Die aber, welche Christus Jesus angehören, haben ihr Fleisch samt seinen
Leidenschaften und Begierden gekreuzigt.
Gal 5,24
Liebe Gemeinde
Die aber, welche Christus Jesus angehören, haben ihr Fleisch samt seinen
Leidenschaften und Begierden gekreuzigt. Entgegen dem ersten Eindruck ist dieser
Gedanke von Paulus Anlass zu Heiterkeit und Gelassenheit. Er ist in seinem Kern
weder Vorwurf noch Kritik, weder Ermahnung noch Druck, sondern Ausdruck der
Freiheit, zu der wir, wie Paulus ein paar Verse früher (V13) festhält, berufen sind. Vor
diesem Hintergrund müssen wir ihn also hören und die freie Heiterkeit suchen, die in
ihm verborgen liegt.
Ich weiss ja schon: in unseren Ohren klingt der Satz, dass das Fleisch samt seinen
Leidenschaften und Begierden gekreuzigt sei, erschreckend oder komisch.
Erschreckend, wenn wir in unserem Leben viel lustfeindliche Moral zu hören
bekommen haben; wenn uns von klein auf eingeimpft wurde, dass Lust und
Leidenschaft und Begierden für einen glaubenden und anständigen Menschen (das
war dann wohl mehr oder weniger das gleiche) verboten sind und man, wenn man
entsprechende Regungen im eigenen Körper spürt, automatisch schuldig bzw.
sündig ist. Wer so erzogen wurde, kann beim Hören eines solchen Satzes fast nur
erschrocken zusammenfahren und weil er befürchten muss, mit eigener Schuld
konfrontiert zu werden.
Allerdings kann heute ein solcher Satz auch schon komisch wirken. Vor allem
in Ohren von Menschen, die sich von den engen Fesseln der Moral emanzipiert
haben und längstens akzeptieren, dass Lust und Leidenschaft zum Menschen
gehören, und Begierden genauso wie der Hunger im biologischen Code des
Menschen verankert sind, dort eine Funktion im Überleben unserer Spezies haben
und eine Beseitigung derartiger Bedürfnisse nicht nur unmöglich, sondern vor allem
auch unerwünscht ist. Der Satz von der Kreuzigung des Fleisches samt seinen
Leidenschaften und Begierden ist dann ein „schönes“ Beispiel antiquierter und
einigermassen abstruser Moralität, das zeigt, dass man sich von Paulus in Sachen
Moral mit gutem Gewissen und endgültig verabschieden kann.
Es liegt mir ferne, die paulinischen Formulierungen zu verteidigen. Diese sind heute
so missverständlich, dass man sie kaum mehr benutzen kann. In der Sache jedoch
steckt einiges, das der näheren Betrachtung lohnt. Gerade auch, weil das Thema
aktueller denn je ist. Ich meine das Thema Modellierung von Emotionen.
Je mehr man sich bewusst ist, dass Gefühle nicht einfach gegeben sind, sondern
ihre Ursachen haben, desto mehr kann man an diesen Ursachen herumzuschrauben
versuchen und danach fragen, was man tun muss, um erwünschte Gefühle zu
generieren und unerwünschte zu verhindern. Natürlich ist dies eine klassische Frage
der Psychotherapie, aber mit dem enormen Aufschwung der Gehirnforschung in den
letzten paar Jahren wird nicht nur immer deutlicher, wie Gefühle im Gehirn entstehen
und verändert werden können, sondern es erheben sich auch die schwierigen
ethischen Fragen, nach welchen Massstäben Emotionen modelliert werden sollen.
Sollen etwa destruktive Gefühle beseitigt und nur konstruktive Gefühle aufgebaut
werden ? Was aber sind genau destruktive, und was sind genau konstruktive
Gefühle ? Und wer hat die Macht dies zu definieren ? Oder hängt die Beantwortung
der Frage einfach davon ab, welche Position ein Mensch in der Gesellschaft hat ? ZB
dass der Herrschende bei Bedarf Zorn und Wut haben können soll, um sich leichter
durchsetzen zu können, der Untergebene jedoch nicht und statt dessen vor allem
Bescheidenheit und Unterwürfigkeit ? Und wer soll über diese Möglichkeiten der
emotionalen Modellierung verfügen können ? Hängt dies vor allem davon ab, wer
das Geld dazu hat ? Viele Fragen stellen sich hier, auch wenn ich sie hier nicht zu
reflektieren beabsichtige. Aber sie signalisieren den Kontext, in welchem unser Satz
von Paulus topaktuell ist.
Die aber, welche Christus Jesus angehören, haben ihr Fleisch samt seinen
Leidenschaften und Begierden gekreuzigt. Für Paulus ist der Ausgangspunkt des
Gedankens, dass das Fleisch gekreuzigt sei, Christus Jesus anzugehören. Davon
hat er in seinem Brief an die Galater bereits mehrfach gesprochen. Glauben nämlich
ist für Paulus ein Akt, in welchem man mit Christus mitgekreuzigt wird (Gal 2,19). Es
ist dies nicht etwas, das man wollen oder nichtwollen kann, sondern es ist für Paulus
eine Tatsache: Wer an Christus glaubt, dessen Ich ist – wie er im Römerbrief (6,5)
schreibt – mit dem Gekreuzigten verwachsen und hört auf, Zentrum bzw.
Steuerungsinstanz des Menschen zu sein. Was statt dessen geschieht, ist, dass der
Glaubende nicht mehr als Ich lebt, sondern dass Christus in ihm lebt (Gal 2,20).
Wenn also ein Mensch glaubend in den Gekreuzigten hineinstirbt, beginnt in ihm
dasjenige zu leben, was Christus zu Christus macht, nämlich Gott. So wie eine
innere Sanduhr in unserem Körper allmählich leer wird, so leert sich durch das
Mitgekreuzigtsein in uns unser Ich, und schafft Raum und Zeit für die Stille Gottes.
Es ist nicht so, dass diese Stille mit etwas aufgefüllt wird. Es ist vielmehr so, dass
Gott im Leerraum gegenwärtig ist, in den Lücken und Ritzen zwischen den
Gedanken, zwischen den Zeiten, zwischen mir und mir… zwischen mir und Euch.
Wo dies geschieht, ist unser Fleisch samt unseren Leidenschaften und Begierden
gekreuzigt. Wir werden still und ruhig. Wir wissen, dass wir nichts tun können, das
uns nicht gegeben ist und dass es unsinnig ist, gegen das Schicksal zu kämpfen. Es
ist ein Akzeptieren der Dinge, wie sie sind, ein In-Frieden-kommen mit der Realität,
ein Gefühl des Aufgehoben- und Geborgenseins im Universum. Allerdings ist es
nicht ein Gefühl wie eines der vielen Gefühle, die kommen und gehen. Es ist ein
elementares Wissen, eine innere Überzeugung, ein unumstössliche Gewissheit, eine
weisse Zentralachse unseres Bewusstseins, die sich gut anfühlt und mit Gefühlen
wie Liebe, Heiterkeit, Gelassenheit umschrieben werden könnte. Es ist eben das,
was Paulus mit dem Glauben meint, dass nicht mehr das Ich lebt, sondern dass
Christus im Ich lebt (Gal 2,20) und dass – so schreibt er ein paar Verse vor unserem
Predigtvers – als Früchte des Geistes Gefühle wie Liebe, Freude, Geduld,
Enthaltsamkeit (Gal 6,21f) entstehen und Gefühle des Fleisches bzw. der
egoistischen Selbstbestätigung, wie sie sich in Streit, Neid, Parteiungen (Gal 6,19f)
zeigen, aufgelöst werden. Wo das Ich des Menschen zu verstummen beginnt und für
Gott Raum und Zeit entsteht, da sein zu können, da treten die Leidenschaften und
Begierden ganz offensichtlich zurück, und es entfaltet sich eine heitere Zärtlichkeit,
die in Gott verankert ist und sich weder durch angenehme noch durch unangenehme
Emotionen überschwemmen lässt, sondern den Menschen nach und nach von innen
heraus formt und gestaltet.
Die aber, welche Christus Jesus angehören, haben ihr Fleisch samt seinen
Leidenschaften und Begierden gekreuzigt. So eigenartig dieser Satz in unseren
Ohren klingt, seine grosse Bedeutung steckt in der Einsicht, dass der Glaube, so wie
ihn Paulus versteht, sehr bedeutsam für die Modellierung unserer Emotionen ist.
Allerdings – und dies muss man sehr beachten – geschieht dies gleichsam
automatisch. Es ist nicht so, dass sich der Glaubende Mühe geben soll, die
wünschbaren Gefühle zu stärken und die unerwünschten zu verdrängen. Das wäre
völlig an der Logik des Glaubens vorbeigetan. Es ist unnötig und sogar
kontraproduktiv, wenn sich der Glaubende mit seinem Ich darum bemüht, anderes zu
fühlen als das, was er fühlt. Die Modellierung der Emotionen ist nicht eine Sache des
Ichs, sondern eine Sache des Glaubens. Das Ich muss durch den Glauben gerade
mitgekreuzigt, zerlegt und schliesslich aufgelöst werden. Es muss aufhören, das
Zepter des emotionalen Management zu schwingen und seine Position statt dessen
Gott bzw. dem Heiligen Geist überlassen. Nur so beginnen die Früchte des Geistes
bzw. die Gefühle, die diesem eigen sind, zu wachsen und die Werke des Fleisches
bzw. die Gefühle, die diese verursachen, zu vergehen. Die Modellierung der
Emotionen, die durch den Geist geschieht, ist fern von allem Zwang zu
Künstlichkeiten, geheuchelten Nettigkeiten und Scheinheiligkeiten, aber umso
geduldiger für das Verwehen von Leidenschaften und Begierden und das Entstehen
fundierter Liebe und heiterer Zärtlichkeit.
Ist es noch nötig, darauf hinzuweisen, dass Emotionen, die auf diese Weise durch
den Glauben modelliert sind, ihre eigene Art von Tun schaffen ? Es wird ein Tun
sein, das von einer heiteren Gelassenheit unterlegt ist, sich in Sorgsamkeit zeigt und
dem Leben mit Zärtlichkeit begegnet. Es tut dies nicht blauäugig oder blind
gegenüber dem Leiden und dem Bösen. Zu sehr hat es dieses durch das
Mitgekreuzigt werden erlebt, in sich aufgenommen und durchlebt, als dass es davon
Abstriche machen könnte oder wollte. Aber es weiss um die Freiheit, die grösser ist
als die Not; es kennt die Gelassenheit, die stärker ist als Leidenschaften und
Begierden; und es spürt die Heiterkeit, die tiefer ist als die Verzweiflung. Der Glaube
an den Gekreuzigten ist es also, – und damit will ich meine Predigtreihe zu den
paulinischen Kreuzestexten abschliessen – der uns die Freiheit gibt, in all den Leiden
und Freuden, die uns das Leben bereit hält, heiter und gelassen zu sein. Beten wir
deshalb, dass wir im Glauben an den Gekreuzigten gestärkt werden, auf dass die
Güte Gottes in uns wachse und in unser Leben ausstrahle. Amen.
Predigt vom 26. März 2006 in Wabern
Bernhard Neuenschwander