Auf, iss dein Brot mit Freude, und trink deinen Wein mit frohem Herzen; denn längst schon hat Gott dieses Tun gebilligt. Jederzeit seien deine Kleider weiss, und an Öl auf deinem Haupt soll es nicht fehlen. Geniesse das Leben mit einer Frau, die du liebst, all die Tage deines flüchtigen Lebens, die er dir gegeben hat unter der Sonne, all deine flüchtigen Tage. Das ist dein Teil im Leben, bei deiner Mühe und Arbeit unter der Sonne. Was immer du zu tun vermagst, das tu. Denn weder Tun noch Planen, weder Wissen noch Weisheit gibt es im Totenreich, dahin du gehst. Koh 9,7-10
Weshalb ist es bloss so schwierig, die Schönheit des Augenblicks zu leben und klar und ungeteilt im Moment zu sein? Im Glauben wäre dies doch klar: Gott ist mit seiner Güte und Weisheit ständig gegenwärtig. Ob in Freud oder Leid, Erfolg oder Misserfolg, ob im Leben oder Sterben – alles geschieht im Geheimnis der Gegenwart, in allem ist Gott gegenwärtig. Wie könnte also jemand, der dies realisiert, nicht von der Schönheit des Augenblicks erfüllt sein und in der Freude daran, genau bei dem sein, was gerade geschieht!
Offenbar neigen Menschen dazu, dem Geheimnis der Gegenwart mit sich selbst im Weg zu stehen. Auch wenn die Weisheit lehrt, dass Gut und Böse ebenso wie Leben und Sterben zusammengehören und dass die Wirklichkeit ein ständiges Zusammenspiel von Gegensätzen ist, neigen sie zu einer Seite und verdrängen die andere. Statt mit Gelassenheit immer wieder das Gleichgewicht zwischen den Gegensätzen zu suchen, lassen sie sich durcheinanderbringen. So aber wird die Suche nach einem neuen Gleichgewicht zur kaum lösbaren Aufgabe und die Unbefangenheit für den Moment vom eigenen Durcheinander immer mehr verschüttet.
Gegenwärtig zeigt sich dies in der wachsenden Sorge vor dem kommenden Winter. Noch breitet sich der Spätsommer in all seiner Pracht aus. Doch wie lässt sich diese herrliche Zeit ohne Angst vor der Zukunft geniessen? Strom, Gas, Erdöl könnten knapp werden. Der Nachschub von Ersatzteilen und Konsumgütern könnte ins Stocken geraten. Die Preise könnten explodieren. Der Krieg könnte eskalieren. Und dazu könnte Covid zurückkehren. Viel Unerfreuliches könnte geschehen – könnte! Der Sorgen und Ängste sind viele. Doch wo bleibt bei all der Aufregung die Gelassenheit und die Freude an der Schönheit des Augenblicks? Diese sind – bei aller weisen Vorsorge für das, was kommen mag – doch die Stärken des Glaubens! Wer sie verliert, gibt auch seinen Glauben preis.
Die Knappheit der Ressourcen ist ein altes Thema der Menschheit. Damit klar zu kommen, ohne die Freude am Leben zu verlieren, beschäftigt auch Kohelet. Der Prediger des Alten Testaments hat sich vor mehr als 2000 Jahren damit intensiv befasst.
Auf, iss dein Brot mit Freude, und trink deinen Wein mit frohem Herzen; denn längst schon hat Gott dieses Tun gebilligt… Mit diesen Sätzen zeigt Kohelet, zu welcher Einsicht er im Angesicht des memento mori gekommen ist: Auch wenn die Ressourcen des Menschen knapp sind, auch wenn der Mensch über kurz oder lang im Totenreich endet, soll er sich doch an dem freuen, was ihm sein Alltag beschert. Kohelet findet also zu einer Einsicht, die der römische Dichter Horaz viel später mit seinem berühmten carpe diem – pflücke den Tag auf den Punkt gebracht hat. Wie nun zeigt sich dieses Motiv bei Kohelet?
Für Kohelet ist es das Ergebnis einer existentiellen Krise. Diese Krise hatte ihren Grund in der bedrängenden Frage, was der Gewinn all der Mühe ist, die ein Mensch ein Leben lang aufwendet, wenn er schliesslich doch bloss stirbt und vergessen geht. Er litt unter den Widersprüchen der Wirklichkeit, und er verstand, dass alles – Gebären und Sterben, Zerreissen und Nähen, und vieles mehr, sogar Krieg und Frieden – seine Zeit hat. Doch die Frage, was der Gewinn von all der Mühe sei, blieb in ihm dennoch hartnäckig stehen (Koh 3,1-9). Die Erlösung seiner Krise fand er erst, als er einen existentiellen Paradigmenwechsel vollziehen konnte. Als er nämlich sich selbst und seine Frage nach dem Gewinn loslassen konnte, ging ihm plötzlich auf, dass Gott jeden Augenblick mit seiner Schönheit gegenwärtig ist. Er verstand, dass Gott dem Menschen das Geheimnis seiner Gegenwart ins Herz gelegt hat. Durchschreitet ein Mensch den Abgrund seiner Demut, ist Gott mit seiner Güte und Weisheit gegenwärtig und gibt jedem Augenblick seine besondere Schönheit. Diese zu realisieren, brachte Kohelet die Erlösung aus seiner existentiellen Krise (Koh 3,10-15). Mit unserem Predigttext führt er aus, wie diese Erlösung konkret wird.
Verstanden hat er jetzt, sein Brot mit Freude zu essen und seinen Wein mit frohem Herzen zu trinken. Seine Zweifel sind aufgelöst, und er ist in der Lage, sein tägliches Leben mit ungeteilter Aufmerksamkeit zu geniessen. Gott hat es mit der Schönheit seiner Gegenwart längstens gebilligt. Jederzeit, im gewöhnlichen Alltag, soll man zu sich Sorge tragen und sich mit weisser, also sauberer und angenehmer Kleidung sowie mit Öl auf dem Haupt, also Körperpflege, Gutes tun. Eine besondere Freude ist es, das Leben mit einer Frau zu geniessen, die man liebt. Entscheidend ist für Kohelet nicht, dass es immer dieselbe Frau ist, sondern dass die Liebe zu ihr da ist. Das Leben ist ein Hauch (hæbæl), all unsere Tage sind ein Hauch (hæbæl). Deshalb soll die Zeit, die einem gegeben ist, nicht mit Lieblosigkeit, sondern mit Menschen, die man liebt, erfüllt sein. Das ist der Teil, der Freude macht. Vom andern Teil, dem Teil der Mühe und Arbeit, gibt es noch genug unter der Sonne. Bei all dem aber soll man stets Unternehmer im Herzen bleiben und alles, was man zu tun vermag, mit Wissen und Weisheit planen und umsetzen. Denn all das gibt es im Totenreich nicht.
Indem also Kohelet die Schönheit des Augenblicks mitten in allen Widersprüchen und Ambivalenzen des menschlichen Daseins entdeckt, wird er fähig, die Zeit, die ihm gegeben ist, auf bestimmte Weise zu geniessen. Er findet seinen Genuss nicht im Streben nach Luxus und Konsum, sondern in der ungeteilten Präsenz bei dem, was seinen ganz normalen Alltag erfreulich macht: Essen und Trinken, Kleidung und Körperpflege, Nähe zu einem geliebten Menschen und kluges, unternehmerisches Handeln. Genau in diesen Dingen kommt im menschlichen Dasein – auch wenn es nichts als ein Hauch (hæbæl) ist – die Schönheit der Gegenwart Gottes zum Leuchten, in ihnen lebt er seine Erlösung.
Auf, iss dein Brot mit Freude, und trink deinen Wein mit frohem Herzen; denn längst schon hat Gott dieses Tun gebilligt… Was gibt uns diese Einsicht Kohelets heute, an diesem schönen Spätsommertag, zu denken? Ist sie auch für uns plausibel?
Zunächst müssen wir uns den Ansatz in Erinnerung rufen, auf dem Kohelets Lebensweisheit ruht: die Gegenwart Gottes, die jedem Augenblick ihre eigene Schönheit gibt. Sind wir klar in der Gegenwart Gottes verankert, halten wir die Gegensätze des Alltags, ja selbst den Gegensatz von Leben und Sterben in unseren Händen, doch wir bleiben mitten darin aufrecht und frei. Wir wissen, dass wir dieses nicht ohne jenes haben können, und wir wenden uns dem einen ebenso zu wie dem andern – jedem zu seiner Zeit und ohne unsere Mitte zu verlieren. Dies setzt voraus, dass wir uns lassen, dass wir den Abgrund der Demut durchschreiten und dass wir unsere Zeit aus Gottes Händen nehmen. Damit aber entdecken wir in allem – im Erfreulichen ebenso wie im Unerfreulichen, im Guten ebenso wie im Bösen – die Güte und Weisheit der Gegenwart Gottes. Wir freuen uns am Glanz von deren Schönheit, und wir lassen uns von den konkreten Umständen nicht verführen. Erst auf dieser Grundlage können wir die Weisheit verstehen, die in Kohelet Aufforderung zum Geniessen steckt.
Dieser Ansatz öffnet unsere Augen für das Schöne im Alltag. Sind wir in der Gegenwart Gottes verankert, fliesst die Güte und Weisheit Gottes durch unseren Körper, sie nähren unsere Seele, und wir leben den Segen, der darin steckt. Leben wir aus dieser Lebensfülle, löst sich unser Gier nach immer mehr auf. Wir sind nicht davon getrieben, uns zu nehmen, was unsere Defizite füllen könnte, sondern wir sind dazu erlöst, von der Fülle zu geben, welche unser Dasein durchströmt. Weshalb sollten wir also unser Glück jenseits unseres Alltags suchen? Bietet nicht der Alltag genug, um uns zu freuen? Wenn wir zu Essen haben und dazu ein gutes Glas Wein? Wenn uns zur Verfügung steht, was unserem Körper guttut? Wenn wir die Nähe zu einem geliebten Menschen teilen können? Wenn wir mit der Kraft zu wohlüberlegtem Handeln gesegnet sind? In all dem doch steckt viel Lebensfreude. Was sollten wir uns also grämen, wenn wir zuweilen mit den einen oder andern Schwierigkeiten konfrontiert sind! Wir nehmen das eine wie das andere, doch wir sehen das halb volle und nicht das halb leere Glas.
Diese Lebenshaltung verdankt ihr Glück der Präsenz, ohne Wenn und Aber bei dem zu sein, was hier und jetzt ist. Dies mag zwar abgeklärt klingen, gar sehr unaufgeregt und vernünftig. Doch bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass in ihr eine ihr ganz eigene, ganz besondere Frische und Unmittelbarkeit steckt. Zuweilen sieht das Neue sehr schnell alt aus, zuweilen ist der letzte Schrei schon bei seinem ersten Auftritt veraltet. Demgegenüber verdankt sich die Lebensfreude, die uns Kohelet nahebringen will, der unbefangenen Präsenz im Moment. Diese Präsenz wird nie alt, sondern sprudelt jeden Moment frisch und neu. Sie ist kein Gut, das wir haben und über das wir verfügen können. Wir können für sie bloss dankbar sein, wir können dafür sorgen, ihr nicht im Weg zu stehen, und wir können uns freuen, dass sie bedingungslos in uns fliessen will – wie in einem Kind, das sich ganz seinem Spiel ergibt. In dieser bedingungslosen Präsenz und Spielfreude steckt eine Weisheit, die nie alt, aber jeden Moment neu geboren wird.
Uns mag heute der kommende Winter zu denken geben. Wir mögen dunkle Wolken am Horizont sehen und uns Sorgen und Ängste machen. Demgegenüber ermahnt uns die Weisheit, die uns Kohelet in Erinnerung ruft, also die Weisheit der Gegenwart Gottes, die Schönheit des Augenblicks nicht aus den Augen zu verlieren und ungeteilt bei dem zu sein, was uns unser Alltag bietet. Beten wir deshalb, dass wir in der Gegenwart Gottes frei werden und dass wir unseren Alltag in dieser Freiheit geniessen können. Amen.
Predigt vom 28. August 2022 in Wabern
Bernhard Neuenschwander