Darin ist die Liebe Gottes unter uns erschienen, dass Gott seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben.
Darin besteht die Liebe: Nicht dass wir Gott geliebt hätten, sondern dass er uns geliebt und seinen Sohn gesandt hat als Sühne für unsere Sünde.
1Joh 4,9-10
Liebe Gemeinde
Heilig Abend. Licht leuchtet in die Dunkelheit…Wärme strahlt in die Kälte…Ruhe verbreitet sich im Sturm…Friede entfaltet sich in der Not. Was wir hier und jetzt feiern, ist das Kommen Gottes, was wir hier und jetzt feiern, ist die Gegenwart Gottes mitten unter uns. In jenem Kind ist dies geschehen, in uns will es wieder geschehen. In jener Zeit ist dies in der Gestalt von Jesus Christus offenbar geworden, hier und jetzt will es sich in uns offenbaren. Es ist ein Wunder. Ein Wunder, das nicht die Welt ändert, ihr aber Hoffnung und Sinn gibt. Ein Wunder, das der Geschichte ihren Lauf lässt, sie jedoch mit dem Strahl des Unbedingten kreuzt. Ein Wunder, das im Leiden einer verwirrten Welt Klarheit und in unheilvollen Zeiten Heil schenkt. Es ist ein Ereignis mitten in allen Wirbeln, mitten in uns. Ein Ereignis ohne Begründung und Zweck. Ein Ereignis ohne Bedingungen und Auflagen. Ein Ereignis, das unmittelbar – aus heiter hellem Himmel – in uns geschieht, uns von Kopf bis Fuss durchdringt und uns in unsere Mitte stellt. Dieses Ereignis ist Weihnachten. Zu ihm leuchtet der Stern, und zu ihm kommen die Magier des Morgenlands. Zu ihm rufen die Engel, und zu ihm kommen die Hirten auf den Feldern. In ihm erfüllt sich unsere Sehnsucht, und in ihm wird ruhig unser unruhiges Herz. In ihm wird Gott in uns geboren, und in ihm werden wir die Kinder Gottes, die wir sind. Auf dieses Ereignis wollen wir uns deshalb jetzt besinnen, auf dass es in uns geschieht und es in uns Weihnachten wird.
Unser Predigttext öffnet uns die Tür, die zu diesem Ereignis führt. Es ist ein Text der johanneischen Gemeinde. Das Johannesevangelium hatte den Glaubenden dieser Gemeinde die Geschichte Jesu Christi erzählt. Es hatte ihnen zu verstehen gegeben, dass sich Gott so wie er sich in Jesus offenbart hatte, auch in ihnen offenbaren wird, dass sie dessen Nachfolger und Nachfolgerinnen sein werden und dass genau sie es sind, in denen Gott gegenwärtig werden wird. Was dies bedeutet, versucht der erste Johannesbrief etwa ein halbes Jahrhundert später auszudrücken. Die Gedanken sind durch die Jahre prägnanter, gereifter und klarer geworden, ihre Substanz hat sich jedoch nicht geändert.
Was nun deutlicher als im Johannesevangelium zum Ausdruck kommt, ist die Überzeugung, dass der Kern des Glaubens die Gottesliebe ist, also die Liebe, mit welcher Gott die Welt liebt. Ähnlich wie schon im Evangelium (Joh 3,16) heisst es in unserem Predigttext: Darin ist die Liebe Gottes unter uns erschienen, dass Gott seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben. Das Potential dieser Aussage kann man nur unterschätzen. Man kann es lange Jahre meditieren und wird es immer noch tiefer ergründen können. Denn es enthält einen Sinnüberschuss, der sich nicht mit rationalen Worten ermessen, begreifen und
festhalten lässt. Was in ihm steckt, ist eine unendliche Freiheit, die sich bloss in Ansätzen erahnen lässt.
Die Pointe dieser Aussage besteht nicht bloss darin, Jesus Christus als Sohn Gottes zu erkennen. Wenn es hier heisst, dass Gott seinen einzigen Sohn gesandt hat, so meint dies vielmehr, dass Gott in seinem einen Wort, die Welt geschaffen hat, dass er aber auch in einer konkreten historischen Figur Gestalt angenommen hat. Beides, das Grundsätzliche und das Konkrete, sind darin enthalten. Und auf beides bezieht sich auch die Aussage, dass darin die Liebe Gottes unter uns erschienen ist. Denn darin steckt die Botschaft, dass sowohl das Wort, mit dem Gott die Welt geschaffen hat, als auch das Wort, in welchem er in der Welt Gestalt angenommen hat, ein Wort der Liebe ist. Und beides ist so geschehen, damit diejenigen, die dies glauben, durch dieses Wort leben.
Diese Botschaft drückt ein gewaltiges Vertrauen aus. Das Vertrauen, dass sich nichts weniger als die Liebe Gottes darin zeigt, dass es eine Welt, dass es Raum und Zeit, dass es Dinge und Menschen, Licht und Dunkelheit, Freuden und Leiden gibt, aber ebenso darin, dass sich Gott in einer konkreten historischen Figur offenbart hat und jeden Moment in dieser Welt offenbart, in welchem Menschen in ihrem Herzen zur unmittelbaren Gegenwart erwachen, im Hier und Jetzt ankommen, die Gegenwart Gottes im bedingten Leben realisieren und so in der Quelle der Lebendigkeit verankert sind. Beginnt man einmal, sich dies vorzustellen, kann man vielleicht erahnen, was für eine gewaltige Aussage dies ist. Was auch immer geschieht, was auch immer die Umstände sind, denen Menschen ausgesetzt sind, und was auch immer das ist, was Menschen aus ihnen machen, wie positiv oder negativ, wie angenehm oder unangenehm es für sie sein mag, in allem ist – das ist die Behauptung – die Liebe Gottes verborgen, in allem kann die Liebe Gottes realisiert werden, in allem kommt die Liebe Gottes zur Welt.
Diese Botschaft wird durch den nachfolgenden Satz unseres Predigttextes unterstrichen und präzisiert. Darin besteht die Liebe: Nicht dass wir Gott geliebt hätten, sondern dass er uns geliebt und seinen Sohn gesandt hat als Sühne für unsere Sünde. Dass die Liebe Gottes in der Mitte des Glaubens steht, hält auch dieser Satz fest. Er präzisiert jedoch, dass in dieser Mitte nicht die menschliche Liebe zu Gott, sondern die göttliche Liebe zu den Menschen steht. Dieser Unterschied ist wesentlich. Denn er weist darauf hin, dass Gott schon da ist, bevor ein Mensch etwas tut, dass Gott schon Gegenwart ist, bevor ein Mensch da ist, dass Gott Menschen schon weckt, bevor sie aufgewacht sind. Die Betonung der Liebe, mit der Gott liebt, macht also deutlich, dass das Ereignis der Liebe Gottes nicht durch Menschen oder sonst etwas bedingt, sondern unbedingt ist, dass es geschieht, auch wenn die Menschen es erst nach und nach zu verstehen beginnen, dass es das Urereignis ist, das man als Mensch bloss dankbar annehmen und in seinem Leben zur Geltung bringen kann.
Dieses unbedingte Liebesereignis enthält einen Mehrwert, nämlich den Mehrwert, dass es eine Sühne für unsere Sünden ist. Wo sich Menschen in Geschichten verstrickt haben, wo sie ihre Unschuld verloren und wo sie Leiden verursacht haben und schuldig geworden sind, dort schafft ihnen die Erkenntnis der unbedingten Liebe Gottes Sühne, gibt ihnen eine Mitte, die nicht durch Versuchungen verbogen, eine Aufrichtigkeit, die nicht durch Schuld korrumpiert, eine Unbefangenheit, die nicht durch Verstrickungen gefangen ist. Die Botschaft, die hier gemacht wird, ist also klar:
Die unbedingte Liebe Gottes, die mitten in dieser Welt, mitten in allem, was geschieht, mitten in uns selbst steckt, ist das Heilmittel, das demjenigen, der sie zu realisieren beginnt, in der Bedingtheit seines Lebens in der Welt Erlösung schafft.
Vielleicht klingt eine solche Botschaft in unseren heutigen Ohren im ersten Augenblick unrealistisch und vielleicht schlicht und einfach zu schön, um wahr zu sein. Es lohnt sich deshalb, uns ihre Grenze gut bewusst zu machen. Behauptet wird nicht, dass unsere Wirklichkeit doch eigentlich nichts als Liebe sei, und übersehen wird nicht das Leid in dieser Welt. Die Botschaft der Liebe, wie sie hier vermittelt wird, ist keine Zuckerglasur, kein Wohlfühlmantel, kein Rausch, der den Bezug zur Wirklichkeit vernebeln und betäuben will. Im Gegenteil! Sie ist die Ressource, welche uns die innere Kraft gibt, der Wirklichkeit, wie auch immer sie sich uns präsentiert, standzuhalten, der Funke Hoffnung, der sich nicht von der Verzweiflung überwältigen lässt, der Strahl der Liebe, welcher dem Bösen widersteht und sich von ihm nicht infizieren lässt. Sie ist also der innere Widerstand gegen die Verstrickung in der Sünde.
Es ist nicht so, dass uns ein sündenfreier Zustand verheissen wird, in welchem es weder Elend noch Gewalt, weder Sorgen noch Angst gibt. Die Verheissung ist vielmehr die, dass wir dazu befähigt sind, in all dem, was uns widerfährt, ein offenes Herz zu behalten und uns nicht verschliessen zu müssen, uns von der Liebe Gottes zu nähren und uns nicht vom Hass, der uns entgegenschlägt, zerstören zu lassen, frei und souverän zu bleiben und uns nicht in üble Geschichten zu verlieren. Die Botschaft von der Liebe Gottes verwandelt nicht die Welt, aber sie verwandelt uns, unseren Blick auf sie und unsern Umgang mit ihr.
Es ist Heilig Abend. Die Botschaft der unbedingten Liebe Gottes kommt heute zu uns und will in uns geboren werden. Sie will unsere Herzen öffnen, so dass Licht in die Dunkelheit dieser Welt scheint, dass Wärme in die Kälte dieser Nacht strahlt, dass sich Ruhe im Sturm dieser Zeit verbreitet und Friede in der Not unsere Mitmenschen entfaltet. Ihr Ziel ist, sich nicht mit Macht durchzusetzen, sondern uns zu befreien, sich nicht als definitorisches Regime der Wahrheit aufzuzwingen, sondern uns zu überzeugen, sich nicht als übergeordnete Autorität zu etablieren, sondern uns in die Gegenwart der unbedingten Freiheit Gottes zu führen. Der Ball ist nun bei uns. Lassen wir uns ein auf diese Botschaft, wächst unsere Widerstandskraft gegenüber den Viren des Bösen. Verankern wir uns in Gott, bleiben wir trotz allem Schrägen und Verdrehten, dem wir ausgesetzt sind, souverän und aufrecht. Öffnen wir unser Herz für die Liebe Gottes, wird es auch bei uns Weihnachten. Beten wir deshalb, dass Gott auch in uns geboren wird und wir trotz allem, was um uns herumwirbelt, erwachen zu seiner unserer Mitte. Amen.
Predigt vom 24. Dezember 2012 in Wabern
Bernhard Neuenschwander
PDF Datei herunterladen