Prudence

Prudence

Als dann aber Gallio Prokonsul der Provinz Achaia war, traten die Juden vereint gegen Paulus auf, führten ihn vor den Richterstuhl und sagten: Der da überredet die Leute, Gott auf eine Art zu verehren, die wider das Gesetz ist. Als Paulus seinen Mund auftun wollte, sprach Gallio zu den Juden: Ginge es hier um ein Verbrechen oder um eine böswillige Tat, ihr Juden, so würde ich eure Klage ordnungsgemäss zulassen. Geht es aber um Streitigkeiten über Lehre und Namen und das bei euch geltende Gesetz, dann seht selber zu! Darüber will ich nicht Richter sein. Und er wies sie vom Richterstuhl weg. Da stürzten sich alle auf den Synagogenvorsteher Sosthenes und verprügelten ihn vor dem Richterstuhl. Gallio aber kümmerte sich nicht darum. Apg 18,12-17

Der heutige Bettag ist eine wunderbare Gelegenheit, innezuhalten und sich auf die Gegenwart Gottes zu besinnen. Jeden Moment ist Gott gegenwärtig, jeden Moment offenbart sich seine Liebe und Weisheit, jeden Moment lässt sich daraus schöpfen. Gottes Gegenwart ist das Geheimnis der Zeit. Sie schafft jene Verbindlichkeit, die den Moment durchdringt, seit es dieses Universum gibt und solange es bestehen bleibt: die Verbindlichkeit des Augenblicks. Ihr kann sich nichts, was in der Zeit geschieht, entziehen. Sie geschieht völlig natürlich, aus sich selbst, bedingungslos, aus purer Gnade, in jedem Hier und Jetzt. Nichts kann sie beseitigen, nichts kann sie stören, nichts kann sie hervorrufen. Die Verbindlichkeit der Gegenwart Gottes ist der Puls jedes Augenblicks. Sich darauf einzulassen und darin sich selbst zu werden, schafft jene Besonnenheit, die dem Glauben eigen ist.

Besonnenheit ist in dieser postchristlichen, hyperaufgeregten Zeit ein rares Gut geworden. Doch es gibt auch Zeiten, in denen sie hochgehalten worden ist. Bei Plato heisst sie σωφροσύνη und bezeichnet eine der vier Kardinaltugenden. Auch Aristoteles und die Stoa lieben sie. Für den epikureisch geprägten, römischen Schriftsteller Horaz ist sie Ausdruck von Mitte und Mass. Er spricht deshalb von der aurea mediocritas, der goldenen Mittelmässigkeit. Die alttestamentliche Weisheit beschreibt sie bildhaft: «Sei still vor JHWH und harre auf ihn. Erhitze dich nicht über den, dessen Weg gelingt, und nicht über den, der Ränke schmiedet» (Ps 37,7; vgl. Spr 2,11; 17,27; 19,11 u.ö.). Oder: «Besser eine Hand voll Ruhe als beide Hände voll Mühe und Greifen nach Wind» (Pred 4,6). Auch die Paulus- (Röm 12,3) und Pastoralbriefe (1Tim 2,9.15; 2Tim 1,7; Tit 2,12) schätzen sie. Die mittelalterliche Theologie lobt die temperantia als Tugend des Masshaltens und der Selbstbeherrschung, um ein ausgewogenes und vernünftiges Leben zu führen. An Wertschätzung aus früheren Zeiten fehlt es ihr also gewiss nicht. Doch wie steht es heute mit der Besonnenheit? Von Besinnlichkeit, Innehalten, Entschleunigung ist oft die Rede. Was aber könnte Besonnenheit in dieser postchristlichen Zeit sein?

Unser Predigttext benutzt das Wort nicht, aber er erzählt eine Geschichte, in welcher Besonnenheit im Spiel ist. Wie also zeigt sie sich in diesem Beispiel?

Es handelt von einer dramatischen Episode, in welcher Paulus durch Besonnenheit auffällt. Auf seiner zweiten grossen Reise, die ihn über Makedonien nach Griechenland führt, kommt er ins kulturell bunt gemischte und religiös tolerante Korinth. Er arbeitet mindestens in der Anfangszeit als Zeltmacher in der Sattlerei von Aquila und Priscilla, kümmert sich dann aber voll und ganz um seine Mission für die bedingungslose Gegenwart Gottes. Wie bisher versucht er seine Botschaft auch in Korinth an der Synagoge anzuknüpfen. Doch auch hier führt sein Engagement zum Konflikt zwischen traditionell orientierten Juden und solchen, die auf seine Botschaft ansprechen. Es kommt zum Bruch mit der Synagoge. Die junge christliche Gemeinde wird damit zu ihrer direkten Konkurrentin. Schliesslich wird der Konflikt noch dadurch verschärft, dass sich der Synagogenvorsteher Crispus samt seiner ganzen Familie dem von Paulus verkündeten Glauben anschliesst und sich taufen lässt. In dieser spannungsgeladenen Situation hat Paulus eine Vision. Ihm erscheint der Auferstandene und stärkt sein Selbst. Paulus versteht, dass er sich nicht fürchten muss und dass er seine Mission fortsetzen soll. Denn der Auferstandene ist in seinem Selbst gegenwärtig, schützt ihn vor Übergriffen und vor Bösem und macht ihm klar, dass viel Unterstützung vor Ort vorhanden ist. Dies verstanden zu haben, zeichnet jene Besonnenheit aus, die Paulus fortan in Korinth unter Beweis stellt. Er bleibt eineinhalb Jahre dort und lehrt das Wort Gottes (Apg 18,1-11).

An dieser Stelle im Bericht des Lukas setzt unser Predigttext ein und illustriert beispielhaft, wie sich die Besonnenheit von Paulus manifestiert. Als nämlich Gallio Prokonsul der Provinz Achaia wird, wittern die Anhänger der Synagoge ihre Chance (V12). Gallio ist aus römischen Quellen gut bekannt. Er ist Adoptivsohn eines reichen Römers und hat eine für römische Verhältnisse klassische Ämterlaufbahn hinter sich. Sein jüngerer Bruder ist Seneca, der bekannte Philosoph und Erzieher des römischen Kaisers Neros. Vom Frühsommer 51 bis im Frühjahr 52 amtet er als Prokonsul von Achaia. Zum Zusammenstoss mit der Synagoge dürfte es schon bald nach seinem Amtsantritt gekommen sein. Ausgelöst wird er dadurch, dass die Juden vor Ort vereint gegen Paulus auftreten und ihn vor den Richterstuhl des Gallio bringen. Ihre Anklage bleibt im Bericht des Lukas diffus (V13). Sie behaupten, Paulus überrede die Leute, Gott auf eine Art zu verehren, die wider das Gesetz sei. Gemeint ist damit wohl Ähnliches wie in Philippi, nämlich dass Paulus öffentliche Unruhe verursache und damit gegen die staatliche Gesetzgebung verstosse (vgl. Apg 16,20). Sie erwarten, dass Gallio damit zum Eingreifen gezwungen ist.

Gallio aber sieht die Sache anders (V14-16). Schon ist Paulus bereit, sich zu erklären. Doch als er seien Mund öffnen will, wendet sich Gallio den Juden zu und macht ihnen klar, dass er den Konflikt durchschaut. Zunächst weist er auf die gesetzliche Grundlage hin. Ginge es um ein Verbrechen oder um eine böswillige Tat, wäre er bereit, die Klage ordnungsgemäss zuzulassen, geht es jedoch um Streitigkeiten über Lehre und Namen und das bei ihnen geltende Gesetz, dann sollen sie selbst zusehen. Da für ihn offensichtlich ist, dass letzteres der Fall ist, weist er sie vom Richterstuhl weg. Die Anklage scheitert also, ohne dass Paulus einen Finger rühren muss. Die römischen Behörden erweisen sich ganz im Sinne des Lukas einmal mehr unwissentlich als Schutzmacht des Paulus. Seine Besonnenheit bewährt sich. Weniger besonnen zeichnet Lukas hingegen jene Juden, die soeben ihre Anklage verloren haben (V17). Sie alle stürzen sich nämlich auf den Synagogenvorsteher Sosthenes, der sie nicht zu ihrer Zufriedenheit vertreten hat, und verprügeln ihn vor dem Richterstuhl. Lapidar hält Lukas fest, dass sich Gallio nicht darum kümmert.

Die Fortsetzung erzählt, dass Paulus zwar noch einige Tage in Korinth bleibt, dann aber weiterreist (Apg 18,18). Lukas will offenbar deutlich machen, dass Paulus nach wie vor dank der Gegenwart des Auferstandenen in seinem Selbst verankert ist, deshalb besonnen bleibt und weder aus Angst flüchtet noch den Konflikt durch seine Anwesenheit weiter anheizt.

Dieser Predigttext zum Bettag ermutigt uns dazu über Besonnenheit nachzudenken. Was könnte Besonnenheit heute sein, wenn wir uns an dieser Vorlage orientieren?

Zunächst ist der Ansatz zu beachten. Besonnenheit, wie sie hier im Spiel ist, ist keine innere Haltung, die ich als Mensch einnehmen kann, keine Tugend, die ich zu üben angehalten bin, kein Werk, das zu vollbringen ich als Mensch anstreben soll. Sie ist vielmehr eine Frucht des Glaubens. Lukas macht klar, was dies heisst: Indem der Auferstandene Paulus gegenwärtig ist, aktiviert er sein nichtduales Selbst und stärkt ihn, zu tun und zu lassen, was er in der Gegenwart Gottes ist. Doch dies ist kein theoretisches Prinzip, sondern etwas Existentielles, das sich im Hier und Jetzt zeigt. Deshalb erzählt Lukas seine Geschichte und schreibt kein philosophisches Traktat. Die Grundlage, um die es ihm geht, ist nicht das menschliche Ich, das durch moralische Bildung zum besonnenen Handeln angehalten werden soll. Im Zentrum steht vielmehr das Ankommen in und Agieren aus der Gegenwart Gottes. Diese Präsenz sticht die Moral, befreit zu sich selbst und macht wach, um wahrzunehmen und zu tun, was hier und jetzt nottut. Die Besonnenheit des Glaubens ist kein Konzept, das umzusetzen ist, sie ist ein Zeichen der Gegenwart Gottes. Mache ich mich mit dieser vertraut, mag sie wachsen und stärker werden, doch sie ist nicht eine Kompetenz, über die ich verfüge, sondern muss sich in jedem Augenblick neu bewähren.

So verstandene Besonnenheit zeichnet sich durch zwei scheinbar widersprüchliche Aspekte aus. Da ist zum einen die Bereitschaft, aktiv in das Hier und Jetzt einzugreifen. Die Besonnenheit des Glaubens ist weder untätig, noch gleichgültig, noch unberührbar. Sie ist vielmehr von der Kraft des Auferstandenen beseelt, voll und ganz im Selbst des Menschen verankert, frei und souverän zwischen den Gegensätzen und unmittelbar gegenwärtig im Moment. Unser Predigttext illustriert es. Paulus wird von einer wütenden Anzahl von Menschen vor den Richterstuhl des Gallio gezerrt. Doch er lässt sich davon nicht einschüchtern oder zum Verstummen bringen. Er ist vielmehr bereit, zu reden und für sich einzustehen. Die Besonnenheit des Glaubens ist nicht befangen von Angst und Sorge um das eigene Ich, sondern befreit zur Liebe und Weisheit der Gegenwart Gottes. Besinne ich mich auf sie, flüchte und verstecke ich mich nicht vor dem Hier und Jetzt, sondern ich halt ihm stand und bin bereit, mich zu exponieren.

Das ist das eine. Das andere aber ist, dass die Besonnenheit des Glaubens auch davon befreit, handeln zu müssen. Sie weiss zwar um ihre Stärke, und sie kennt ihre Möglichkeiten, hier und jetzt eingreifen zu können, doch noch viel mehr kann sie all dies loslassen und auf eine Intervention verzichten. Als Gallio die Leitung der Verhandlung übernimmt, ist Paulus sogleich bereit, sich zurückzuhalten und den Dingen ihren Lauf zu lassen. Er versteht, dass genügt, unaufgeregt mit dem Flow zu gehen, und dass er nicht versuchen soll, die Führung zu übernehmen und die Kontrolle zu gewinnen. Das Vorgehen bewährt sich, das Problem löst sich ohne sein Zutun. Er bleibt aber auch handlungsfähig und erkennt, wann der Moment für seine Weiterreise gekommen ist. Die Besonnenheit, welche in der Gegenwart Gottes entsteht, schafft ein waches Nicht-Tun, eine Präsenz, die aktiv agieren, aber noch viel mehr das Ergebnis kommen lassen kann. Bin ich in dieser Besonnenheit, weiss ich um meine eigene Endlichkeit, Fragilität und Begrenztheit, aber ich bleibe im Vertrauen, dass Gott jeden Moment gegenwärtig bleibt. Das Ergebnis des Spiels ist stets offen, aber ich behalte die Geduld und bleibe engagiert, auch wenn ich das Spiel nicht kontrollieren kann. Die Besonnenheit des Glaubens bleibt so auch in der Schwäche eine Stärke.

Solche Besonnenheit setzt in unserer postchristlichen Zeit einen Kontrapunkt. Sie bewirtschaftet weder die Dauererregung noch setzt sie auf Emotionalisierung von Sachthemen. Ihre Bilanz in der Aufmerksamkeitsökonomie mag daher auf den ersten Blick bescheiden ausfallen. Doch wer den Lärm politischer Shows und hysterischen Aktivismus überdrüssig ist, kann sie auf einmal für sich entdecken und sich dankbar auf sie besinnen. Beten wir deshalb, dass wir die Besonnenheit des Glaubens finden und verstehen lernen, was wir zu tun und zu lassen haben. Amen.

Predigt vom 21. September 2025 in Wabern
Bernhard Neuenschwander

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