In meinem ersten Buch, lieber Theophilus, habe ich berichtet über alles, was Jesus zu tun und zu lehren begonnen hat, bis zu dem Tag, da er seinen Aposteln, die er erwählt hatte, durch den heiligen Geist seine Weisung gab und in den Himmel aufgenommen wurde. Ihnen hat er nach seinem Leiden auf vielfache Weise bewiesen, dass er lebt: Während vierzig Tagen hat er sich ihnen immer wieder gezeigt und vom Reich Gottes gesprochen. Apg 1,1-3
Übergänge wollen dokumentiert sein. Wer Veränderungen nachvollziehen will, möchte die einzelnen Schritte kennen, in denen sie stattfinden. Kennt man diese, steht man nicht plötzlich verständnislos vor einer neuen, unbekannten Situation, sondern kann den Weg rekapitulieren, der zu dieser geführt hat, und begreifen, wie das Ergebnis zustande gekommen ist. Deshalb kann es hilfreich sein, selber eine entsprechende Dokumentation zu erstellen oder Zugriff zu haben auf eine, die von anderen angefertigt worden ist. Dies erleichtert die Integration der Veränderung in das eigene Leben und die Bereitschaft, sich auf die veränderte Situation einzulassen.
In der modernen, beschleunigten Zeit überstürzen sich die Veränderungen, und diese werden durch die heute zur Verfügung stehenden Medien aus unzähligen Perspektiven dokumentiert, kommentiert und ausgewertet. Eine Fülle von Informationen beschreibt eine Fülle von Veränderungen und die Kombination beider schafft eine exponentiell wachsende Flut an Komplexität, die nicht mehr zu überschauen ist. Verloren geht auf diese Weise eine von allen geteilte Öffentlichkeit. An ihre Stelle treten Filterblasen, in denen man sich seine subjektive Welt konstruiert. Mit Menschen, die zu dieser Blase gehören, teilt man seine Welt, doch der Blick für ein Ganzes ist verschwunden – enttarnt als Illusion einer früheren Zeit, die noch glaubte, das Ganze sehen zu können und dabei doch nur die dominanten Strukturen reproduzierte. Ein Leben in permanenten Übergängen ist heute Standard geworden.
Geblieben ist indes die Frage, wo ich als Mensch bin, wenn ich mich ständig in Übergängen befinde. Geprägt von meiner Vergangenheit und ausgerichtet auf meine Zukunft, hechle ich meiner Zeit hinterher. Ich versuche das Flugzeug, das mich in das Kommende bringt, zu erwischen, doch das Gepäck, das ich mitschleppe, steht mir im Weg. Ich müsste sortieren, was ich mitnehmen und was ich zurücklassen möchte, klären, wohin ich fliege und herausfinden, wozu ich überhaupt tue, was ich tue. Doch dazu brauche ich einen ruhigen Moment – einen Moment, um mir die Übergänge bewusst zu machen, in denen ich mich befinde, einen Moment, um mich zu orientieren, einen Moment, um mir klar zu machen, wo ich eigentlich bin.
Unser Predigttext illustriert einen solchen Moment der Orientierung. Er markiert den Beginn einer neuen Phase, mit der ein neues Buch aufgeschlagen wird. Der Autor bleibt indes derselbe. Die Tradition nennt ihn Lukas. Dieser Lukas hat zu Beginn seines Evangeliums festgehalten, dass auch er aufgrund von Dokumentationen anderer und nach eigenen, sorgfältigen Recherchen aufgeschrieben habe, was «unter uns geschehen und in Erfüllung gegangen» sei. Er habe dies getan, um einem, wie er ihn nennt, «verehrten Theophilus» die Zuverlässigkeit der Lehren aufzuzeigen, in denen er unterrichtet worden sei (Lk 1,1-4). Auf dieses «erste Buch» nimmt er in unserem Predigttext ausdrücklich Bezug. Zu Beginn seines zweiten Buchs richtet er sich wiederum an den «lieben Theophilus», wie er ihn jetzt nennt. Doch sein Thema ist zunächst der Übergang vom ersten zu seinem zweiten Buch.
Lukas rekapituliert zunächst, worüber er in seinem ersten Buch geschrieben hat. Er habe berichtet über alles, was Jesus zu tun und zu lehren begonnen habe. Um Jesus sei es ihm also gegangen. Ganz selbstverständlich setzt er voraus, dass diese Figur nun bekannt sei. Deshalb verzichtet er darauf, sie näher zu bestimmen. Stattdessen hält er fest, dass er den Anfang ihrer Taten und Lehre dokumentiere. Für ihn ist klar, dass es sich lediglich um den Anfang handelt. Die Geschichte der Taten und Lehre Jesu geht noch weiter. Lukas erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, sondern signalisiert vielmehr Offenheit für weitere Informationen. Wie zu Beginn seines ersten Buchs stellt er sich allerdings als Historiker dar, der sich an das Beschreibbare hält: die Taten und Lehren. Theologische Reflexionen über diesen Jesus stehen für ihn nicht im Vordergrund. Wie er am Anfang seines ersten Werks ebenfalls festgehalten hat, hält er sich an Berichte von Augenzeugen und Diener des Wortes (Lk 1,2). Seine Quellen sind also Worte von Menschen, die aufgrund eigener Anschauungen erzählt haben. Sein erstes Buch hat deshalb die Ereignisse bis zur Himmelfahrt Jesu erzählt. Die Zeit Jesu endet für ihn nicht bei dessen Tod, sondern dauert bis zu jenem Augenblick, in welchem er als Auferstandener den Blicken der Augenzeugen entschwindet. Erst dann beginnt für Lukas die neue Zeit.
Dennoch überlappen sich diese Zeiten. Denn Jesus hat Apostel erwählt, und diesen Aposteln hat er bis zu seiner Himmelfahrt Weisungen gegeben. Sie sind als Augenzeugen seine Referenzpersonen, auf deren Erzählung er sich abstützt. Eine Überlappung der Zeiten geschieht indes noch auf anderer Ebene. Jesus hat die Apostel nämlich durch den Heiligen Geist unterwiesen. Bereits in seinem ersten Buch erzählt Lukas, dass Jesus als 12-Jähriger im Tempel lehrte und dass er an Weisheit, Alter und Gnade bei Gott zunahm (Lk 2,41-52). Weiter erzählt er, dass der Heilige Geist bei der Taufe in Gestalt einer Taube auf Jesus herabschwebte, dass er, erfüllt von Heiligem Geist, in der Wüste vom Teufel versucht wurde (Lk 4,1), dass er nach überstandener Prüfung aber Kraft des Heiligen Geistes nach Galiläa zurückkehrte, in Synagogen zu lehren begann (Lk 4,14f) und dass die Kraft des Herrn bewirkte, dass er heilen konnte (Lk 5,17). Von eben dieser Geistkraft erzählt Lukas, dass sie bereits in David wirkte (Apg 1,16) und dass sie, als die Zeit erfüllt und der Tag von Pfingsten gekommen war, vom Himmel her das ganze Haus erfüllte und sich auf die anwesenden Menschen verteilte (Apg 2,14). Lukas stellt also heraus, dass es ein und derselbe Heilige Geist ist, der in David und in Jesus gewirkt hat, nach dessen Himmelfahrt weiterhin in der Welt gegenwärtig ist und ein Haus samt den Menschen darin erfüllt.
Nach diesen einleitenden Worten gleitet er in sein neues Buch und rekapituliert die Beweise, die Jesus seinen Aposteln gegeben hat (V3). Im Vordergrund steht für ihn jetzt indes nicht das Leben Jesu bis zu dessen Tod. Ihn interessiert vielmehr, dass Jesus nach seinem Leiden bewiesen habe, dass er lebe. Nicht Leiden und Tod stehen also im Fokus, sondern deren Überwindung durch die Lebendigkeit von Gottes Gegenwart. Während vierzig Tagen habe sich Jesus nämlich seinen Aposteln immer wieder gezeigt. In seinem ersten Buch erzählt Lukas, dass Jesus vor seinem ersten öffentlichen Auftreten während vierzig Tagen in der Wüste vom Teufel auf die Probe gestellt worden sei (Lk 4,2). Dann habe der Teufel von ihm abgelassen (Lk 4,13), bis er zu Beginn der Passionsgeschichte in Judas eingefahren sei, der ihn verraten sollte (Lk 22,3). Wenn sich Jesus seinen Aposteln als Auferstandener also ebenfalls vierzig Tage zeigt, so will Lukas deutlich machen, dass diese Präsenz des Auferstandenen den Teufel unterläuft und neutralisiert. Für Lukas verschafft der Auferstandene seinen Aposteln in dieser Zeit aber nicht nur diese Erfahrung, sondern interpretiert sie auch, indem er von seinem Herzensanliegen spricht: vom Reich Gottes. Lukas legt also Wert darauf herauszustellen, dass die Gegenwart Gottes tatsächlich für die Augenzeugen des Auferstandenen anschaulich geworden ist und dass sie das rettende, die Wirklichkeit konstituierende Ereignis ist.
In der Fortsetzung erzählt er dann, dass es den Menschen nicht gegeben sei, die Zeit zu kennen, in welcher das Gottesreich geschehe. Die Zeit Gottes bleibe ein Geheimnis. Jesus habe sich zwar seinen Aposteln auch beim gemeinsamen Mahl gezeigt, doch sei er dann vor ihren Augen emporgehoben und von einer Wolke aufgenommen worden. Mit diesem Verschwinden von Jesus im Geheimnis endet für Lukas die Zeit Jesu und beginnt die neue Zeit, in welcher das Geheimnis der Gegenwart Gottes nicht mehr durch den Auferstandenen veranschaulicht ist.
Hören wir heute diese Geschichte, die Lukas erzählt, müssen wir zunächst den Anspruch zur Kenntnis nehmen, mit welchem Lukas erzählt. Lukas will nicht unseren Glauben definieren, und er will nicht festlegen, was wir zu glauben haben. Ihm geht es zunächst schlicht und einfach darum, zu dokumentieren, was andere mit ihren Augen gesehen und erlebt haben. Zweifel an deren Bericht gibt er keine zu erkennen. Überzeugt von deren Glaubwürdigkeit, will er für kommende Generationen und damit auch für uns, die wir seine Texte lesen, möglichst getreu festhalten, was eine Gruppe von Menschen, die er Apostel nennt, zu jener Zeit erlebt haben. Auf diese Weise will er nachvollziehbar machen, wie der Umbruch und Neubeginn nach der Zeit Jesu geschehen ist.
Sind wir bereit, auf seine Erzählung einzusteigen, müssen wir uns auf seine beiden Bücher einlassen. Da ist zunächst sein erstes Buch. Wie der von Lukas angesprochene Theophilus können auch wir uns über die Taten und Lehren Jesu unterrichten lassen. Dazu gehört offenbar die ganze Biographie von Jesus: die Ereignisse, die dessen Geburt vorausgehen, insbesondere aber jene, die über seinen Tod hinausgehen. Für Lukas gehört zur Biographie von Jesus, dass Gott in der Gestalt von Jesus nach seinem Tod immer wieder Menschen gegenwärtig wird, ihnen zeigt, dass die Lebendigkeit von Gottes Gegenwart den Tod durchdringt, dass er sie entsprechend unterweist (Lk 24,23ff; 36ff), nach vierzig Tagen aber ihrem Blick entzogen und in eine Wolke aufgenommen wird.
Die Geschichte von Jesus ist für Lukas das eine. Das andere ist für ihn indes, dass diese Geschichte mit der Himmelfahrt Jesu zu einem Abschluss kommt, dann aber in einem zweiten Buch auf andere Weise eine Fortsetzung findet. Hier spielen die Apostel als Augenzeugen eine tragende Rolle, hier kommt aber auch dem Heiligen Geist, der bereits in David und Jesus gewirkt hat, ein entscheidender Part zu. Diese Geschichte beginnt in Jerusalem, doch sie will das Rettende, das von Gott kommt zu den Völkern in aller Welt bringen (Apg 28,28). Denn genau diese Botschaft vom Reich Gottes, von der auch Jesus gesprochen hat, soll weiterhin verkündet werden (Apg 1,3; 28,31). Exemplarisch illustriert sie Lukas in seinem ersten Buch anhand der Geschichte von Jesus. In seinem zweiten beginnt er zu erzählen, wie sich diese Botschaft in der Weite der Geschichte und der Welt, dann und dort, wo Jesus nicht mehr gegenwärtig ist, entfaltet. Wie wir sie heute verstehen wollen, beantwortet er nicht. Er zeigt uns die Richtung, die Antwort für unsere Zeit müssen wir selber finden.
Mit dem Einstieg in die Apostelgeschichte beginnen wir ein neues Buch. Es stellt uns vor die Frage, wo das Reich Gottes heute gegenwärtig ist – heute, nachdem die Zeit Jesu vorbei und Jesus im Geheimnis des Himmels entschwunden ist, heute, wo unsere Zeit beschleunigt ist, wir in ständigen Übergängen leben und wir nur noch einen Atemzug lang wissen, wo wir gerade sind. Doch für Lukas ist die Botschaft klar: Gott wird mitten in allen Umbrüchen und Unsicherheiten jeden Moment gegenwärtig. An uns liegt es, dem nicht im Weg zu stehen. Beten wir also, dass wir die Gegenwart von Gottes Reich finden und das Rettende, das darin steckt, entdecken. Amen.
Predigt vom 16. Oktober 2022 in Wabern
Bernhard Neuenschwander