Weg, den er zu gehen hat, nicht mehr sieht. Die Wirkung dieses Blitzschlags ist drei Tage akut. Während diesen Tagen kann er nicht sehen, und er isst und trinkt nicht. Die Fortsetzung erzählt dann, wie dieses mystische Ereignis, das Saulus von Kopf bis Fuss durchdringt, in Damaskus aufgefangen wird und wie in Saulus ein neues Leben erwacht (VV10ff).
Aus heutiger Perspektive kann man diese Geschichte als Legende abtun, die ihre Bedeutung verloren hat, oder als Beispiel einer blitzartigen Erleuchtung lesen, mit der die Gegenwart Gottes als unfassbares Wahrscheinlichkeitspaket in Raum und Zeit aufblitzt und auf einmal als Momentaufnahme wahrnehmbar wird. Unterstellt man, dass auch in postchristlicher Zeit mystische Ereignisse stattfinden, wird die letztere Lesart interessant.
Aus dieser Perspektive wird man zunächst festhalten, dass die Gegenwart Gottes ein nicht-duales Ereignis ist, das sich jeder menschlichen Fassbarkeit entzieht. Saulus wird von Licht umstrahlt; doch dieses Licht ist nicht sichtbar, sondern völlige Finsternis. Auch mit offenen Augen sieht er nichts. Die Gegenwart Gottes, die ihm widerfährt, geschieht unmittelbar, nicht als Gegensatz von Licht und Finsternis. Durch die Wucht ihrer Präsenz kann er nicht mehr auf seinen Beinen stehen und stürzt zu Boden. Blitzartig realisiert er, dass er als Ich nichts ist, dass er keinen eigenen Willen hat, dass er nicht aus sich selbst lebt. Er stirbt den mystischen Tod, hört auf, sich mit sich selbst zu identifizieren und wird Gottes auserwähltes Werkzeug. Ihm widerfährt etwas, das jenseits der Kategorien einer bestimmten Religion geschieht, durch diese bestenfalls angedeutet werden kann, aber als mystisches Ereignis jederzeit und überall stattfinden kann.
Allerdings offenbart sich die Gegenwart Gottes für Saulus im Blitz des Moments auf eindeutige Weise. Jesus, den er verfolgte, wird zu seinem Meister. Dieser wird für ihn zur Momentaufnahme des unfassbaren Wahrscheinlichkeitspakets, das die Gegenwart Gottes ist. Damit zeigt sich ihm einerseits an, dass der Jesus, den er hier und jetzt wahrnimmt, Ausdruck jener umfassenden Gegenwart Gottes ist, die er als Ganzes nicht erfassen kann, in welcher jedoch vom Kleinsten bis zum Grössten alles mit allem verbunden ist. Andererseits realisiert er, dass sich dieses Ganze ihm hier und jetzt genau so zeigt. Jesus wird damit für ihn zum Bild Gottes (2Kor 4,4), auf dessen Angesicht die Herrlichkeit Gottes zu erkennen ist (2Kor 4,6). So unfassbar die Gegenwart Gottes bleibt, in Jesus offenbart sie sich ihm und zeigt ihm, was sie in dem Augenblick für ihn ist. Exklusivität ist damit nicht intendiert, wohl aber eine eindeutige Momentaufnahme des unfassbaren Wahrscheinlichkeitspakets.
Diese Momentaufnahme der Gegenwart Gottes geschieht einzig und allein durch sie selbst. Saulus hat dies als Paulus genau so reflektiert. Für ihn steht ausser Zweifel, dass er ihre Erkenntnis nicht sich selber verdankt, ja dass er als ihr Verfolger alles getan hat, um ihr im Weg zu stehen. Dennoch ist sie ihm widerfahren. Bis in den dritten Himmel hat sie ihn entrückt, während er als alltäglicher Mensch schwach und vergänglich geblieben ist (vgl. 2Kor 12,2-3). Für ihn ist dieses mystische Ereignis ein Ereignis, das bedingungslos, aus reiner Gnade, geschehen ist. Deutlich wird damit, dass die Gegenwart Gottes ihre eigene Freiheit hat. Sie reflektiert sich im Hier und Jetzt, schafft Momentaufnahmen, nimmt Menschen in ihre Selbstreflexion hinein, aber bleibt für sie dennoch unfassbar. Ein Licht vom Himmel kann aufblitzen, den Menschen, dem dies widerfährt, von Kopf bis Fuss durchdringen und ihm ein neues Leben geben. Doch wann und wo dies geschieht, steht nicht in seiner Macht.
Wie könnte die Erleuchtung, die sich am Beispiel von Saulus in prächristlicher Zeit ereignet hat, nicht ebenso in postchristlicher Zeit geschehen? Die Gegenwart Gottes hat ihre eigene Freiheit und Dynamik. Sie erkennt sich selbst und nimmt diese Welt in ihre Selbstreflexion hinein – auf ihre eigene, unfassbare Weise. Die christlichen Kirchen mögen nicht mehr die Macht und Attraktivität haben, die ihnen in den vergangenen Jahrhunderten eigen waren. Der Weg in die Gegenwart Gottes geht dennoch weiter. Das christliche Erbe erinnert daran, und es bleibt eine Ressource, diesen Weg zu verstehen und mit anderen Menschen zu teilen. Beten wir also, dass Menschen auch heute durch das unfassbare, mystische Licht vom Himmel erleuchtet werden und den Mut haben, ihm zu folgen. Amen.
Predigt vom 15. Oktober 2023 in Wabern
Bernhard Neuenschwander