Against narcissism

Against narcissism

Seit langem schon zürnte er den Bewohnern von Tyrus und Sidon. Die fanden sich nun vereint bei ihm ein, gewannen Blastus, den Kämmerer des Königs, für sich und baten um Frieden, denn die Versorgung ihres Landes hing vom Land des Königs ab. Am festgesetzten Tag liess sich Herodes, angetan mit dem königlichen Gewand, auf der Rednerbühne nieder und richtete das Wort an sie. Das Volk jubelte ihm zu: Das ist die Stimme eines Gottes, nicht die eines Menschen! Auf der Stelle aber schlug ihn ein Engel des Herrn, weil er Gott nicht die Ehre gegeben hatte; und er wurde von Würmern zerfressen und starb. Apg 12,20-23

Glauben heisst, in der Gegenwart Gottes leben. Mitten in der Gebrochenheit zwischen mir und mir, mitten in Leben und Sterben, mitten in Kontrolle und Kontrollverlust ist Gott als Geheimnis des Moments mit seiner Information gegenwärtig. Mein Leben geschieht stets im Hier und Jetzt. Ich kann über meine Zukunft und meine Vergangenheit nachdenken, ich kann mir bewusst machen, dass mich beides bestimmt, doch was auch immer ich tue, ich tue es im Geheimnis der Gegenwart. Der christliche Glaube nennt dieses Geheimnis «Gott». Er gibt zu bedenken, dass dieses Geheimnis allem seine Zeit gibt. Deshalb ermutigt er dazu, sich zu lassen und auf die Gnade der Demut zu setzen, sich mit ihr zu synchronisieren und ihre Information des Hier und Jetzt zu leben. Der christliche Glaube ist überzeugt, dass dieses Sich-lassen in der Gegenwart Gottes der Weg der Erlösung ist, um befreit von sich zu sich zu kommen.

In dieser postchristlichen Zeit ist ein solcher Glaube nicht mehr selbstverständlich. Die europäische Aufklärung ist mit dem Anspruch aufgetreten, selbst zu denken und das Leben selbst in die Hände zu nehmen. «cogito ergo sum» hat Descartes gerufen. Mein Denken ist nicht weniger als der Ansatz für mein Sein. Dieser Anspruch führt auf direktem Weg zur Behauptung, Gott sei tot. Nicht ohne Stolz verkündet Nietzsches Übermensch im «Zarathustra», dass wir selbst ihn getötet haben, diesen Gott. Das christliche Erbe mag zwar – jedenfalls in der westlichen Kultur – noch nachwirken, doch ist seine Zeit abgelaufen. Seinen Platz übernimmt fortan das von religiösen Zwängen befreite menschliche Subjekt – ein Ich, das sich selbstbewusst und selbstbestimmt an die Stelle Gottes setzt und das Regiment über sich und seine Welt in die Hand nimmt. Die Folgen sind bekannt: Das entfesselte Ich legt los. Es schafft sich immer schneller immer bessere Werkzeuge, die seine Ansprüche stillen sollen. Der globale Wohlstand wächst, die Lebenserwartung steigt, auch bei den Ärmeren. Pillen ermöglichen das selbstbestimmte emotionale Design des modernen Menschen. Mit Chat GPT lässt sich die Matura bestehen, ohne die geforderten Bücher gelesen zu haben. Populistische Führer mit einem Ich, das das Recht konsequent für sich in Anspruch nimmt und prinzipiell keine Niederlagen akzeptiert, können auf eine grosse Anhängerschaft zählen. Und wer von Politik nichts wissen will, kann sich auf Tiktok und Instagramm wunderbar selbst inszenieren und in seiner oder ihrer Bubble wohl fühlen. Der Möglichkeiten sind viele, dass das Ich mit auf seine Rechnung kommt und sich geben kann, was es begehrt.

Allerdings gibt es auch ein zunehmendes Unwohlsein dieser Erfolgsstory gegenüber. Junge Menschen klagen über psychische Probleme und Zukunftsängste. Der Klimawandel bereitet Sorgen. In postkolonialen Theorien macht sich die Angst vor der Umkehrung der Machtverhältnisse zwischen Unterdrückten und Privilegierten breit. Ein toxisches Gemisch von Hass, Ekel und Wut gegenüber der eigenen Kultur und seinen Eliten – heute nennt sich das Oikophobie – geht um, nicht nur in westlichen Universitäten. Das Vertrauen in die Vernunft erodiert und schafft Raum für Irrationalitäten. Verschwörungstheorien und apokalyptische Visionen feiern Urstände. Manche empfinden die westliche Welt als dekadent, sehen Parallelen zum römischen Reich in seiner Spätzeit und befürchten, am Ende einer Epoche zu stehen und ihren Untergang vor sich zu haben. Spiegelt sich darin womöglich ein Unbehagen gegenüber einer Welt, die in ihrem eigenen Narzissmus gefangen ist und den Ausweg daraus nicht mehr findet?

Im heutigen Wettbewerb der Weltanschauungen ist die christliche Spielart nur noch eine unter vielen. Das ist gut so. Endlich ist der christliche Glaube davon befreit, im Kielwasser imperialer Machtstrukturen zu segeln, deren Tribut zu bezahlen und sich selbst zu korrumpieren. Die heutige Situation ist für ihn deshalb zunächst und vor allem eine Chance, sich von seinem Ballast zu läutern und seine mystische Kraft zu setzen. Wie in seiner prächristlichen Anfangszeit ist er nun allerdings gefordert, sich zu bewähren. Er muss sich auf seine Grundlagen besinnen, sich neu aufstellen und seine Mystik in postchristlicher Zeit plausibel machen. Unser Predigttext spielt uns den Ball zu, uns genau darauf einzulassen.

Die Rede ist hier von einem politischen Ereignis, das in den 40er Jahren nach Christus in Jerusalem stattfindet. Das Ereignis bewegt die Gemüter. Nicht nur unser Predigttext berichtet von ihm, sondern auch der jüdische Historiker Josephus. Herodes Agrippa I ist vom römischen Kaiser Claudius als König über Palästina eingesetzt. Bemüht, sich bei der jüdischen Bevölkerung beliebt zu machen, lässt er Jakobus, den Bruder des Johannes und Repräsentanten der christlichen Gemeinde Jerusalems, mit dem Schwert hinrichten. Darauf sorgt er dafür, dass auch Petrus ins Gefängnis geworfen wird. Obwohl streng bewacht, gelingt es Petrus auf wunderliche Weise aus dem Gefängnis zu fliehen. Er ist noch in der Lage, die Gemeinde darüber zu informieren, um dann aber Jerusalem umgehend zu verlassen. Herodes Agrippa ist irritiert, wie dies geschehen kann, zieht sich von Jerusalem zurück und geht hinunter nach Cäsarea in seine Hauptresidenz an der Mittelmeerküste (Apg 12,1-19).

An dieser Stelle setzt unser Predigttext ein. Die beiden Städte Tyros und Sidon weiter nördlich im benachbarten Syrien auf der einen Seite und König Herodes Agrippa auf der andern stehen in einem Handelskrieg (V20). Möglicherweise hat Herodes über die beiden Küstenstädte, die auf Getreidelieferungen aus Palästina angewiesen sind, ein Handelsembargo verhängt. Die beiden Städte arbeiten zusammen und versuchen mit Delegationen Herodes zum Frieden zu bewegen. Ihre Lebensversorgung hängt von seiner Gunst ab. Um ihr Ziel zu erreichen, gewinnen sie Blastus, den Kämmerer des Königs, für sich, der sich für ihre Interessen einsetzt. Am festgesetzten Tag wird nun die Entscheidung des Herodes erwartet (V21). Angetan mit dem königlichen Gewand lässt sich Herodes auf der Rednertribüne nieder und richtet das Wort an sie. Das Volk jubelt ihm zu (V22). Enthusiastisch rufen sie: Das ist die Stimme eines Gottes, nicht die eines Menschen! Da aber geschieht es (V23). Völlig unerwartet erleidet Herodes einen Schlaganfall, an welchem er von Würmern zerfressen stirbt. Josephus berichtet, dass die Schmeichler des Agrippa, als das Silber seines Ornats in schimmerndem Glanz aufleuchtet, ihn von allen Seiten «Gott» nennen und dass er dies nicht zurückweist. Nach seinem Bericht leidet Herodes nach dem Anfall unter heftigen Schmerzen, bis er fünf Tage später durch den Tod von seiner Qual erlöst wird. Aus Sicht von Josephus ist das schreckliche Ende die Folge seiner Gottesverachtung. Unser Predigttext geht in ähnlicher Richtung. Er stellt fest, dass ein Engel des Herrn Herodes auf der Stelle schlägt, weil er Gott nicht die Ehre gibt. Sowohl für Josephus als auch für Lukas ist die Sache klar: Wer Gott aus dem Auge verliert und sich an dessen Stelle setzt, wird bestraft und erleidet Unheil.

Die Fortsetzung wechselt das Thema und erzählt, dass das Wort Gottes an Einfluss gewinnt und Barnabas und Saulus zusammen mit Johannes Markus nach Antiochia zurückkehren (Apg 12,24f). In Blick kommt nun, wie sich der christliche Glaube durch das Engagement von Saulus im Mittelmeerraum ausbreitet (Apg 13ff).

Die Besinnung auf diesen Predigttext hier und heute stellt uns vor die Frage, was unsere Referenz ist, ob das menschliche Subjekt oder Gott. Bin ich mir selbst Massstab aller Dinge oder orientiere ich mich daran, dass mein Leben bedingungslos, aus Gnade, gegeben ist? Oder anders formuliert: Wie halte ich es in dieser postchristlichen Zeit mit narzisstischen Persönlichkeitsstrukturen?

Klar ist, dass der christliche Glaube in seinem Ansatz narzisstische Strukturen auflöst. Narzissmus ist eine Form von Ichbezogenheit, die kein Drittes, dem es sich verdankt, zulässt. Der australische Psychoanalytiker Neville Symington hat bereits in den 1990er Jahren davon gesprochen, dass narzisstischen Menschen keinen Bezug zu dem haben, was er genderneutral «Lebensspender», «life-giver», nennt.[1] Ihnen fehlt die innere Zentriertheit. Entsprechend kippen solche Menschen ständig zwischen alles und nichts, Grössenwahn und Minderwertigkeit, Überheblichkeit und Selbstmitleid. Von ihrem Umfeld erwarten sie Bewunderung und Bemitleidung. Im christlichen Glauben steht «Gott» für dieses Dritte, das interpretiert als Schöpfer von Himmel und Erde «Lebensspender» schlechthin und innere Achse für Mitte und Mass ist. Wer sich auf dieses Geheimnis des Universums einlässt, ist jeden Moment gefordert, seine Ichbezogenheit zu relativieren und anzuerkennen, dass mitten in der eigenen Gebrochenheit das grosse Geheimnis gegenwärtig ist. Der Glaube an dieses Geheimnis der Gegenwart ist eine ständige Konfrontation narzisstischer Ichbezogenheit, aber auch die Tür, um Befreiung zu finden.

Allerdings ist diese Konfrontation zunächst eine Kränkung. Der Bezug zu Gott als dem Geheimnis des Universums gibt unmissverständlich zu verstehen, dass das menschliche Subjekt nicht mehr als eine Fussnote dieses Universums ist. Nach dem Standardmodell der Astrophysik gibt es dieses Universum seit gut 13 Milliarden Jahren. Stellt man sich diese Zeit als Zeitspanne von einem Jahr vor, geschieht der Urknall an Neujahr um Mitternacht. Im Februar gäbe es die ersten Sterne und Galaxien, Mitte August unser Sonnensystem und im September die ersten Einzeller auf dieser Erde. Doch es würde Weihnachten bis die Saurier entstehen. Fünf Tage, vom 24. bis 29. Dezember, wären sie da. Und wir Menschen? Wir kämen an Silvester, sechs Minuten vor Mitternacht, in Blick. Und 1 Sekunde vor Mitternacht würde Columbus Amerika entdecken.[2] Das Universum samt dieser Erde hat sich weitgehend ohne uns Menschen entwickelt. Sich dies ernsthaft vor Augen zu halten, ist eine fundamentale Kränkung. Meine Subjektivität ist nicht mehr als eine Marginalie. Wie reagiere ich darauf? Verharre ich in narzisstischer Ichbezogenheit, schwanke ich zwischen Überheblichkeit und Selbstmitleid. Ich kann aber auch das Dritte suchen und den Weg dazwischen beschreiten: den Weg, dass ich mich in Demut mit dem Geheimnis des Universums vertraut mache. Dieses Geheimnis ist jeden Moment gegenwärtig und weist mir mit seiner Information der Güte und Weisheit im Hier und Jetzt den Weg. Mangels besserer Worte nennen wir es «Gott».

Aus christlicher Sicht bewährt sich die Orientierung an Gott als dem Geheimnis der Gegenwart. Der Glaube stellt nicht in Frage, dass ich als Mensch ständig an meine Subjektivität gebunden bin. Was auch immer ich denke, fühle und tue, geschieht aus meiner Perspektive und konstruiert meine Welt. Aber er stellt infrage, dass dies die ganze Wahrheit ist. Er verweist darauf, dass das Geheimnis der Gegenwart nicht in meinen Händen ist. Ich kann versuchen, über meine Zeit zu verfügen und alles daransetzten, die Kontrolle über meine Zeit zu behalten. Selbstbestimmtheit mag tröstlich sein. Aber Selbstbestimmtheit hat Grenzen. Das Älterwerden hält es unerbittlich vor Augen. Selbst wenn ich einen selbstbestimmten Tod sterben will, verliere ich die Kontrolle mit dem Sterben. Auch König Herodes Agrippa I hat dies schmerzlich erfahren. Auf einen Schlag verliert er die Kontrolle über sein Leben. Christlicher Glaube in postchristlicher Zeit würde seine Situation nicht mehr als Strafe Gottes interpretieren. Er würde indes darauf hinweisen, dass Gott mit seiner Information im Hier und Jetzt, seiner Güte und Weisheit, bedingungslose Ressource des Moments bleibt – in mir, im Leben und Sterben, in Kontrolle und Kontrollverlust, mitten in der Gebrochenheit all dessen, was ist und nicht ist. Sich daran zu halten bewährt sich. Deshalb ist vernünftig, sich zu lassen und narzisstischen Strukturen zu verabschieden.

Die Mystik vom Geheimnis der Gegenwart ist auch in dieser postchristlichen Zeit eine Quelle von Güte und Weisheit. Aus ihr zu schöpfen, fördert und fordert eine Gesellschaft, die Kränkungen wegsteckt und mehr als die eigene Selbstbestätigung sucht, die anderes zulässt, mit Differenzen ringt, Konflikte austrägt und die widerstandsfähig ist gegenüber narzisstischer Verführung und deren glamour and fame. Dafür einzustehen, tut Körper und Seele gut und bewährt sich in Leben und Sterben. Beten wir deshalb, dass wir mit dem Geheimnis der Gegenwart Gottes vertraut werden und lernen, die zu werden, die wir in ihr sind. Amen.

[1] Symington, Neville (2002: 2. Auf.): Narzissmus. Bibliothek der Psychoanalyse, Giessen: Psychosozial-Verlag.
[2] Altwegg, Kathrin (2023), Wie viel Glück braucht es, damit es uns gibt?, Deutsches Museum: https://www.youtube.com/watch?v=4ZPjjqxThgw

Predigt vom 30. Juni 2024 in Wabern
Bernhard Neuenschwander

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