Wide heart

Wide heart

Ein Jude aber mit Namen Apollos, der aus Alexandria stammte, ein gebildeter Mann, der bewandert war in den Schriften, kam nach Ephesus. Er war unterwiesen im Weg des Herrn, sprühte in seinen Reden vor Geist und lehrte sehr genau, was sich mit Jesus zugetragen hatte, kannte aber nur die Taufe des Johannes. Der begann, in der Synagoge frei und offen zu reden. Als nun Priscilla und Aquila ihn reden hörten, nahmen sie ihn zu sich und legten ihm den Weg Gottes noch genauer dar. Als er dann in die Achaia weiterziehen wollte, ermunterten ihn die Brüder und Schwestern dazu und schrieben an die Jünger dort, sie möchten ihn aufnehmen. Er kam zu ihnen und war denen, die zum Glauben gekommen waren, kraft der Gnade eine grosse Hilfe. In eindrücklicher Weise nämlich widerlegte er die Juden in aller Öffentlichkeit und bewies aufgrund der Schriften, dass Jesus der Gesalbte ist. Apg 18,24-28

Ein weites Herz ist ein liebendes Herz. Macht nicht bereits die Vorfreude auf die Begegnung mit dem geliebten Menschen das Herz weit? Und steht dieser erst leibhaft vor einem, gibt es kein Halten. Die Umarmung zeigt es: Ist das Herz weit geöffnet, steht der Nähe mit dem geliebten Du nichts im Weg. Auf einmal gibt es zwischen Weite und Nähe keinen Unterschied. Die Gegensätze fallen in eins. Die Weite wird nah, die Nähe wird weit. Doch der Moment, so schön er ist, vergeht. Plötzlich gibt es zwischen Ich und Du wieder einen Unterschied, und die Suche von Nähe und Distanz beginnt von neuem. Das Herz mag weit bleiben, doch der Moment jenseits der Gegensätze ist vergangen und der Fluss der Zeit wieder spürbar geworden.

Vielleicht huscht ein Schatten von Trauer vorbei, vielleicht wird die Vergänglichkeit des Moments bewusst. Doch darüber hinaus bleibt ein Rest – ein Rest, der wie ein Schatten ständig da ist und dem sich das weite Herz verdankt. Es ist jener Rest, dessen Schatten das Licht des Daseins jeden Moment begleitet, ja, dessen Schatten jedem Augenblick innewohnt. Dieser Rest erinnert an jenes nichtduale Geheimnis der Gegenwart Gottes, das den Gegensatz von Licht und Schatten, Leben und Tod, Sein und Nichts überschreitet. Dieser Rest ist ganz anders als alles, was es gibt, und es ist doch ganz unmittelbar jeden Moment darin gegenwärtig. Ein weites Herz weiss um ihn, es kennt die Unfassbarkeit des Augenblicks und seine Präsenz im Hier und Jetzt, und es ist mit der Gnade vertraut, die in ihm steckt. Dieser Rest, dieses Geheimnis der Gegenwart Gottes, dieses Geheimnis des Augenblicks, ist bedingungslose Freiheit, es ist Liebe und Weisheit, es ist schöpferische Kraft, die allem, was in der Zeit geschieht, sein Dasein gibt. Deshalb ist ein weites Herz nicht nur ein liebendes Herz. Es ist auch ein geliebtes Herz – ein Herz, das mit jenem Rest vertraut ist, der den Augenblick zum Geheimnis macht, sich nicht vereinnahmen, besitzen und verfügbar machen lässt, dem es sich jedoch jeden Moment verdankt.

Was sich in diesen poetischen Worten andeutet, versucht unser Predigttext mit einer Geschichte zu vermitteln. Er erzählt von einem Menschen, der sich durch ein solches weites Herz auszeichnet. Versuchen wir, diese Geschichte zu verstehen!

Die Geschichte ist ein kleines Intermezzo. Paulus hat soeben Ephesus verlassen, um Jerusalem und Antiochia, die Anfangsorte seiner Mission, sowie christliche Gemeinden in Galatien, die er gegründet hat, zu besuchen (Apg 18,18-23). Priscilla und Aquila, ein Paulus nahestehendes Ehepaar, halten derweil die Stellung. Die Fortsetzung wird von der Rückkehr von Paulus nach Ephesus berichten (Apg 19,1ff). Unser Predigttext erzählt, was dort in der Zwischenzeit geschieht.

Hauptfigur ist Apollos. Er ist Jude, stammt aus Alexandria, ist gebildet und bewandert in den Schriften (V24). Apollos kommt als Wanderprediger nach Ephesus. Lukas beschreibt, wie er wahrgenommen wird (V25): Er ist unterwiesen im Weg des Herrn, kennt also den Weg in die Gegenwart Gottes bestens. In seinen Reden sprüht er vor Geist. Was er sagt, stammt nicht aus einer vermittelten Lehre, sondern ist dank der unmittelbaren Gegenwart Gottes in ihm selbst begründet. Daher wirkt er authentisch und überzeugend. Was sich mit Jesus zugetragen hat, ist ihm gut bekannt. Er lehrt genau dies, da es den Weg in die Gegenwart Gottes anschaulich macht. Allerdings hält er sich nur an die Taufe des Johannes. Im Zentrum steht für ihn also die Umkehr der Blickrichtung weg von den Phänomenen und hin zum Geheimnis der Gegenwart. Lukas kritisiert ihn deswegen. Aus seiner Sicht macht er zu wenig deutlich, dass aufgrund der Umkehr der Auferstandene im Selbst des Menschen gegenwärtig wird und damit die Taufe mit dem Geist geschieht. Apollos mag dies zwar unmittelbar erleben, doch reflektiert er seine Erfahrung nicht mit dem entsprechenden christlichen Vokabular. Lukas betont, dass Apollos dieses Defizit nun korrigiert (V26). Als er nämlich beginnt, in der Synagoge frei und öffentlich zu reden, hören ihn Priscilla und Aquila, nehmen ihn mit zu sich und legen ihm den Weg Gottes noch genauer dar. Darauf kann er offenbar mühelos einsteigen.

Apollos erfährt in Ephesus viel Wertschätzung (V27). Als er nach Achaia, also nach Athen und Korinth, weiterziehen will, wird ihm ein Empfehlungsschreiben an die dortigen Gemeinden mitgegeben. Lukas hält zudem fest, dass er in diesen Gemeinden kraft der Gnade, die in ihm wirkt, eine grosse Hilfe ist. Denn die Reflexion des Wegs in die Gegenwart Gottes in christlicher Sprache hat ihn gestärkt (V28). In eindrücklicher Weise widerlegt er nämlich die Juden in aller Öffentlichkeit und erklärt aufgrund der Schriften, dass Jesus der Gesalbte ist. Paulus berichtet in seinem Brief an die Korinther sehr wertschätzend von Apollos (1Kor 3,6; 4,6). Dabei anerkennt er unmissverständlich, dass Apollos eine eigenständige Persönlichkeit ist, die ihm auf Augenhöhe gegenübersteht (1Kor 1,12; 16,12). Apollos ist offensichtlich ein Mystiker. Er hat ein weites Herz und kennt den Weg in die Gegenwart Gottes aus unmittelbarer, eigener Erfahrung. Zudem ist er in der Lage, diesen vor seinem jüdisch-christlichen Hintergrund zu reflektieren und gegen Widerstand souverän zu vertreten. Und bei all dem bleibt er auf selbstverständliche Weise lernfähig.

Soweit das biblische Beispiel eines Menschen mit einem weiten Herz. Was gibt es uns heute, wo wir uns auf dieses Thema besinnen, zu verstehen?

Zunächst dies: Ein weites Herz ist offen für das andere. Entscheidend ist einzig und allein das Teilen der bedingungslosen Gegenwart Gottes. Menschen mit einem offenen Herz ziehen sich nicht in ihre eigene Bubble zurück. Sie freuen sich vielmehr, das Geheimnis des Moments mit anderen zu teilen. Die Geschichte von Apollos illustriert es. Er hat einen alexandrinischen Hintergrund und gehört nicht zum paulinischen Kreis. Dennoch erzählt Lukas von seinem Wirken in Ephesus, dennoch gehen Priscilla und Aquila offen auf ihn zu. Ist das Herz weit, zählen weder Herkunft noch soziale Zugehörigkeit. Fragen zur eigenen Identität sind unwichtig, politische oder ideologische Identifikationen nebensächlich. Für narzisstisches Drehen um sich selbst ist kein Platz. Gemeinschaft geschieht stattdessen unmittelbar, ohne Code, ohne Worte. Einfach weil die Gegenwart Gottes zwischen Menschen mit einem weiten Herz geteilt wird.

In einem solchen, mystischen Moment erwacht das Selbst des Menschen. Vielleicht ist es bloss ein kurzes Blinzeln, um in den Schlaf zurückzusinken, vielleicht ist es indes die Geburt eines neuen Lebens. Blitzt das Geheimnis der Gegenwart Gottes in einem weiten Herz auf, zeigt sich jenes geheimnisvolle, nichtduale Selbst, das den Menschen frei von seinem leibhaften Dasein unmittelbar erfüllt. Apollos wusste um dessen unfassbare Gegenwart. Er lebte es, hatte aber keine Worte, um davon zu reden. Er sprach deshalb nur davon, die Dinge zu lassen, umzukehren und mit einem weiten Herz die Gegenwart Gottes zu leben. Dies kann getan und umgesetzt werden, das mystische Ereignis lässt sich nicht auf den Begriff bringen. Doch es markiert, was heute, in dieser postchristlichen Zeit, entscheidend ist: Im Geheimnis der Gegenwart erwacht jenes Selbst des Menschen, dass nicht exklusiv an eine bestimmte Konfession, Religion oder Kultur gebunden ist, sondern unabhängig davon in jedem Menschen jeden Moment unmittelbar gegenwärtig werden kann. Wo dies geschieht, ist das Herz weit, mit allem und allen verbunden und frei.

Dieses unmittelbare Ereignis ist jedem sprachlichen Zugriff prinzipiell entzogen. Der christliche Glaube stellt dies nicht infrage, versucht es aber gleichnishaft zugänglich zu machen. Wer sich darauf mit einem weiten Herz einlässt, versteht rasch, dass dies ein Versuch ist, das Unsagbare zu sagen. Als Apollos durch Priscilla und Aquila davon erfährt, lässt er sich ohne Zögern darauf ein. Er versteht, dass die Rede von der Auferstehung von jenem Erwachen des Selbst spricht, das er aus unmittelbarer Erfahrung kennt und das sich in der Taufe mit dem Geist zeigt. So gestärkt, ist er in den kommenden Auseinandersetzungen mit den Juden belastbar, bleibt stabil sich selbst, überzeugend in der Argumentation und eine Hilfe für all jene, die den Weg in die Gegenwart Gottes gehen wollen. Das weite Herz weiss es: Was sich in christlicher Sprache sagen lässt, ist ein Gleichnis. Im Zentrum bleibt das unsagbare Geheimnis der Gegenwart Gottes. Doch die christliche Sprache bietet grosse Poesie, um dieses Unsagbare zu sagen, der Gegenwart Gottes einen Namen zu geben und sie auf diese Weise als Gemeinschaft zu teilen und zu kultivieren.

Das Potential eines weiten Herzes ist unermesslich – so unermesslich, wie das Geheimnis der Gegenwart. Es verbindet uns Menschen nicht nur mit uns selbst, sondern mit allen Menschen, mit allen Lebewesen, mit dem ganzen Universum. Sein Geheimnis ist die bedingungslose Freiheit der Gegenwart Gottes samt deren Liebe und Weisheit. Auf den Begriff bringen und verfügbar machen lässt sich dieses Geheimnis nicht. Doch ein weites Herz ist mit seiner Poesie vertraut, steht für es ein und freut sich, es im Tanz von Licht und Schatten, Leben und Tod, aufblitzen zu lassen. Beten wir also, dass wir von der Gegenwart Gottes erfasst werden und dass unser Herz weit wird. Amen.

Predigt vom 2. November 2025 in Wabern
Bernhard Neuenschwander

PDF Datei herunterladen